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Im Namen des Meisters

Manche bezeichnen sie als "Mutter aller literarischen Gesellschaften", andere nennen sie etwas despektierlich eine Ansammlung von "Goethe-Tanten" beiderlei Geschlechts. Aber Vorsicht: Die vor 125 Jahren gegründete Goethegesellschaft zu Weimar ist hochlebendig und international.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 20.06.2010
    Schon das erste Mitgliederverzeichnis dieser Gesellschaft zeigt, dass ihre Gründung am 20. Juni 1885 eine Sache von nationaler Bedeutung war: Juweliere, Bankiers, Fabrikanten, Journalisten, Professoren, ein echter Flügeladjutant, ein Prinz und sogar die deutsche Kaiserin. Als Vorsitzender fungierte der Präsident des Reichsgerichts, Eduard von Simson. Es wurden viele Vereine gegründet 1885, aber nur dieser brachte es in die New York Times.

    "Eine neue Goethe-Gesellschaft wurde am letzten Samstag auf einer eigens zu diesem Zweck einberufenen Versammlung in Weimar ... gegründet ... Der Großherzog von Sachsen-Weimar wurde zum Protektor ernannt ... "

    Es war die Zeit der Dampfeisenbahnen, der Schnauzbärte und der straffen Haltung. Und doch: Bei allem nationalen Pathos hatte sich die deutsche Bildungselite den Freigeist Goethe als Edelstein auserwählt, den sie fortan in ihrem Herzen zu hegen und zu pflegen gedachte.

    "An alle Verehrer Goethes! Diese unsere Einladung ... ist von allen Parteistimmungen und Streitfragen ... so unabhängig wie die Verehrung und Liebe, welche Goethe uns einflößt."

    Die Gesellschaft machte sich schnell an die Arbeit. Sie gab Geld für das Goethe-Schiller-Archiv und das Goethe-Nationalmuseum, beförderte die bis heute einzige vollständige wissenschaftliche Ausgabe der Schriften Goethes und leistete dem Andenken des Verewigten auch sonst gute Dienste: Ohne ihr beherztes Eingreifen Anfang des 20. Jahrhunderts hätte ein flämischer Architekt die schöne graue Mauer um Goethes Stadtgarten geschleift und damit eines der Heiligtümer Weimars den ungezügelten Blicken gewöhnlicher Passanten preisgegeben. Der Dichter Wulf Kirsten lebt seit 50 Jahren in Weimar auf Tuchfühlung mit Goethe und seiner Gesellschaft.

    "Goethe ist ein Autor, den kann man wie einen Steinbruch ausbeuten. Und wenn es nur mit einem Zitat ist, also er ist ein dankbarer Autor für Zitate."

    Wie sehr das zutrifft, davon geben die mittlerweile 125 Jahrbücher der Goethegesellschaft ebenso Kunde wie die immer stilvoll gestalteten Tagungen. Große Forscher beugen sich hier anhand von Goethe-Worten über die großen Fragen ihrer Zeit, aber auch Kuriosa werden mit Liebe ausgebreitet: Aufschluss über Goethes Verhältnis zur Volkswirtschaftslehre und zu Kant lässt sich hier gewinnen, ebenso über seine Einstellung zum Wein, zu den Wolken und zum Gurkensalat, zum Impfzwang, zur Todesstrafe, zur deutschen Sendung und sogar zu Begegnungsformen des Westlichen und Östlichen.

    "Wenn die Tagungen hier in Weimar stattfanden, war eine ganz eigene Atmosphäre in der Stadt. Das hat die Stadt also sehr belebt. Es fanden auch außerhalb der offiziellen Tagungen viele Gespräche im privaten Kreis statt. Das haben natürlich auch viele Bundesbürger benutzt, um hier von der Reiseroute abzuweichen und auszubüchsen."

    Es ist eine List der Geschichte, dass die Goethegesellschaft ausgerechnet in der DDR-Zeit tatsächlich nationale Bedeutung bekam. Für die Nazis, denen sie sich halb anbiederten und halb entzogen, waren die Klassikfreunde letztlich nichts weiter als "verkalkt". Die DDR dagegen wollte aus Faust einen Klassenkämpfer machen. Erst in den 60er-Jahren wurde die Goethegesellschaft der SED zum Dorn im Auge. Die Gesellschaft war nun eine der letzten gesamtdeutschen Einrichtungen. Dass sie es trotz aller Spaltungsversuche blieb, ist das Verdienst ihres pfiffigen ost-westlichen Vorstands, der sie zur internationalen Goethe-Gesellschaft ausrief und so mit Goethes poetischem Weltbürgertum den besten Teil des nationalen Erbes rettete.

    "Ein großer Teil waren eben keine Fachgelehrten, sondern das waren Leute des Bildungsbürgertums West und Ost, im Osten schon sehr ausgedünnt, aber immer noch vorhanden und in Weimar merklicher als in anderen Städten der DDR. Mir kam Weimar unter DDR-Bedingungen immer vor wie eine Art Brückenkopf zum westlichen Deutschland. Das spürte man ... am stärksten in den Tagen, in denen die Goethegesellschaft hier tagte."

    Heute hat die Gesellschaft über 3000 Mitglieder, 60 Ortsvereine in Deutschland und 37 Tochtervereine auf allen Kontinenten. Sie vergibt Stipendien für Goetheforscher und veranstaltet Sommerkurse für die Jugend. Ihre Geschäftsstelle ist bis heute in Weimar. Die kleine Stadt und das vereinte Deutschland haben der Goethegesellschaft viel zu verdanken.