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Im Geiste Maos

Den Wahlsieg der Maoisten in Nepal 2008 haben viele Regierungen der Nachbarstaaten mit Sorge verfolgt – auch die indische Regierung. Denn auch in Indien sind Maoisten aktiv, dort sind sie bekannt unter dem Namen "Naxaliten". In seinem Buch "Die Naxaliten in Indien" beschreibt Lutz Getzschmann diese Entwicklung als eine Folge der Marktöffnung vor etwa 20 Jahren.

Von Gerhard Klas | 15.08.2011
    Die Bewegung der Naxaliten gibt es seit Ende der 60er-Jahre. Zwischenzeitlich am Boden, hat sie in den 90er-Jahren wieder an Einfluss gewonnen und ist heute in einem Viertel der indischen Verwaltungsbezirke aktiv. Ihre bewaffneten Einheiten liefern sich Gefechte mit der Polizei und überfallen paramilitärische Einheiten. Der indische Premierminister Manmohan Singh betrachtet sie als "größte Bedrohung der inneren Sicherheit". Geheimdienste schätzen die Zahl ihrer bewaffneten Kämpfer auf 20.000, plus ein Vielfaches an Unterstützerinnen – vor allem in einigen zentral- und ostindischen Bundesstaaten. Lutz Getzschmann betrachtet dieses Phänomen in einem breiteren, sozioökonomischen Kontext.

    "Das, was wir momentan an ökonomischen Modernisierungsprozessen gerade in diesen Regionen Indiens haben, hat eine gewaltsame Dynamik, die alles das überschreitet, was in den letzten 50 Jahren oder erst recht in 200 Jahren britischen Kolonialismus in Indien erreicht wurde. Nach vorsichtigen Schätzungen werden in den nächsten 10 bis 20 Jahren etwa 400 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre ländliche Gegend zu verlassen und in die Städte zu übersiedeln. Das heißt, wir haben eine Landflucht, wir haben eine Zerstörung der agrarischen Subsistenzwirtschaften und eine Zerstörung bestehender Sozialstrukturen. Und das wird noch zusehends gefördert dadurch, dass die bisher unerschlossenen Ressourcen an Bauxit, an Stahl, an Kohle, Tropenhölzern in den Regionen Zentral- und Ostindiens jetzt erschlossen werden auch durch internationale Konzerne und dass genau dort die Bevölkerung den ökonomischen Interessen dieser Konzerne entgegensteht. Und für diese Menschen sind die Naxaliten nicht irgendeine politische Bewegung oder irgendeine Terrororganisation, sondern tatsächlich der einzige widerständige Faktor, der sich diesen Ausbeutungsinteressen entgegen stellt."

    Gleich in der Einleitung seines Buches macht Getzschmann deutlich, dass er zu denjenigen gehört, die differenzieren können. Er weigert sich, den Naxaliten einfach den Stempel "Terrororganisation" aufzudrücken. Dabei bedient er sich der Analyse des Politologen Herfried Münkler. Die Naxaliten entsprechen demnach eher einer klassischen Partisanenbewegung, denn ihre militärischen Angriffe zielen nicht darauf ab, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Sie verfügen vielmehr über eine soziale Basis und sind lokal verankert. Viele ärmere Dorfbewohner im sogenannten "Roten Korridor", der sich von Nepal bis ins südindische Andhra Pradesh zieht, nehmen die Naxaliten als ihre Interessenvertretung wahr.

    "Und dadurch erklärt sich eben auch die hohe Anzahl und der hohe Anteil von Dalit und vor allem Adivasi-Angehörigen, die innerhalb der Naxaliten-Guerrilla aktiv ist. Und unabhängig davon, wie man politisch und im Hinblick auf ihre teilweise programmatisch defizitäre maoistische Ideologie solcher Organisationen wie die CPI-Maoists, die stärkste illegale Naxaliten-Organisation, bewertet, muss man zur Kenntnis nehmen, dass ihre Existenz und ihre Stärke auf sozio-ökonomischen Entwicklungen basiert, die auch durch vermeintliche Entwicklungsprogramme in den rückständigen Gebieten Indiens eher verstärkt wird."

    Indien ist aufgestiegen, vom Entwicklungsland zum Global Player. Dieser Aufstieg hat aber seinen Preis: Einigen, wie den Ambani-Brüdern oder dem Tata-Konzern, hat er einen Reichtum beschert, der sich mit dem der Aldi-Brüder messen kann. Aber es gibt unzählige Verlierer: Die Kleinbauern und Landlosen, die Straßenhändler, die Dalits, die sogenannten Kastenlosen, und die Adivasi, die Ureinwohner, die bis heute die indischen Regenwälder bevölkern und jetzt weichen sollen, weil Bergbauunternehmen Bodenschätze fördern wollen. Die indische Regierung reagiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Ersteres wird eher selten gereicht, weiß Lutz Getzschmann zu berichten.

    "Wir sollten uns vor Augen halten, dass der Ausbau des staatlichen Machtapparates in Indien ziemliche Formen angenommen hat. Mittlerweile gibt es 1,4 Millionen Angehörige paramilitärischer Organisationen des indischen Staates, die unter Kontrolle des indischen Innenministeriums stehen. Es gibt einen forcierten Aufbau von Spezialeinheiten, es werden mittlerweile unbemannte Drohnen eingesetzt in den Naxaliten-Gebieten, wie sie die US-Armee auch schon in Afghanistan einsetzt, das heißt, wir haben eine Militarisierung dieser Gebiete, die ein enormes Ausmaß erreicht hat."

    Anhand vieler Beispiele führt Getzschmann aus, wie unter dem Vorwand der "Naxaliten-Bekämpfung" systematisch Menschenrechte verletzt werden. Besonders pikant ist der Fall des britischen Bergbauunternehmens Vedanta, das im Bundesstaat Orissa Bauxit in einer Region abbaut, die von mehreren tausend Adivasi bewohnt wird. Der indische Innenminister, Palaniappan Chidambaram, saß vor seiner Ministerkarriere im Aufsichtsrat des Bergbaukonzerns. Sprecher der Adivasi, die sich gegen den Abbau des Bauxits wehren, weil er ihre Lebensgrundlage zerstört, sind von der Polizei tagelang gefoltert worden – mit dem Vorwurf, sie seien Naxaliten. Wegen "Aufwiegelung" ist der stellvertretende Vorsitzende der indischen Menschenrechtsorganisation PUCL, Binayak Sen, im vergangenen Dezember zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Sogar der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy droht eine Verurteilung wegen "Aufwiegelung", weil sie die Gewaltexzesse der indischen Behörden kritisiert und sich auf die Seite der Adivasi stellt. Lutz Getzschmann zeichnet in seinem Buch ein düsteres Bild und spricht sogar von Genozid.

    "Man muss tatsächlich feststellen, dass die vor allem paramilitärischen Einheiten des indischen Staates in ihrem Kampf gegen die Naxaliten relativ unterschiedslos Dörfer besetzen, Stammesbevölkerung generell zum Feind erklären und einen geradezu Vernichtungsfeldzug gegen bestimmte Urbevölkerungen Indiens führen, die als Hauptträger der Naxaliten-Bewegung angesehen werden. Das heißt, dieser Kampf staatlicher Einheiten richtet sich gegen die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten selber und insofern kann man gar nicht davon sprechen, dass es hier um einen Kampf gegen eine bestimmte Guerilla geht, sondern es geht um einen Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung, es geht um einen Krieg um Ressourcen, um die Räumung dieser Gebiete, sowohl von Guerillaaktivisten, als auch der Bevölkerung, die dann den dahinter stehenden ökonomischen Interessen im Wege steht."

    Weil Lutz Getzschmann eine lineare Entwicklung hin zur Urbanisierung der indischen Gesellschaft unterstellt, ist seiner Meinung nach die Fixierung der Naxaliten auf die Landbevölkerung zunehmend anachronistisch. Nicht im Blick hat er dabei die vielen Kleinbauern- und Landlosen-Bewegungen, die Entwicklungs- und Umweltorganisationen, die nicht nur in Indien und völlig unabhängig von den Naxaliten den Herausforderungen des Klimawandels und der Nahrungsmittelkrise unter anderem mit kleinteiliger, ökologischer Landwirtschaft begegnen wollen und sich der angeblich alternativlosen Urbanisierung entgegenstellen. Trotz seiner einseitigen Prognose wird der Sozialwissenschaftler dem selbst formulierten Anspruch gerecht, mit diesem Buch eine erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Naxaliten vorzulegen. Wer sich mit den sozialen und politischen Auswirkungen der Marktöffnung Indiens beschäftigen will, kommt an dem Buch von Lutz Getzschmann über die Naxaliten nicht vorbei.

    Lutz Getzschmann: "Die Naxaliten in Indien. Agrarrevolution und kapitalistische Modernisierung."
    Neuer ISP Verlag, 415 Seiten, 32 Euro. ISBN: 978-3-899-00025-2