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Im Bleistift-Ton

Ich kann mir das Bild vorstellen. Das helle Wohnzimmer mit zwei Steinway-Flügeln an den Fenstern zum Park. Erbstücke, Gemälde und Möbel, zueinander passend gesammelt. An den Schiebetüren eine hohe, sonore Standuhr, ein riesiger moosgrüner Teppich auf den Holzdielen. Diskrete Lampen. Kerzenlicht. Harmonie, Ordnung und bürgerliche Dignität. David sitzt in einer Sofaecke. Markus und Marianne in dem kleineren Sofa gegenüber. Er hat ihr den Arm um die Schultern gelegt.

Christoph Bartmann | 07.10.2002
    Es gibt nicht viele Autoren, die mit ein paar Worten eine Welt entwerfen können, die unverkennbar die ihre ist. Ingmar Bergman ist einer von ihnen. Wer mit seinem Filmen ein wenig vertraut ist, wird ahnen, dass David und Marianne schon längst dabei sind, die Szene aus Harmonie, Ordnung und bürgerlicher Dignität gründlich zu zerrütten. Sie sind, wie könnte es bei Bergman anders sein, "Treulose". So heißt auch sein spätes Drehbuch aus dem Jahre 1997, das seine Lieblingsschauspielerin Liv Ullman bald darauf verfilmt hat. Marianne, eine Schauspielerin, nicht unglücklich mit einem Stardirigenten verheiratet, hat sich in eine alles verzehrende Affäre mit dem Regisseur David eingelassen. Keine Geschichte vom Anfang des letzten Jahrhunderts, sondern eine aus der Gegenwart. Aber könnte sie nicht auch von Arthur Schnitzler stammen? Ist Bergmans Psychologie der Paarbeziehung nicht schon seit Ibsens und Strindbergs Tagen Allgemeingut der Moderne? Und wieso standen Bergmans Filme in den fünfziger Jahren noch auf dem Index, während man sich an die Frivolität von Schnitzlers "Reigen" längst gewöhnt hatte? Vielleicht ist das ein Unterschied: wo bei Schnitzler drei Pünktchen den Geschlechtsakt vertreten, wird bei Bergman der Sex in aller Ausführlichkeit beschrieben. Markus hat vor Gericht das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter erstritten. Er ist bereit, es an Marianne abzutreten, wenn sie noch einmal mit ihm schläft - im Auto. Und sie wird es tun und Markus ausführlich davon Bericht erstatten. Im Sex, so scheint es, zerreißt der bürgerliche Lügenvorhang; mit einem Mal wird hinter die Konventionen die wahre Menschennatur sichtbar. Es gibt wohl keinen Künstler, der den Sex ernster genommen hat als Ingmar Bergman.

    "Treulose" ist eines der Filmskripte, die Renate Bleibtreu gemeinsam mit Theaterstücken, Notizen und Aphorismen aus Bergmans nun schon weit über fünfzig Jahre währender Produktivität ausgewählt hat. Vieles davon stammt aus Bergmans Archiv und war bis dahin unveröffentlicht. "Im Bleistift-Ton" heißt ihr groß angelegtes und überaus gelungenes Werkporträt. In ihm kann man Bergman als Schriftsteller kennen lernen; in ihm kann man auch lernen, was es heißt, Filme zu schreiben, bevor man sie dreht.. "Er hat Filme geschrieben wie ein Romanautor ein Buch schreibt", hat Francois Truffaut über Bergman gesagt. "Anstelle der Feder benutzt er die Kamera." Er sein kein Büchermensch, sagt Bergman in einem seiner Bekenntnisse; alles in ihm dränge zum Film und zur Musik. Von Anfang an ist Bergman Schreiben auf Szenen und Dialoge angelegt. Und fast immer nimmt es seinen Ausgang in der Familie. "Familienidyll" heißt eine frühe Skizze aus dem Jahre 1938. Darin erlebt ein Halbwüchsiger den schrecklichen Streit seiner Eltern. "Wie ein wildes Tier", heißt es darin, "hatte sein Vater da geschrieen, war ins Wohnzimmer zum Sekretär gerannt und hatte den Revolver geholt." Der Sohn schlägt mit einem Stuhl auf den Vater ein, bis der den Revolver fallen lässt. Am nächsten Tag streift der Sohn, statt in die Schule zu gehen, am Stadtrand herum. Es gibt kein Zuhause mehr. Als er mittags zurückkommt, sitzen die Eltern da, als wäre nichts gewesen. Sie fragen, wie es in der Schule war. Tags darauf ist in der Schule eine Erklärung fällig, wieso der Junge seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Der Lehrer kündigt Konsequenzen für die Betragensnote an. Wieder zuhause, muss er dem Vater die Gründe für die schlechte Note nennen und weiß keine. "Vaters Schläfen sind rot. Er ist hell empört." Das ist die Bergmansche Familienhölle, eine Welt voll Heuchelei und Hysterie, aus der es im Grunde nur einen Ausweg gibt: das Theater. Aber auch am Theater hat die Obrigkeit das Sagen.

    Man denke nur an "Fanny und Alexander" und an ihren Vater, den Theaterprinzipal Oskar Ekdahl, der sich in Bergmans berühmtem Film von 1980 vor Experimenten hütet, weil er sein Publikum kennt. Treu ist es und konservativ: "Strindberg und Ibsen", schreibt Bergman, "werden mit größtem Misstrauen betrachtet und daher selten gespielt."

    Strindberg und Ibsen, das sind die beiden Theater-Innovatoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bei denen Bergman sein Metier gelernt hat. Vieles von dem, was seither die Kunst erschüttert hat, ist ihm dagegen eher ein Greuel. Kaum eines seiner Drehbücher und Stücke, das ohne Spott über die Avantgarde auskäme. Er halte, schreibt er in einer kleinen Brandrede von 1965, "den Wilden Westen für anregender als Antonioni und", man höre, "Bergman". Er verachtet das Sterile, das Abstrakte, das Akademische in den neuen Künsten. Er ist im Ästhetischen ein Konservativer, den es stets aufs Neue zu den Kindheitsbildern drängt, denen er Nuancen und Facetten ohne Ende abgewinnen kann. Mit den Regie-Berserkern von heute will er nichts zu tun haben, und doch kann es geschehen, dass Bergmans altmodische Regiekunst einem klassischen Drama neues Leben einhaucht. So hat es Hanns Zischler erlebt, der Schauspieler und Autor, der zu Bleibtreus Buch ein schönes Nachwort beigesteuert hat. Im letzten Jahr hat er in Stockholm Bergmans Maria-Stuart-Inszenierung gesehen und war hingerissen davon, wie der Regisseur den Klassiker als reines Barock-Drama inszenierte. Und damit ist die Schaffenskraft des 84-jährigen noch keineswegs erschöpft. In diesem Herbst, so weiß es der Anhang dieses Buches, wird Bergman mit den Dreharbeiten zu einem .Kammerspiel beginnen. Dabei sind Liv Ullman und Erland Josephson, und ,Saraband' ist sein Titel.