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Im Schatten des Schreibtischs

Ein großer Schreibtisch mit 19 Schubladen, der mehrmals den Besitzer wechselt, verbindet in "Das große Haus" von Nicole Krauss die unterschiedlichen Erzähler. Alle Beteiligten leben im eher bedrohlichen Schatten dieses vielgereisten Möbels.

Von Marli Feldvoss | 25.05.2011
    "Ein Rätsel: An einem Winterabend des Jahres 1944 wird in Budapest ein Stein geworfen. Er fliegt durch die Luft zum erleuchteten Fenster eines Hauses hinauf, in dem ein Vater am Schreibtisch arbeitet, eine Mutter liest und ein Junge mit offenen Augen von einem Schlittschuhrennen auf der gefrorenen Donau träumt. Die Scheibe zersplittert, der Junge hält sich die Hände über den Kopf, die Mutter schreit. In diesem Moment hört das Leben, das sie kennen, auf. Wo landet der Stein?" (S. 367)

    Das Rätsel, das Nicole Krauss uns aufgibt, findet sich - anders als vielleicht vermutet - erst auf den letzten zehn Seiten des Romans. Auf diesen wird, wie in einer Coda, eine Nachbetrachtung, auch eine Art Hilfestellung für die Lösung der mit vielen Fragezeichen versehenen Geschichten des Romans angeboten. Im "Großen Haus" werden ja gleich fünf Ich-Erzähler samt Lebenslauf einquartiert: eine New Yorker Schriftstellerin, ein Vater in Jerusalem, der seinen verlorenen Sohn beklagt, ein emeritierter Professor in London, der die Geheimnisse seiner demenzkranken Frau erforscht, eine amerikanische Studentin, die, aus Liebe, mit einem geheimnisvollen Geschwisterpaar in einem großen Haus in London lebt. Und zuletzt deren Vater, der Antiquitätenhändler Georg Weisz aus Budapest, eine Schlüsselfigur, ein Gedächtnis, das alle Antworten parat hält. Viele Stimmen jagen über den Globus auf der Suche nach Zusammenhang. Einziges Bindeglied und Erzählkonstante ist ein Ungetüm von Schreibtisch mit 19 Schubladen, der mehrmals den Besitzer wechselt und in vier von fünf Geschichten eine Hauptrolle spielt. Letztlich leben alle Beteiligten im eher bedrohlichen Schatten dieses vielgereisten Möbels, das, soviel sei doch verraten, ursprünglich in einem Studierzimmer in Budapest stand.

    "Als ich anfing, Romane zu schreiben, habe ich sie mir als Häuser vorgestellt. Orte, an denen man leben kann, die notwendig fehlerhaft sind. Das weiß jeder Hausbesitzer, dass immer etwas kaputt ist. Es gibt keinen perfekten Roman. Ich fing also an, Romane wie Häuser zu bauen. Und langsam entwickelte sich die Vorstellung: wie. Es gibt keinen Entwurf. Ich fange mit einem Satz an, mit einem kleinen Türknauf und dann kam die Tür. Dann musste ich die Tür öffnen, die Zimmer bauen und ausstatten. Ich habe das Gefühl, von innen her zu bauen. Lange bevor der Titel kam, habe ich die Kapitel Zimmer Nummer eins, Zimmer Nummer zwei genannt."

    In Zimmer Nummer eins sitzt die Schriftstellerin Nadia aus New York, die erste Bewohnerin des Hauses, das Nicole Krauss Stück für Stück "von innen" ausbaut - und sich dabei wenig um die Statik kümmert. Man könnte Nadia für ein Alter Ego halten. Wie Krauss hat sie als Lyrikerin begonnen und arbeitet auf ein Buch hin, ihr "großes Werk, in dem alles enthalten sein sollte." (S. 275) Nadia berichtet als Erste von dem Ungetüm von Schreibtisch, der ihr eines Tages zusammen mit anderen Möbeln von einem Chilenen namens Daniel Varsky zur Aufbewahrung übergeben wird. Varsky gehört, wie man viel später erfährt, zu den Verschwundenen Chiles. Als Nadias Liebhaber bleibt er unvergessen, wird sogar in einem Doppelgänger wiederkehren; nach dem politischen Schicksal Chiles wird jedoch weniger gefragt. Nadia wird in 25 Jahren sieben Romane an diesem Schreibtisch schreiben, bis er wieder abgeholt wird und in andere Hände übergeht. Sie wird über ihr Beziehungsleben und ihre Arbeit als Schriftstellerin verzweifeln: "... eine Hochstaplerin, die ihre Geistesarmut hinter einem Berg von Worten versteckte." (S. 57) Soweit klare Fakten, trotzdem wird Nadias Bericht, der mit der Anrede "Euer Ehren" versehen ist, zusätzlich verrätselt. Wo sind wir wirklich? In einer Gerichtsverhandlung? Wer ist wessen angeklagt?

    "Ich habe kein Ziel. Für mich ist das Schreiben ein Prozess der Entdeckung. Ich muss mich auf unbekanntem Gelände bewegen. Ich muss mich verloren fühlen, um zu Dingen vorzustoßen, die ich noch nicht kannte. Auf bekanntem Gelände würde ich mich bald langweilen und der Leser wahrscheinlich auch. Ich habe viel darüber gelernt, wie mein Gehirn beim Romanschreiben funktioniert. Ich fühle mich sehr zu Mustern hingezogen, Muster, die sich tief unter der Oberfläche der Dinge aufbauen. Ich entscheide mich für sehr entlegene Geschichten und halte sie streng getrennt und unter Spannung, bis die Verbindungen im Untergrund sich zeigen. Vielleicht ist das ein bisschen pervers - aber sowie ich ein Muster erkenne, will ich es brechen. Es gibt also ein gleichzeitiges oder paradoxes Interesse, das Muster zu entdecken und gleichzeitig die Ambiguität herauszufiltern."

    Nun sind die Geständnisse der Schriftstellerin Nicole Krauss nicht gerade einzigartig, sondern beschreiben unbewusste kreative Prozesse, die bei jedem Autor ablaufen. Das Ungewöhnliche daran ist allenfalls die Entscheidung, die erkennbaren "Muster" nicht mit ihren Eigenarten weiterzuverfolgen, sie als Erzählstoff zu entwickeln, sondern sie unter allen Umständen zu "brechen". Diese Schreibtechnik fordert ihren "gewollten" Tribut und schreit für die abgebrochenen Geschichten, die vielen losen Enden, die willkürlichen Anschlüsse nach Lösungen. Warum verlegt Krauss ihre zweite Geschichte nach Israel und lässt dafür die Migration des Schreibtischs links liegen? Um auf die Entfremdungs- und Zerstörungsprozesse zu kommen, die mit der Staatsgründung Israels und seinen unseligen Kriegen heraufbeschworen wurden? Man kann an allen Ecken und Enden versteckte Anknüpfungspunkte aufspüren - alles ist mit allem verbunden - eine Detektivarbeit - aber die Schreibvorlage des Autors sollte zumindest überzeugendere Stichworte liefern. Alle Geschichten im "Großen Haus" sind tragische Liebesgeschichten, die ihr Glück verfehlen, so wie der Schreibtisch nie wieder an seinen angestammten Ort zurückkehren, sondern allenfalls zur Ruhe kommen wird. An irgendeinem Platz irgendwo in der Diaspora.

    Dieser Schreibtisch mit seiner imposanten Erscheinung, den vielen Schubladen und seiner steten Wanderschaft ist ein metaphorisches Wunderwerk - oder nur ein plattes Symbol? Er ist für sich genommen schon ein "Großes Haus" und erweist sich als Teil eines Erzählauftrags, der sich auf die Lehre des Rabbi ben Zakkai beruft. Dieser, verrät Krauss, ebenfalls auf den letzten Seiten des Romans, habe - nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer - die Idee gehabt, das mündliche jüdische Erzählgut zu verschriften und auf diese Weise das Gedächtnis eines ganzen Volkes zu retten. "Das große Haus" ist damit der Ort, wo die Fäden wieder zusammenlaufen, wohin auch Krauss auf verschlungenen Erzählpfaden steuert. Damit gibt die Autorin auch zu erkennen, dass sie sich noch ausdrücklicher als bisher zu ihrem jüdischen Erbe bekennt, dass sie als explizit jüdische Schriftstellerin auftritt.
    "Wenn man schreibt, fängt man an, sich selbst kennenzulernen. So dachte ich am Anfang, dass der Judaismus mir nicht viel bedeutete. Obwohl ich so erzogen wurde. Mein erster Protagonist in meinem ersten Roman war Halbjude - das spiegelt schon eine gewisse Spannung. Aber jetzt, in meinem dritten Buch sage ich mir: Wenn es ein "jüdisches" Buch ist - dann ist es das wegen seiner vielen Ungewissheiten, seiner Zweifel. Das ist der entscheidende Punkt in der jüdischen intellektuellen Tradition. Es ist vielleicht die einzige Religion, die den Zweifel lehrt. Der Talmud ist vielleicht das einzige heilige Buch in der Welt, das den Zweifel verlangt, das darauf beruht, zu argumentieren, Fragen zu stellen."

    "Das große Haus" ein philosophisch grundiertes Werk? Mit diesem Hintergrundwissen mag man toleranter mit den Unzulänglichkeiten des Romans umgehen, ganz aus der Verantwortung mag man die Autorin dennoch nicht entlassen. Der gewagte Sprung von zunächst ein oder zwei auf fünf miteinander konkurrierende Ich-Erzähler benötigt nicht nur mehr Erzählfreude, sondern vor allem mehr Logistik. Es werden einfach zu viele, auch zu viele falsche Fährten gelegt, zu selbstverliebt Erzählstoff aufgetürmt, der in Form von Kurzgeschichten vielleicht mehr überzeugt hätte. Nicole Krauss pocht indes selbstbewusst auf das Recht der dichterischen Freiheit, rühmt die undefinierte Form des Romans, die dazu einlade, immer wieder neu erfunden zu werden. Und beschwichtigt ihre Leser:

    "Bitte hadern Sie nicht so sehr damit, wie diese Geschichten zusammenhängen. Sie werden schon zusammengehen. Es gibt eine Logik. Bestimmt. Ich verstehe, warum unser Gemüt sich so danach sehnt. Wir fühlen uns verloren. Aber was ist, wenn der Autor genau das verlangt, in dieser Ungewissheit auszuharren? Die Autorin war unsicher beim Schreiben, die Figuren sind von Unsicherheiten umzingelt und auch du, Leser, bist aufgerufen, deine Zelte in unsicherem Terrain aufzuschlagen. Denn das ist der einzige Platz, der uns im Leben zugewiesen ist."

    Nicole Krauss: Das große Haus. Roman. Aus dem Englischen von Grete Osterwald, Rowohlt Verlag 2011, 375 Seiten, gebunden, 19,95 Euro. E-Book 17,99 Euro