Freitag, 19. April 2024

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Im Dunkeln lesen

Schon nach drei Minuten geht Rod Guiney blutüberströmt zu Boden. 65.000 im Dubliner Croke Park halten die Luft an. Derart brutal traf den Kapitän von Wexford ein Schläger des Gegners: die Mannen von Tipperary. Es läuft das Semifinale zu den All-Ireland-Championships im Hurling, einer knüppelharten Mischung aus Rugby, Hockey und Football.

Hajo Steinert | 01.01.1980
    Auch im Pub auf der O'Connell Street, nur wenige hundert Meter vom Stadion entfernt, grölen lila-gelb bzw. blau-weiß gekleidete Fans ihre Kampflieder. Vor dem Großbildschirm fließen Guiness, Smithwicks und Murphys in Strömen. Einen besseren Ort für eine Begegnung mit Seamus Deane kann es nicht geben. Denn der Schriftsteller hat ein durchaus freundschaftliches Verhältnis zu den landesüblichen Biersorten und ist überdies ein entschiedener Freund des harten Ballsports. "Wenn an den All-Ireland-Championships einmal auch die Mannschaften von Nordirland teilnehmen, haben wir unser Ziel erreicht." Seamus Deane ist Republikaner, Katholik und hat die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Irlands mit dem "von den Briten besetzten" Nordirland noch nicht aufgegeben.

    Von knüppelharten Begegnungen der eher unsportlichen Art kann Seamus Deane ein Lied singen. Zwar lebt er schon seit 1969 in Dublin, doch geboren und aufgewachsen ist der Sohn eines Hilfselektrikers in Derry, das von den Briten hartnäckig Londonderry genannt wird. Gewalt zwischen Protestanten und Katholiken gehörten seine ganze Kindheit und Jugend lang zum traurigen Alltag. "Wären der Sport und Seamus nicht gewesen, wer weiß, vielleicht wäre auch ich Terrorist geworden." Mit Seamus meint er Seamus Heaney, seinen Klassenkameraden in Derry, den Kommilitonen in Belfast, den späteren Nobelpreisträger für Literatur, noch heute sein Busenfreund.

    Seamus Heaney war es auch, der Seamus Deane zum Romanschreiben brachte, Anfang 1990, an einem dieser langen Abende bei Heaney. Es wurde viel getrunken, gesungen, und eine Geschichte nach der anderen erfüllte das verqualmte Zimmer mit Leben. Es waren wieder fast nur Geschichten von damals, den vierziger und fünfziger Jahren, als man sich Briefe mit schwärmerischen Gedichten schrieb oder sich in die Berge Donegals verdrückte, um wenigstens für Stunden Derry zu vergessen und sich der Natur hinzugeben. Einer übertraf den anderen mit immer neuen Erinnerungen an korrupte Priester, starke Boxer, strenge Lehrer, heimtückische Rebellen, hinterhältige Polizisten, trommelnde Patrioten.

    Zu vorgerückter Stunde kam Seamus Deane zum wiederholten Male auf Onkel Eddie, den Bruder seines Vaters, zurück. Von ihm wurde die Mähr in Umlauf gebracht, er sei als Kämpfer der Irisch Republikanischen Armee bei der Stürmung einer Whiskeybrennerei in den Flammen umgekommen oder aber, als einer der Überlebenden, auf Nimmerwiedersehen nach Amerika geflohen. In Wahrheit aber wurde Onkel Eddie - völlig zu Unrecht - als Denunziant verdächtigt und von der IRA exekutiert. Eddies Verräter war ausgerechnet der Geliebte von Seamus Deanes Mutter. Ihr Mann wußte von alledem nichts. Das Kommando zur Exekutionkam von ihrem Vater, Seamus Deanes Großvater also. Ein teuflisches Familiendrama.

    Als Seamus Heaney und der dritte im Bunde, Bill Buford, damals Redakteur der renommierten Literaturzeitschrift "Granta", diese Geschichte hörten, sprangen sie auf und riefen ihrem Freund zu: "Das mußt Du aufschreiben!" Noch in der gleichen Nacht versprach der anwesende Redakteur einen Vorschuß zum Teilabdruck. Je länger sich Seamus Deane in seine Erinnerungen an die Jahre in Derry vertiefte, umso mehr packte ihn die Geschichte. "Am Ende schrieb ich nur nach nachts. Jedes Telefonklingeln am Tage brachte mich außer Fassung." So wurde aus dem eingefleischten Professor ein besessener Schriftsteller.

    Zentrale Figur des autobiographischen Romans ist die Mutter. Wie sie versucht, die Wahrheit vor ihrem Mann, den Kindern und anderen Verwandten zu verbergen, ohne dabei in tödliche Verzweiflung zu geraten, wie jeder vor jedem ein Gebäude aus Lüge, Halbwahrheit, Verrat, Verdrängen, Verheimlichen und Verschweigen aufbaut, und wie am Ende der schreibende Sohn die ganze Wahrheit auf detektivische Weise rekonstruiert, ohne daß der Rest der Familie das ganze Ergebnis der Recherche erfährt: diese Motive bestimmen die Dramaturgie des Romans und halten den Leser in Atem.

    Als die Mutter kurz vor ihrem Tod davon erfuhr, daß ihr Sohn über das plötzliche Verschwinden des Onkel Eddie recherchierte, flehte sie ihn an: "Das darfst Du nicht veröffentlichen!" Seamus Deane relativierte dieses Verbot stumm für sich: "So lange Du noch lebst." Als sie dann starb - der Vater verschied schon Mitte der siebziger Jahre - und auch die anderen tragenden Figuren des Romans nicht mehr lebten, ließ er den Text drucken.

    Er gab den Figuren seines Romans die tatsächlichen Namen der realen Vorbilder. "Bis heute haben sich meine Geschwioster darüber noch nicht beruhigt." Selbst über einhunderttausend verkaufte Exemplare allein in Irland konnten sie über das unerhörte Vorgehen des Bruders nicht hinwegtrösten. Aber vielleicht werden die Namen ja geändert, wenn der Roman, inzwischen in dreizehn Sprachen übersetzt, verfilmt wird. Der Dramatiker Harold Pinter wird das Drehbuch schreiben.

    "Im Dunkeln lesen": eine packende detektivische Suche nach Wahrheit, ein bewegender Roman über den Verlust moralischer Werte in menschlichen Extemsituationen, eine bewegende Milieustudie über das Erwachsenwerden in der Provinz. In einer Vielzahl von Kindheitserinnerungen, Szenen und Bildern entsteht vor uns ein Tableau der täglichen Not und des ungebrochenen Überlebenswillens in einer kleinen Stadt, die von unlösbaren politischen und konfessionellen Gegensätzen schier erdrückt wird, sich am Ende aber nicht unterkriegen läßt.

    In Details erinnert "Im Dunkeln lesen" an den Bestseller "Die Asche meiner Mutter" des in Amerika lebenden Iren Frank McCourt. Doch während dessen Buch von einer überschaubar gestalteten, bisweilen recht sentimentalen Sichtweise auf die Not der Kindheit geprägt ist, erzählt Seamus Deane bewußt fragmentarisch, in Einzelszenen, so, wie sich ein Erinnerungsprozeß tatsächlich im Kopf abspielt. Das typisch Irische liegt in einer bewußt mündlichen Erzählweise. Sie rückt seinen Roman in die Nähe der Ballade. "Ich schreibe wie ich damals vor sieben Jahren im Kaminzimmer des Seamus Heaney erzählt habe."

    Seamus Deane tut nicht so, als hätte er seine Geschichte und seine Figuren ganz unter Kontrolle. Um nicht vor der traurigen Wirklichkeit des Erzählten zu kapitulieren, nimmt er immer wieder Motive aus irischen Sagen, Märchen und Mythen auf, die das Unerklärbare unerklärt lassen. Auch seine Poetologie verdankt er einer Kindheitserinnerung. Als er sein erstes Buch bekam und noch im Dunkeln weiterlesen wollte aber nicht konnte, weil die Brüder unten und oben im Hochbett schon schliefen, phantasierte er sich in Geschichten hinein, die mit dem schriftlich vorgegebenen Handlungsverlauf niemals übereinstimmen konnten. "Schon als Kind hatte ich meine Utopien."

    Jetzt hat uns die Gegenwart wieder. Mehrere Pints waren geleert, jener blutig geschlagene Spieler war längst in der Kabine verbunden, Tipperary gewann am Ende gegen Wexford das Semifinale zu den All-Ireland-Championships im Hurling ziemlich klar. In den darauffolgenden Nachrichten auf dem Großbildschirm ging es, wie immer in diesen Tagen, um den 15. September. Da ist, vorausgestzt die IRA greift bis dahin nicht zu ihren Waffen, ein Vertreter der Partei Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, an den neu aufgenommenen Verhandlungen zum Frieden in Nordirland zugelassen.

    Doch diesen Tag wird Seamus Deane genauso nur aus weiter Ferne erleben wie das Hurling-Finale Anfang September im County Clare. Übermorgen muß er zurück zur University of Notre Dame nach Indiana. Die amerikanischen Studenten warten. "See you in Frankfurt?" - Schade. Vor einem Jahr, als die Literatur Irlands den Buchmesse-Schwerpunkt bildete, wäre er wohl gekommen. Aber ein so starkes Buch wie "Im Dunkeln lesen" braucht eigentlich keinen Schwerpunkt, um von vielen deutschen Lesern gelesen zu werden.