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Im Fluss der Schwermut

Pierre Michon, bei uns in Deutschland nur einer kleinen, aber treuen Leserschaft bekannt, in Frankreich hingegen einer der ganz Großen fast vom Rang eines Claude Simon oder einer Marguerite Yourcenar, ist 1945 geboren, lebt heute in Nantes, also in dem Landstrich, wo auch die Familienromane des dreizehn Jahre jüngeren Jean Rouand angesiedelt sind. Dass er alles, was in seiner Jugend irgendwie greifbar war, darunter auch Klassiker wie Flaubert, Proust oder Joyces, gelesen hat und dass er die dabei wie Muttermilch aufgesogene Sprache in ihrer ganzen grammatikalischen Raffinesse und in ihrer semantischen Fülle wie ein Musikinstrument meisterhaft zu spielen versteht, wird gleich zu Beginn der Lektüre hörbar. Aber auch der Fluss der Schwermut, der alles durchzieht.

Von Heinz Norbert Jocks | 21.12.2004
    Ganz bestimmt steht am Anfang die Melancholie. In meiner Jugend schrieb ich äußerst melancholische Texte. Ich denke, dass Schreiben über Tote gestattet es, sowohl großes Vergnügen am Stil als auch Schmerz und Mitleid für die Menschen zu empfinden, deren Tod zu beklagen ist. Das heißt, man weint und lacht zugleich, wenn man von den Toten spricht. Man lacht über ihre Verhaltensweisen sowie darüber, dass man ihnen diese Dimension gibt, und man gedenkt ihrer armseligen Knochen im Sarg und denkt dabei daran, was sie in ihrem armseligen Körper einst gewesen sind. Diese Duplizität, also das Weinen wie das Lachen, treibt mich an. Schreiben einzig im Zustand der Melancholie oder nur in der Freude ist unmöglich. Dann würde ich entweder größenwahnsinnig, oder es entstünde ein solipsistischer Diskurs.

    Bisher waren nur zwei seiner wenigen Bücher ins Deutsche übersetzt, nämlich "Herr und Diener" sowie "Das Leben des Joseph Roulin", beide im Manholt Verlag erschienen. Wunderbare Texte voller Schönheit und Anmut, in denen Michon erzählt, wie die kleinen Leute die erhabene Welt der großen Maler erleben. Indem er uns dabei an dem einfachen Leben der Unbekannten wie an einem besonderen Fest des Nebensächlichen teilhaben lässt, wird gleichzeitig auch das Geheimnis sowie die Anziehungskraft der Malerei auf ungewöhnliche Weise spürbar. Dazu Michon:

    Während ich diese Texte über die Malerei schrieb, war ich völlig in die Malerei eingetaucht. Sie faszinierte mich so, dass ich herumreiste, um Museen zu besuchen. Derzeit übrigens weniger. Aber es kommt durchaus noch vor, wenn mich große Ausstellungen dazu verlocken, aber doch sehr viel seltener. Noch vor zwanzig Jahren haftete übrigens der Malerei etwas Geheimnisvolles an, die Gemälde blieben in den Museen. Doch jetzt, wo sie über große Entfernungen zu all den Ausstellungen rund um den Globus transportiert werden, ist man von ihrem Anblick etwas übersättigt. Es gibt einfach zu viel davon. Als ich als kleiner Bub auf dem Lande lebte, hingen hingegen nur ein, zwei Reproduktionen an der Wand. Sobald es davon zu viele gibt, ist die Malerei laut Walter Benjamin in Gefahr, ihre Aura einzubüßen.(504-533)

    Durch seine Art des Schreibens gewinnt nicht nur die Malerei ihre Aura zurück. Auch den Menschen wächst eine Größe zu. Dass dem Schriftsteller Michon dies gelingt, hat wohl auch damit zu tun, dass er parallel zur Malerei, die er liebt, nach einer einmaligen, nicht verräterischen Bildsprache sucht, die, ganz in der Wahrnehmung aufgehend, mit Erklärungen haushaltet und dabei einen ganz spezifischen Klang des Übergangs von einer in eine andere Zeit erzeugt, der den Leser nicht nur verzaubert, sondern in eine imaginierte Welt wie in ein Labyrinth hineinzieht, in dem man sich verliert. Wenn er beispielsweise in "Das Leben des Joseph Roulin" von 1988 den Spuren des Postboten nachgeht, der van Gogh mehrfach Model gesessen hat, so markiert Michon damit die Passage, wo Literatur die Malerei überschreitet, und kehrt damit die feinen Unterscheide der Künste hervor. Er fragt nach, wer derjenige wohl war, der auf den Porträts verewigt ist, und nutzt diese als Sprungbrett für seine an Recherchen angelehnten Projektionen, Mutmaßungen und vorsichtigen Annährungen. Mit großer Achtsamkeit rekonstruiert er da die Zeit, in der van Gogh wirkte, und taucht dabei nicht nur in deren spezifische Atmosphäre ein, deren Andersartigkeit er uns sinnlich vor Augen führt. Vielmehr lässt er uns auch die Untiefen eines ganz anderen Lebens auf dem Lande ohne falsche Sentiments nacherleben. Dabei ist der Briefträger übrigens eine Figur, der er bereits als Kind mit Neugierde begegnete.

    Denn meine Mutter besaß, als ich klein war und noch zur Schule ging, eines dieser Porträts des Briefträgers namens Joseph Roulin, das sie aus einer Revue ausgeschnitten und an die Wand gehängt hatte. Ich kenne dieses Bild also seit sehr langer Zeit. In erster Linie interessierte mich nicht van Gogh, obgleich sein Leben so romanhaft ist, sondern der Briefträger. Warum? Weil für einen kleinen Jungen, der in den fünfziger Jahren auf dem Land wohnte, in dem gemalten Bild etwas von Kunst, also etwas Unbegreifliches anklang. Und doch war der Mann, der morgens die Briefe brachte, gut zu erkennen. Warum dieses Bild bei uns hing, weiß ich gar nicht.

    Zwanzig Jahre nach Erscheinen seines Erstlings bei Gallimard liegen jetzt endlich die acht kleinen Lebensläufe auch in deutscher Übersetzung vor, die von Anne Weber exzellent und mit Passion für das Poetische besorgt wurde. Der französische Originaltitel "Vies minuscules", was so viel wie "Winzige Leben" heißt, deutet stärker als der deutsche Titel "Das Leben der kleinen Toten" an, worum es geht. Nämlich, um literarische Lebensläufe von Menschen, die ohne Erzähler im Grab des Vergessens gelandet wären, nun aber mit seiner Hilfe so etwas wie Ewigkeit in der Sonne der literarischen Erinnerung erlangen. In diesem Fall sind es keine Fremden mehr, an die er sich heranpirscht, sondern Leute, die "näher an der Erde als andere geboren und schneller wieder von ihr verschluckt werden". Mindestens vom Hörensagen sind ihm der Dorfpfarrer, das vereinsamte Großelternpaar, ein Bauernjunge, ein nach Afrika Ausgewanderter, der trunkene Dorfpfarrer oder die verstorbene Schwester bekannt. In jedem dieser realen Figuren schlummert das Bemühen, aus dem Überleben ein würdiges Leben werden zu lassen, aber auch die Sehnsucht nach etwas Höherem. Das Tragische, das da wie ein sanfter Wind durch all die kleinen Leben fegt, dient Michon keineswegs als Stoff, aus dem Tragödien werden. Im Gegenteil, man gewinnt den Eindruck, dass sich er sich selbst darin wiederfindet und sich denjenigen, die er dem Vergessen entreißt, sehr nah fühlt.

    Ob ich über die kleinen Leute, über Maler oder wen auch immer schreibe, in Wirklichkeit spreche ich über mich. Mit "Les vies minuscules" wollte ich mich als Person konstituieren. Ich komme in dem Buch also genauso vor wie die Leute, die ich im Kindesalter gekannt habe. Da ich einem mehr oder weniger proletarischen Milieu entstamme, handelte es sich um Landleute, um Proletarier. Aber ich identifiziere mich mit ihnen nicht viel mehr wie mit den Malern. Kurz und gut, ich identifiziere mich nicht nur mit meinem Gegenstand. Ich will auch verliebt sein in das, wovon ich erzähle. Ich könnte kein Kritiker sein, also eine kritische Position einnehmen gegenüber dem, worüber ich spreche. Wenn ich auch bestimmte Literaten schätze, die spöttisch und kritisch mit ihrem Gegenstand umgehen, so bin ich dazu selbst nicht imstande. Ich muss verliebt sein, auch in mich selbst. Es ist letztlich eine narzisstische Operation.(110-126)

    Und so spricht Michon immer wieder auch über sich, über sein Verlassenwerden, seinen Alkoholismus, den schmerzlichen Verlust der sich plötzlich verflüchtigenden Wörter, die sich aus dem Körper zurückgezogen haben und nur noch Stumpfsinn und Gebrüll und "ein gepeinigtes Stück Mensch" zurücklassen. Und er berichtet von seiner Suche nach den Toten. Über sie zu schreiben, hilft ihm nicht nur dabei, zur Welt zu kommen. Es ist auch ein verzweifelter Versuch, seinen verlorenen Vater wiederzufinden.

    Es geht mir nicht nur darum, Leuten ein Leben zu verschaffen, das sie nicht hatten. In diesen "winzigen Leben" verkrachter Existenzen, die doch in gewisser Weise so brillant wie ehrgeizig sind, suche ich nach väterlichen Indizien. Ein solches, was da auftaucht, ist beispielsweise der Alkoholismus, denn ich wusste über meinen Vater nur, dass er trank und dass man das nicht tun soll. Doch der Alkoholismus ist nicht der einzige Hinweis auf den Vater, den ich aus der Geschichte verschiedener Personen lese. Ich werde da auch damit konfrontiert, dass er die Flucht ergriff. Denn es gibt in diesen Geschichten Personen, die wie der Vater fliehen. (225-236)

    Aus der Winzigkeit einer mit ihrem Tod untergegangen Existenz wird plötzlich das kostbare Bild eines Menschen, dem so etwas wie ein Heroirmis aus Schwäche zufällt. Im Grunde handelt es sich um aus Sprache gemeißelte Heiligenbilder oder um mit Wörtern erstellte Legenden aus der Provence. Eine davon handelt von einem alten Bauern, der, an Kehlkopfkrebs leidend, den dringlichen Rat der Ärzte missachtet, sich, eher es zu spät ist, in Paris behandeln zu lassen. Bis zuletzt blickt er als Patient der Landesklinik auf die Linden vor dem Fenster und überhört, was auch er nicht überhört. Dieser seltsame Starrsinn eines Unbelehrbaren erklärt sich schließlich damit, dass dieser Mann namens Foucault seine Lebenszeit als Analphabet verbracht hat. Er, der in der Unkenntnis gelebt hat, zieht es vor, unwissend zu sterben. Er weigert sich, sein Geständnis zu wiederholen, und will nicht darauf angewiesen sein, dass sich jemand seiner erbarmt und irgendwelche Papiere für ihn ausfüllt.

    Für Michon ist dieser Foucault mehr Schriftsteller als er, weil dieser dem abwesenden Wort den Tod vorzieht, während er glaubt, im Unvollkommenen des Wortes verharren zu müssen. Diese Unvollkommenheit hat längst eine glanzvolle Metamorphose erfahren. Aus dem Stümpernden, der die eigene Leere "hinter einer Wolke aus Worten versteckte", ist ein sprachgewaltiger Dichter geworden, der die Wiederauferstehung der Toten mit deren Heiligung verknüpft.

    Ich schreibe über Leute, die tot sind. Deshalb kann ich nicht einfach irgend etwas sagen, sondern muss Rechenschaft über ihr Leben ablegen und so tun, als ob sie mir nicht sagen könnten. Man hat doch Respekt vor den Toten. Gleichzeitig strebe ich die Auferstehung ihres meist zerbrochenen, dummen und katastrophalen Lebens mit Hilfe des Stils an. Ja, ich achte sehr auf den Stil und bringe da viel Violine und Violoncello hinein, um die Auferstehung dessen zu erreichen, was sie einst einmal waren. Im Christentum spricht man ja von "verklärten Leibern", also von "Heiligen". Ich möchte meine kleinen Toten mit Hilfe der großen stilistischen Orgel zu Heiligen machen und dem noch mit einer leichten Ironie entgegnen. Es ist, wie wenn man einen kleinen Sklaven, der am Ufer des Nils Steine schleppte, in den Sarkophag eines großen Pharaonen legen würde.(129-149)