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Im Reich der Versager und Verlierer

Nüchtern und unbestechlich beschreibt Daniel Odija die Bewohner einer heruntergekommenen Straße in einer polnischen Kleinstadt. Er seziert ihre Träume und ihre Tristesse mit der Präzision eines Insektenforschers, allerdings ohne sie zu diffamieren.

Von Marta Kijowska | 25.02.2013
    Über ihre Topografie weiß man nur eines: Sie liegt in irgendeiner Provinzstadt an der polnischen Ostseeküste. Eigentlich muss man sie gar nicht kennen, denn sie hat nichts Besonderes an sich. Sie heißt Ulica Dluga – die Lange Straße –, ist aber in Wirklichkeit ziemlich kurz und außerdem sehr schmutzig und heruntergekommen. Sie sollte schon vor Jahren abgerissen werden, und wenn es bis jetzt noch nicht passiert ist, dann vermutlich wegen des kleinen Friedhofs und der drei Kirchen, die es hier gibt. Diese geballte Religiosität ist wohl das einzig Ungewöhnliche an der Langen Straße.

    Sonst ist es hier wie überall. Dass die Jugendlichen sich von Zeit zu Zeit volllaufen lassen und einen unvorsichtigen Typen, der sich nachts außerhalb seines heimatlichen Reviers herumtreibt, mit Füßen traktieren, ist schließlich nicht ihre Schuld, sondern seine, weil er ungebeten herumstromert, wo er nichts verloren hat. Oder dass Katzen mit angezündetem Schweif herumlaufen oder es ihnen die Beine auseinanderreißt, weil ihnen jemand Sprengkapseln an die Pfoten gesteckt hat – so was gibt’s schließlich überall, und wenigstens haben die Kinder was zu lachen.

    Auf die Erwachsenen trifft das nur selten zu. Die Straße scheint nämlich von einer einzigen Sorte Menschen bewohnt zu sein: von lauter Gescheiterten und Enttäuschten. Arbeitslose Akademiker, Kurzzeitarbeiter und Frührentner leben Tür an Tür mit Dieben, Betrügern, Prostituierten und Trinkern. Wenn es etwas gibt, was all diese Menschen verbindet, dann ist es die Tristesse ihres Alltags. Es ist die Wendezeit, das Land befindet sich im Aufbruch, doch für sie scheint es darin keinen Platz zu geben. Sie fristen weiterhin ihr ärmliches Dasein, ohne Ziel, ohne Hoffnung.

    "Auf offener Straße" ist gewiss keine entspannende Lektüre. Ähnlich wie in dem Roman "Das Sägewerk", dem Porträt eines kleinen Dorfes, richtet Daniel Odija den Blick auf eine Randgruppe der neuen polnischen Gesellschaft und seziert sie mit der Präzision eines Insektenforschers. Er tut es auf eine gnadenlos nüchterne, fast brutale Weise, ohne allerdings anklagen oder schockieren zu wollen.

    "Als ich an den Romanen 'Auf offener Straße' und 'Das Sägewerk' arbeitete, überlegte ich gar nicht lange, was und wie ich zeigen will, sondern ich beschrieb einfach das, was ich gut kannte: Welten, in denen ich gelebt hatte, Gesellschaftsgruppen, mit denen ich vertraut war. In diesem Buch ist es eben die Welt der Bewohner eines städtischen Elendsviertels. Die Dialoge und Szenen sind selten erfunden, die meisten habe ich aufgeschnappt bzw. direkt beobachtet. Es gibt hier also nichts, was den Charakter einer Entdeckung hätte. Wie in jedem meiner Bücher geht es mir nur darum, die beschriebene Wirklichkeit zu verstehen, über sie nachzudenken."

    Diese Wirklichkeit zerfällt unter seiner Feder in etliche Kurzporträts. Da ist etwa Kanada, ein Ex-Soziologiestudent, der seinen Spitznamen einem amerikanischen Stipendium verdankt. Er haust in einer Hinterhofbude und ertränkt seine Sorgen in billigem Schnaps. Sein Nachbar Pattex schnüffelt lieber Klebstoff, das tröstet ihn darüber hinweg, keine Bettlernatur zu haben – im Gegensatz zu Hobbit, der sich mit Bettelei ein beachtliches Einkommen sichert. An Geschäftssinn mangelt es auch nicht dem jungen Zaba, der seine Diebeszüge nach Deutschland verlegt hat. Oder den drei Cebula-Schwestern, die auf den Strich gehen – zwar nur unter Nachbarn und zum Niedrigtarif, dafür mit viel Hingabe. Und da gibt es noch ein paar unscheinbare Gestalten, die mit Altpapiersammeln oder Taubenzüchten ihren Tag verbringen. Entsprechend wechselhaft sind die Emotionen und Instinkte, die hier täglich hochkommen: Langeweile, Hoffnung, Verzweiflung, Hass, Gier, Neid, Gewalt. Letztere ist ohnehin allgegenwärtig und kann ganz unvermittelt ausbrechen. Ein Kinderschänder ist nicht mal vor der eigenen Schwester und ihren Kumpeln sicher.

    Am Anfang werden sie ihm ein paar Mal den Sessel über den Kopf schlagen. Der Sessel wird entzweibrechen. Jeder wird sich eine Zigarette anzünden, und von Zeit zu Zeit werden sie die an seinem Körper ausdrücken. Der Größere wird die halbe Flasche austrinken. Der Kleinere etwas weniger. Die Schwester wird ein Küchenmesser zur Hand nehmen. Sie wird die Hand in den geöffneten Hosenschlitz tauchen. Sie wird das Ding abschneiden und ihm zwischen die Zähne stecken. Dann wird sie etwas ruhiger werden.

    Dermaßen drastische Bilder wurden von jungen polnischen Autoren der Wendezeit nicht sehr oft geliefert. So sorgte der Roman bei seinem Erscheinen vor zehn Jahren für einen kleinen Skandal. Man war dafür, dass die vor dem Umbruch tabuisierten Themen in die Literatur eingingen. Wenn aber er selbst bzw. seine Schattenseiten zum Thema wurden, empfand man es oft als Schadenfreude oder Diffamierung. In diesem Fall war der Eindruck allerdings völlig falsch. Hinter Odijas nüchternem Blick verbarg sich echtes Mitgefühl.

    "Ich wollte einfach in diesem Buch die Menschen zeigen, die abseitsstehen, an die keiner denkt und deren Wehrlosigkeit mich faszinierte und gleichzeitig wirklich mein tiefes Mitleid weckte. Das gilt übrigens heute noch: Wenn ich einen Clochard sehe, empfinde ich bestimmt mehr Mitleid als Verachtung. Ich bin kein kühler Intellektueller, sondern ein Schriftsteller, der vor allem emotional reagiert. Vielleicht deswegen sind meine Helden so emotionsgeladen – weil ich mich gut in sie hineinversetzen kann. "

    Daniel Odija kann auch seine Empathie meisterhaft zum Ausdruck bringen. Sein Buch hat keine durchgehende Handlung, sondern besteht aus vielen kurzen Sequenzen, die jeweils einem Menschen, einer Situation, einem Alltagsdetail gelten. Dabei sind seine knappen, von Martin Pollack glänzend übersetzten Sätze so kraftvoll, so einprägsam, dass man jeden Straßenbewohner genau vor sich sieht und gleichzeitig die Aura des gesamten Ortes spürt. Er schreibt sich ganz nahe an die Dinge heran, um sie dann plötzlich durch eine stilistische Brechung – eine Portion Ironie oder einen Hauch Poesie – wieder fern zu rücken. So viel stilistisches Können ist bei einem jungen Autor selten und deutet auf gute Vorbilder hin.
    "Als ich 'Auf offener Straße' schrieb, waren es vor allem Bukowski, Faulkner und Hrabal. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich damals auch viel Hemingway gelesen. So genau weiß ich es aber nicht mehr, weil es schon lange her ist und meine Vorbilder sich ständig ändern. Eines bleibt aber konstant: Ich verbeuge mich immer sehr, sehr tief vor den Dichtern. Auch in diesem Fall habe ich wechselnde Vorlieben, je nach Gemütslage und geistiger Verfassung."

    In Wirklichkeit sei er ein verhinderter Dichter, der sich in der Prosa realisiere, sagt Daniel Odija über sich. Er schreibe sie aber nicht so sehr, um eine Geschichte zu erzählen, sondern um über wichtige universelle Fragen nachzudenken: über die Zeit, das Vergehen, den Tod, die Liebe. In diesem Fall kommt das Poetisch-Reflexive vor allem in den Träumen der Figuren zum Ausdruck. Sie sind ein ständig wiederkehrendes Element der Handlung, durch sie tritt das Irreale, das Metaphysische in den Roman.

    "Wenn es um Träume geht bzw. überhaupt um alles, was man als metaphysische Ebene bezeichnen könnte, so hängt das mit meiner gesamten schriftstellerischen Haltung zusammen. In jedem meiner Bücher versuche ich nämlich, mir selbst eine bestimmte Phase meines Lebens zu erklären. Dadurch wissen die Leser nicht so recht, wer Daniel Odija eigentlich ist, aber ich weiß genau, was ich fühlte und ausdrücken wollte, als ich dieses oder jenes Buch schrieb."

    Das erklärt so manches auch in Bezug auf Daniel Odijas Erstling: Im Original heißt der Roman schlicht 'Ulica' – 'Die Straße', und die Stadt, in der sie sich befindet, hat gar keinen Namen. Dennoch wirkt die Lange Straße sehr real und macht den Eindruck einer vollkommenen, in sich geschlossenen Einheit. Wo ihr Anfang ist und wo sie endet, ist nicht so wichtig. Auch hier ist es ja nicht anders als beim menschlichen Leben: Am wichtigsten ist das Dazwischen.

    Ein lebendes Wesen stirbt, und um von einem Zustand in den anderen überzugehen, muss es sich in der Wirklichkeit zwischen diesen beiden Zuständen befinden. Es ist schwer, das Dazwischen zu begreifen und sich daran zu erinnern, obwohl es auf den ersten Blick so leicht festzumachen ist.

    Daniel Odija: Auf offener Straße
    Roman. Aus dem Polnischen von Martin Pollack
    Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012. 140 Seiten, 14,90 Euro.