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Im Prinzip keine Hoffnung

Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? Wenn sie die halb leer geräumten Lagerhallen der Wertigkeiten und Wichtigkeiten, des Nützlichen und Notwendigen, Echten und Rechten verlassen hätten, um auf Wildwechseln in den Dschungel zurückzukehren, dorthin, wo wir sie nicht mehr sehen, geschweige denn erreichen können? Wenn 'das Gute' für sie maximierte Effizienz bei minimierten Verlustrisiko wäre, das 'Schlechte' hingegen nichts als ein suboptimales Resultat? Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es keine mehr gibt?

Von Claudia Kramatschek | 06.12.2004
    Dies ist der Auftakt des neuen Romans von Juli Zeh. Und er sagt uns vor allem eins, und das recht schnell: dass er viel will, dieser Roman. Denn "Spieltrieb", so sein Titel, will nicht weniger sein als ein provokantes Remake des Gesellschaftsromans; ein Rundumpanorama hiesiger Mentalität, das mit dem Zeitgeist des Jetzt in grellen Farben ausgekleidet ist und die gute alte Geistesgeschichte zur blassen Tapete erklärt.

    Sein Schauplatz ist daher auch Bonn, die ausgediente Hauptstadt eines ausgedienten Westdeutschlands. Der eigentliche Ort aber des Geschehens ist – Erfurt lässt grüßen – eine Schule, die – so ahnt man bald – ihrem Namensgeber Ernst Bloch nur noch spöttisch Ehre erweist. Und an dieser Schule wird denn auch nicht die Hoffnung als Prinzip, sondern ein böses Spiel drei Menschen fast ein Jahr lang miteinander verketten. Im Mittelpunkt dieses Spiels: Die Schüler Ada und Alev, und Smutek, ihr Lehrer.

    Ada kommt 2002 mit 14 Jahren in die zehnte Klasse von Ernst-Bloch – ein Schulwechsel war nötig, weil sie einen Mitschüler mit Schlagring bearbeitet hat. Sie gilt als schwererziehbar, aber auch als hochbegabt; sie ist altklug und eine, von der die Anderen bald sagen: "die scheisst auf alles". Und nicht zuletzt ist sie eine hervorragende Läuferin – was ihr die Aufmerksamkeit von Smutek, ihrem Lehrer für Deutsch und Sport, beschert. In Alev aber, der 2003 an ihre Schule kommt, findet Ada endlich einen Gegenpart. Denn Alev ist eine männliche Sphinx: ein charmanter wie wortgewaltiger Verführer mit der "Intelligenz und Härte eines Wahnsinnigen", wie es im Roman heißt. Vor allem aber ist Alev getrieben von einem kalten Willen zur Macht. Und diese Macht wird es sein, mit der Ada, die sich in Alev verliebt, einen Pakt schließen wird.

    Das Opfer aber, das diesen Pakt beschließen soll, ist Smutek, der aus der alten Welt namens Polen stammt. Dort hatte man ihn fälschlicherweise verhaftet und dann in den Westen abgeschoben, wo er seinen Glauben an das Gute im Menschen tapfer aufrecht erhält. Bis er in die Fänge von Ada und Alev gerät. Denn Ada wird Smutek zu Sex verführen, während Alev heimlich filmt, um die Bilder auf die Webseite der Schule zu stellen; eine Erpressung, die jedoch weniger Geld, sondern Smutek selbst zum Ziel hat, wie Alev erklärt:

    Was bringt die Erpressung? Macht. Neue Entfaltungsmöglichkeiten für alle Beteiligten. Vergnügen. Vielleicht Geld. Vor allem aber: Befriedigung des Spieltriebs.

    Der Spieltrieb aber, so klärt Ada uns auf, bleibt als letztes übrig, wenn keine Werte mehr gelten. Und das: ein Verlust aller Werte, ein Fehlen von Gut oder Böse, einer moralischen Hemmschwelle, all das gilt ganz sicher für Ada und Alev. Denn fast ungläubig schaut man ihnen zu, wie sie jeden Freitag das gleiche Ritual vollziehen, und Smutek in die Turnhalle zitieren, wo Alev ihm Anweisungen gibt für wechselnde Stellungen mit seiner Schülerin.

    Warum Smutek sich erst nach über einem Jahr gegen seinen Peiniger Alev wehren wird, wird nicht wirklich einsichtig im Roman. Nicht zu übersehen aber ist die symbolische Ironie, die so vielen Motiven und Strängen des vielschichtigen und voluminösen Romans zu eigen ist, wenn Smutek – dessen Name auf polnisch "Traurigkeit" heißt – ausgerechnet Musils "Mann ohne Eigenschaften" im Deutschunterricht studiert. Denn dieser Roman ist für die Autorin Zeh wie eine Art sichtbar gemachte Folie: weil er vorweggenommen hat, was nun auch ihr Thema ist: die Auseinandersetzung mit dem Gedankengut des Nihilismus und dessen Auswirkungen bis in die heutige Gesellschaft.

    Der erklärende Satz dazu ist: Diese Personen, meine Personen glauben nicht nur an gar nichts, sondern sie glauben auch nicht mehr, dass man an irgendwas nicht glauben kann. Sie sind an einem Punkt angelangt, dass sie sich nicht einmal mehr absetzen müssen gegen gültige Werte, die noch bestehen, sondern sie sind schon zu einem Zeitpunkt geboren bzw. denkfähig geworden, da es diese Säulen, an denen man sich abstoßen, die man ablehnen kann, nicht mehr gab.

    Das bedeutet für das "uns " im Buch, also für mein Personal, dass sie sich an einem Punkt sehen, wo sie schon wieder über das hinaus sind, was (..) der Nihilist von sich sagt.

    Zeh geht es vor allem um die Veranschaulichung dieser Art Zeitenwende, die sie anhand ihrer beiden jugendlichen Helden – die Urenkel der Nihilisten, so Zeh – konstatiert und in der nüchterner Pragmatismus an die Stelle von lästiger Moral getreten ist, so dass Gewalt nur mehr eine Beiläufigkeit ist. Oder, wie Alev es sagt:

    Mein Teufel ist nicht die Anwesenheit von etwas, auch nicht von etwas Schlechten, sondern dessen vollkommene Abwesenheit. Er ist No-Thing, das Nichtvorhandensein einer Vorstellung von Richtig oder Falsch, ein leerer Zwischenraum.

    Ada und Alev wirken daher manchesmal auch so erfunden, wie sie es sind. Denn Zeh nutzt die Überzeichnung – übrigens nicht immer zum Vorteil des Romans –, um den Befund eines Generationenbruchs zu illustrieren, der Endzeitcharakter trägt.

    Diese jungen Menschen hatten keine Wünsche, keine Überzeugungen, geschweige denn Ideale, sie strebten keinen bestimmten Beruf an, wollten weder politischen Einfluss noch eine glückliche Familie, auch keine Kinder, keine Haustiere und keine Heimat, und sehnten sich ebensowenig nach Abenteuern und Revolten wie nach der Ruhe und dem Frieden des Althergebrachten. Weniger als jede Generation vor ihnen bildete sie eine Generation. Sie war einfach da, die Sippschaft eines interimistischen Zeitalters.

    Schwellenmenschen, so nennt Zeh an einer Stelle im Roman solche Menschen wie Ada und Alev. Und für deren Bebilderung holt sie weit aus. Denn ihr auktorial erzählter Roman verfolgt nicht nur in einem episch weiten Netz diverse Nebenschauplätze – so etwa den Freitod des Geschichtslehrers; oder den Scheidungskrieg von Adas Mutter. Zeh spart auch nicht mit wiederkehrenden Verweisen auf die tages- wie gesellschaftspolitischen Eckdaten der Zeit zwischen 2002 und 2004, sei das die EU-Erweiterung oder der Irak-Krieg, sei das Erfurt und die Diskussionen um Gewalt in den Medien – doch all das nur, um es als leere, da antiquierte Rituale zu diskreditieren.

    Diskreditiert wird aber sicher auch das Rechtswesen an sich. Denn der Fall kommt vor Gericht, weil Smutek Alev zusammengeschlagen hat – nach einem langen Jahr, in dem immer unklarer geworden ist, wer eigentlich mit wem ein Spiel betreibt. Und Zehs Richterin legt daher nahe, dass jedes Urteil ein falsches Urteil ist.

    Worum es in Spieltrieb geht, ist das Wegfallen von moralisch festen Werten und die Auswirkungen auf eine Realität, die das Vorhandensein dieser Werte nach wie vor simuliert und sich eigentlich in den selben Verfahren dreht und bewegt, obwohl die inhaltliche Grundlage entzogen ist.

    So dass sich das Recht, verkörpert durch diese Richterin, von dem Fall zurückzieht und nicht in der Lage ist, die Sache zu beurteilen. Das bedeutet quasi eine Kapitulation.

    Wie eine Kapitulation vor dem eigenen Befund einer entmenschlichten, da jenseits von Gut und Böse sich befindlichen Welt, mutet auch das Romanende an, wenn Ada und Smutek in das osteuropäische Abendrot eines Happy End entschwinden. Doch nichts, auch nicht die zuweilen an kitschiges Pathos grenzende Metaphorik dieses teils überladenen, teils analytisch brillanten Romans sollte über die provokante Schärfe seiner eigentlichen Botschaft hinweg täuschen: dass es, so Zeh, einen Preis der Freiheit gibt: und das ist ein ewiger Rest an Gewalt.

    Gewalt an Schulen ist gar nicht Gewalt an Schulen, sondern immer Gewalt unter Menschen und Gewaltbeziehungen unter Menschen sind das Allernatürlichste auf der Welt. Wenn man Kinder sieht, wie sie miteinander umgehen und wie sie lernen, was erlaubt ist und was nicht, wird das immer auch über die Ausübung und den Empfang von psychischer und körperlicher Gewalt gehen, sei es die Schlägerei zwischen Vierjährigen auf der Wiese, sei es der Versuch, einem Frosch die Beine auszureißen. Der Mensch erfährt sich und andere leider zum Teil über Gewaltbeziehungen.