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Iliazd: "Philosophia"
Verwirrendes aus der Türkei

Es ist nicht leicht, sich im Kosmos des Ilja Zdanevič zurechtzufinden - was ihm diebische Freude bereitet hätte: Erstmals betritt er nun den deutschen Buchmarkt, unter seinem Pseudonym: Iliazd. "Philosophia" heißt sein 1930 in Paris geschriebener Roman - und führt mitten ins Konstantinopel der Zwanzigerjahre.

von Christoph Haacker | 19.01.2018
    Buchcover Iliazd: Philosophia und Konstantinopel im 1. Weltkrieg
    Buchcover Philosophia von Iliazd und Konstantinopel im 1. Weltkrieg (Matthes & Seitz Verlag / dpa)
    Iliazd nennt sich der Autor, und das geht nicht über die Lippen, ohne daß die Ilias in den Sinn kommt. Das aber ist falsche Fährte in einen Roman, der sich doppeldeutig Philosophia überschreibt – Liebe zur Weisheit, oder auch zur Hagia Sophia. Iliazd – das ist dagegen eindeutig Ilia Zd, Zd wie Zdanevič. Und unter diesem Namen machte er Furore:
    "Herr: Bürger armer Turmgang
    Sprünge unserer Huftiere
    sind fremd zur Sonne
    Hoffnung treibt ins theatralische Australien
    Seit einem Jahr seh ich mehr Dividende
    wegen des Kapitals"
    Sprach- und Lautspiele, Wort-Bild-Kunst. Was er derart in eigener Orthographie schuf, fand sein Publikum – aber nicht länger in Rußland. Nach der Oktoberrevolution schlug das Herz der künstlerischen Moderne in Tiflis, Tbilissi, seit 1918 Hauptstadt eines unabhängigen Georgiens. Hier war Zdanevič – Sohn einer georgischen Pianistin und eines polnischen Französischlehrers – zurück am Ort seiner Kindheit. Im freien kaukasischen Klima tobte er sich mit den Futuristen Igor Terent´ev und Aleksej Kručonych unter dem heute legendären Namen "41º" kreativ bis obszön aus. Das Kunstkonzept des Za-um spielte dabei eine Hauptrolle. Zu Deutsch meint es: "hinterm Verstand". 1921 war damit Schluss. Die Rote Armee besetzte das Land. Der Exodus der Künste begann, und Iliazd ist mittendrin:
    "Die ärmliche Gestalt des jungen Iliazd, der keinerlei Aufmerksamkeit verdient, höchstens seiner Absurdität, seiner Hirnrissigkeit wegen, die in ihrem Aberwitz die Blütenlese der russischen Intelligenz weit übertrifft, verblasst zwischen den am Firmament der historischen Ereignisse mit bloßem Auge erkennbaren Größen. Studierter Jurist, aber die Jurisprudenz zutiefst verachtend, seiner gesellschaftlichen Stellung nach Dichter, aber außer ein paar Bilderrätseln nichts geschrieben, leidenschaftlicher Defätist und Gottloser, aber von Zargrad, der Stadt der Städte träumend und in das christliche Abendland verliebt – von einer Seite zur anderen geworfen oder sich werfend, setzt Iliazd sich verschiedene Ziele und verschwindet schließlich, ohne etwas getan zu haben, ganz von der Bildfläche."
    Von DADA zu Chanel
    So der virtuose Einstieg in einen Roman, in dem Iliazd zur Figur wird, seltsam mit seinem Schöpfer verschwimmend. Denn Zdanevič strandet – sein Ziel Paris vor Augen, wo ihn DADA, eine Karriere als Designer bei Chanel und als Typograph erwarten – zunächst vom Oktober 1920 bis November 1921 in Konstantinopel. Für rechtgläubige Russen war das Zargrad, mit der Hagia Sophia als der wichtigsten Kirche der orthodoxen Welt. Dort landet, nach abenteuerlicher Fahrt aus Batumi übers Schwarze Meer, auch jener Protagonist Iliazd. Und Konstantinopel ist nach dem verlorenen Krieg der Hafen der Verworfenheit, das Spekulationsobjekt der Großmächte, das Asyl der Flüchtlinge und Bühne der aberwitzigsten Phantasien. Die Hauptakteure des Romans sind dabei schwer zu fassen. Nicht nur die schillerndste Figur, Alemdar, wechselt mit jedem Satz ihren Vornamen, bis sie zum "Blauerblauen" mutiert. Diesem agentenhaften Gegenspieler ist Iliazd verfallen, er sucht ihn und flieht vor ihm:
    "Vergessen Sie nicht, ich bin auf der Suche nach dem Türken, der sich als Russe ausgibt, an Sie geraten, Sie müssen ihn kennen, denn er verschwand bei Ihnen … Ich nehme Ihren Vorschlag an, nichts zu tun außer dem, was ich tue, wenn Sie sich im Gegenzug verpflichten – was Sie bisher vermieden – loszugehen und diesen Unhold zu entlarven."
    Schmuggler, Eunuchen und Bordelle
    Worum aber geht’s? Iliazd, Experte sakraler Baugeschichte, begibt sich, nachdem er georgisch-armenische Rundkirchen vermessen hat, von der Hagia Sophia magisch angezogen, ans Goldene Horn. Und damit unter Schmuggler, Eunuchen im Serail des Topkapi-Palasts, gefallene Adelsfräuleins in den Bordellen, Umstürzler und ihre Waffenlager in geheimen Katakomben. Nach und nach kristallisieren sich mögliche Verschwörungen heraus. Exilrussen – Überbleibsel der weißen Wrangel-Armee mit philosophischen Anwandlungen – wollen in D´Annunzio-Fiume-Manier die zur Moschee entweihte Hagia Sophia besetzen und Konstantinopel heim ins Christentum holen. Und Iliazd möge dann, bitteschön, als der Messias auftreten. Oder ist das alles nur Lug und Trug – und in Wahrheit ein getarnter Staatstreich der Sowjets? Die Leningradisierung Stambuls? Oder wollen vielmehr die Türken die Kirche – kawumm! – in die Luft sprengen? Das alles ist überbordend fabuliert, mit surrealer Note:
    "Indianer oder Ritter spielen, dann Endzeitverlierer oder freie Liebe, sich Za-um-Sprachen ausdenken und Regeln der Malkunst – das ist schon mal gar nicht so schlecht. Aber Heilige Sophia spielen, historische Aufgaben Russlands und ähnliche erhabene Sujets, um deretwillen so viele gebildete Idioten und gelehrte Dummköpfe Unmengen Papier vollgekritzelt haben, so viel Tinte und Blut vergossen haben, Zargrad spielen, etwas Besseres kann man sich nicht ausdenken. … Iliazd wollte, dass man´s spielt, dass letzlich alles auf "Unsinn" hinauslief, mehr nicht"
    So sehr Iliazds Philosophia eine Hommage an Konstantinopel ist, so sehr ist es Georgien verfallen, seinem Ausgangspunkt:
    "Jetzt hatte er einen fast grenzenlosen Horizont vor sich, eine Reliefkarte des Landes, in dessen Adern sein Blut und seine Phantasien flossen. Geradezu, im Norden, unter einem völlig wolkenlosen Himmel, lagen zwei winzige Wölkchen – der doppelköpfige Elbrus. Und zwischen Katschkar und dem Elbrus breiteten sich die bergreichen wunderschönen Provinzen Georgiens aus, umspült vom grauen, nebelverhangenen Pontos […] oh, Gurdshistan, geliebtes Land, ungreifbares Phantom, ein Dornröschen, von dem du nicht weißt, wie du es wecken kannst."
    Zukunft gibt Unsinn Inhalt
    "Philosophia" ist Avantgarde, ein sprachlich grandioses Erzählwerk womöglich ohne Sinn, aber mit Verstand. Voller Anspielungen auf Politik, Geistesgeschichte, Kunst. Immer wieder ist das Schreiben selbst Thema:
    "Obwohl ich kein Schriftsteller bin, den man liest, werde ich vielleicht nie verständlich schreiben […]"
    "Nur der Unsinn gibt der Zukunft Inhalt" war eine Parole der Gruppe "41º", und Iliazd schreibt das 1930 in Paris mit "PhilosophIa" anarchisch fort, scheinbare Wirklichkeit immer wieder aufhebend, vor-postmodern. Experiment und große epische Form verschmelzen, voll starker Bilder, zu lesen wie aus einem Guss. Auch dank der Sprachmächtigkeit der Übersetzerin Regine Kühn, die sich – nach Aleksandr Goldstein – erneut an einen der großen, noch unerschlossenen Individualisten russischer Sprache gewagt hat.