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Illusionsloser Blick auf das neoliberale Zeitalter

Schon nach dem Zusammenbruch der Lehman-Bank im September 2008 las der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch mit dem Buch "Postdemokratie" dem Neoliberalismus die Leviten. Jetzt erklärt er, warum der Totgesagte eigentlich immer noch so erstaunlich lebendig ist.

Von Martin Hubert | 24.10.2011
    Es klingt fast wie ein Märchen aus uralten Zeiten. Bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts glaubten die meisten Ökonomen, dass der Staat das Wirtschaftsleben steuern müsse. Der Keynesianismus forderte: In Zeiten sinkender Nachfrage solle der Staat den Marktmechanismus über schuldenfinanzierte Nachfrageprogramme ankurbeln. Allerdings folgte darauf nach der Ölkrise von 1973 kein Boom, sondern Inflation, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung wuchsen an.

    Geschockt konvertierte die ökonomische Zunft fast ausnahmslos zum neoliberalen Glauben: Nun sollte der Markt es alleine richten. Als Folge davon steckt die globale Wirtschaft heute in einem Tief, dem gegenüber die Krise der 70er-Jahre wie ein Klacks erscheint. Es leuchtet daher ein, wenn der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem Buch "Über das befremdliche Überleben des Neoliberalismus" fragt:

    "Wenn jene Krise das Ende des damals herrschenden Wirtschaftsmodells bedeutete, sollten wir dann nicht auch heute das Ende des Neoliberalismus und seine Ablösung durch etwas Neues erwarten?"

    Der Leser erwartet ein entschlossenes "Ja". Aber Colin Crouch überrascht ihn:

    "Nein. Denn die Krise des Keynesianismus führte nicht deshalb zu seiner Abschaffung statt zu einer Reform oder Anpassung, weil irgendetwas an seinen Ideen grundsätzlich falsch gewesen wäre, sondern weil die Schicht, deren Interessen er vertrat - die Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer - sich in einem historischen Niedergang befand und ihre gesellschaftliche Macht zu verlieren begann. Im Gegensatz dazu haben die Kräfte, die heute vom Neoliberalismus profitieren - globale Konzerne insbesondere des Finanzsektors -, keineswegs an Einfluss verloren. (Obwohl die Banken für die Krise 2008/2009 verantwortlich waren, gingen sie gestärkt aus ihr hervor.)"

    Um das zu erklären, geht Colin Crouch die verschiedenen ökonomischen Konzepte systematisch durch und diskutiert überzeugend ihr Pro und Contra. Letztlich begreift er Neoliberalismus und Keynesianismus jedoch nicht bloß als Theorien, die richtig oder falsch sein können. Er versteht sie immer auch als interessengeleitete Projekte, die auf historischen Kräftekonstellationen beruhen.

    Die eigentliche Pointe seines Buches lautet daher: Es ist gar nicht so befremdlich, dass der Neoliberalismus überlebt - befremdlicher ist eher, dass man seinen eigentlichen Zweck nicht durchschaut hat. Die Schwäche der keynesianischen Staatseingriffe sei es gewesen, das Nachfrage-und Profitproblem der Wirtschaft nicht effizient genug lösen zu können. Der Neoliberalismus bot sich daher an, diesen Zweck anders zu erfüllen.

    "Wie wir heute wissen, wirkten zwei sehr unterschiedliche Kräfte zusammen, um das neoliberale Modell vor der ansonsten unvermeidlichen Instabilität zu bewahren: das Wachstum der Kreditmärkte für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sowie die Entstehung von Märkten für Derivate und Terminkontrakte für Menschen mit großen Vermögen. Diese Kombination brachte einen "Keynesianismus der privaten Hand" hervor, der zunächst zufällig entstand, dann aber von der Politik aufgegriffen und gezielt gefördert wurde. Statt dass der Staat Schulden machte, um die Wirtschaft anzukurbeln, verschuldeten sich Privatleute, nicht zuletzt die, deren Einkommen gering war."

    Und als deren Schulden überhand nahmen, sprang der Staat dann wieder als Notnagel rettend ein. Das, so Crouch, sei aber kein Betriebsunfall, sondern die logische Folge des neoliberalen Konzepts. Denn der Neoliberalismus vergöttere den freien Wettbewerb keineswegs so, wie es ältere liberalistische Theorien taten. Vor allem angloamerikanischen Schulen des Neoliberalismus sei das Gebot wichtiger, den Wohlstand der gesamten Volkswirtschaft zu mehren. Crouch fasst deren Position so zusammen

    "Wenn größere Unternehmen wirtschaftlicher und effizienter agierten als kleinere und diese deshalb aufkaufen könnten, diene dies der 'Konsumentenwohlfahrt'; selbst wenn es zu weniger Wettbewerb und einer geringeren Auswahl an Waren führe. Darum sollten die Gerichte in Kartellverfahren dasjenige Ergebnis herbeiführen, das für die Maximierung nicht der Wahlfreiheit, sondern der Wohlfahrt der Verbraucher am sinnvollsten wäre."

    Colin Crouch unterstellt dem Neoliberalismus letztlich, auf einem Paradox zu beruhen: Einerseits solle sich der Staat aus dem ökonomischen Geschehen heraushalten, andererseits aber die Interessen der großen Konzerne und Finanzinstitute bedienen, weil sie für das Volkseinkommen "systemrelevant" seien.

    Folgerichtig muss der Staat kollabierende Finanzinstitute mit den Geldern des Steuerzahlers stützen, weil er deren eigene Wachstumslogik übernommen hat. Crouch meint daher, man müsse sich endlich davon verabschieden, wirtschaftliche Dinge unter dem Gegensatz "Staat versus Markt" zu debattieren.

    "Richtiger wäre es, von einem 'Dreikampf' zu sprechen, in dem die Kontrahenten Staat, Markt und Großunternehmen miteinander ringen. Allerdings handelt es sich derzeit eher um ein komfortables Arrangement als um einen Kampf. Das liegt einerseits daran, dass die Konzerne die Vereinigung aller drei Kontrahenten unter ihrer Führung betreiben, zum anderen daran, dass es keine einleuchtende Alternative zu einem solchen Arrangement gibt."

    Colin Crouchs verständlich geschriebenes Buch bringt kaum wirklich neue Fakten und Argumente. Es bündelt sie aber zu einer lesenswerten Gesamtschau, die einen illusionslosen Blick auf das neoliberale Zeitalter ermöglicht. Obwohl viele kleine und mittelständige Unternehmen existieren, prägen Großbanken- und Unternehmen die wirtschaftspolitische Richtung.

    Weniger überzeugend ist Crouch jedoch, wenn er über die Zukunft nachdenkt. Auch hier möchte er alle Illusionen im Keim
    ersticken. Weder hält er den Staat für den besseren Wirtschaftsagenten, noch meint er, dass Großkonzerne an sich "böse" seien. Sie würden daher weiter die Entwicklung bestimmen. So bleibt Crouch nur die Hoffnung, dass die Zivilgesellschaft Staat und Konzerne kontrollieren wird.

    "Es gibt keinen Grund zur Mutlosigkeit. Selten zuvor in der menschlichen Geschichte wurde den Mächtigen derart wenig Ehrfurcht entgegengebracht, ertönte die Forderung nach Offenheit und Transparenz derart laut, wurde das Handeln der 'Großen' von derart vielen Bürgerinitiativen, Journalisten und Wissenschaftlern kritisch begleitet."

    Das mag stimmen. Aber solche Appelle an die Kraft der Zivilgesellschaft wurden andernorts schon weitaus überzeugender formuliert. Und angesichts der aktuellen Krise wirkt solche Rhetorik leer und kraftlos. Man hätte sich von Crouch lieber ein paar Vorschläge gewünscht, wie "böse" von "guten" Großunternehmen unterschieden und reguliert werden können.

    Colin Crouch: "Über das befremdliche Überleben des Neoliberalismus: Postdemokratie II".
    Edition Suhrkamp, 248 Seiten, 19,90 Euro.