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Im Sog der Verdichtung

Der Begriff "Lebensraum" lässt unterschiedliche Bedeutungsinterpretationen zu. Das NS-Regime benutzte ihn für seine Rassenkonstrukte. Die Hamburger Historikerin Ulrike Jureit fragt nun nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Raum und Bevölkerung und untersucht es am deutschen Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert.

Von Tillmann Bendikowski | 31.12.2012
    In der Moderne – das wussten wir bereits – geht alles schneller. Beschleunigung ist längst als Erfahrungsbegriff akzeptiert. Doch mit Beginn der Moderne ging es auf der Welt nicht nur schneller zu, sondern zugleich wurde es auch enger: Von einer regelrechten "Kompression von Zeit und Raum" spricht deshalb Ulrike Jureit – "Beschleunigung" und "Verdichtung" sind für die Historikerin die spezifischen Erfahrungen der Neuzeit. Gerade im 19. Jahrhundert ist – so argumentiert sie - diese Verdichtung spürbar gewesen, gekennzeichnet durch Bevölkerungsanstieg, durch Industrialisierung und Urbanisierung.

    "Verdichtung im 19. Jahrhundert wurde als ein raumgreifendes Geschehen wahrgenommen, das unter anderem aufgrund der Mobilitätssteigerung neue Räume erschloss oder zugänglich machte, das zum anderen aber auch den Verlust von Raum zu einer signifikanten Erfahrung des 19. Jahrhunderts werden ließ."

    Dieser "Verlust an Raum" – und vor allem die Reaktionen auf dieses Gefühl – interessieren Ulrike Jureit. Die Wissenschaftlerin am Hamburger Institut für Sozialforschung fragt nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Raum und Bevölkerung und untersucht dieses am deutschen Beispiel im 19. und 20. Jahrhundert. Hierbei hat sich für sie gezeigt, dass die Erfahrung einer sich zunehmend "verdichtenden" Welt in Deutschland eigene eigentümliche Sehnsucht nach einem vermeintlich "leeren" Raum hervorbrachte. Und den machte man nach Jureits Beobachtung vor allem in fernen Kontinenten aus, vor allem in Afrika. Das Deutsche Reich habe dort ebenso wie die anderen Kolonialmächte keine gewachsene Ordnung erkennen können; für sie habe dort, so Jureit, wo koloniales Land noch nicht in Besitz genommen wurde, schlicht "nichts" existiert. Abenteurer, Entdecker und Kolonialbeamte hätten demnach Karten in den Händen gehalten, auf denen die weißen Flecken überwogen.

    "Als sie zum Niger, zum Okavango oder zum Zambesi aufbrachen, war dieser Raum in ihren Köpfen bereits leer. In dieser Hinsicht ist der leere Raum keine Metapher, sondern demonstriert die beanspruchte Überlegenheit europäischer Mächte sowie die beabsichtigte Installation des europäischen Territorialverständnisses auf einem (im staatsrechtlichen Sinne) zum rechtsfreien Raum erklärten Kontinent."

    Das deutsche Streben nach Weltpolitik und Lebensraum stieß indes rasch an seine Grenzen. Schon um die Jahrhundertwende war deutlich, dass Deutschlands weltpolitisches Gewicht mit seinem überschaubaren Kolonialbesitz begrenzt bleiben würde. So erhielt die Frage einer deutschen Vorherrschaft in Europa eine spezifische Brisanz – Ulrike Jureit spricht von der "Transformation des kolonialen Gedankens nach Europa". Dieser Gedanke sei nun unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs im sogenannten Militärstaat "Ober Ost" praktisch vollzogen worden: Die Gebiete Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno sollten demnach zunächst als Schutzwall gegen Russland dienen, später dann "deutsches Land" werden. Doch solche europäischen – wie auch die überseeischen Kolonialträume – platzten mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Und die Autorin beschreibt, wie in Deutschland das Gefühl der "Enge" durch die Gebietsverluste nach dem Versailler Vertrag sogar noch weiter zunahm:

    "Der zuvor noch weite Blick nach Osten verkehrte sich nach Überwindung eines vorübergehenden Schockzustandes in eine sich zunehmend klaustrophobisch aufladende Panik, nicht nur die eigene territoriale Einheit zu verlieren, sondern an einem Existenz bedrohenden Raumverlust zu leiden."

    Der Schriftsteller Hans Grimm gab dieser Panik einen Namen: "Volk ohne Raum" hatte er seinen 1926 erschienenen Roman über den Lebensweg eines kolonialbegeisterten deutschen Bauernsohns überschrieben. Der Inhalt: leichte Kost – doch der Titel wurde zum Schlagwort, das in der Weimarer Republik weit über antidemokratische Kreise Konjunktur machte. Ulrike Jureit verweist zu Recht auf den erstaunlichen breiten gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage. Die Nationalsozialisten seien ideologisch indes einen entscheidenden Schritt weiter gegangen und hätten schließlich einen deutschen Lebensraum propagiert, der im Sinne ihrer Rassenpolitik besiedelt werden sollte. Ihr Ziel: eine Bodenpolitik, die nach der Besetzung eines Raumes die Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung vorsah. Die konkrete Möglichkeit zur Umsetzung hat dann, so argumentiert Jureit - die Aufteilung und Besetzung Polens eröffnet:

    "Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 begann sich nicht nur der räumliche Horizont nationalsozialistischer Eroberungspolitiken zu konkretisieren, Lebensraum begann nun die Totalität eines Zerstörungs- und Neuordnungswillens zu kennzeichnen, der die eroberten Gebiete nicht mehr im kolonialen Sinne als leer phantasierte, sondern sie im Sinne völkisch-rassischer Auslese zu leeren und neu zu ordnen beabsichtigte."

    Der Einstieg in die nun einsetzenden gigantischen Siedlungsvorhaben war bekanntlich ein entscheidender Schritt zum Massenmord: Zunächst waren die sogenannten "volksdeutschen" Umsiedler betroffen. Dann wurden alle sogenannten "rassisch Unerwünschten" aus den Gebieten vertrieben, die für eine Neubesiedlung vorgesehenen waren. Sie wurden in Ghettos gesperrt und schließlich ermordet. Die Vorstellung vom spezifisch "deutschen Lebensraum" – sie stand jetzt für einen totalen Willen zur Zerstörung und Neuordnung unter rassischen Vorzeichen. Dass Ulrike Jureit die Genese dieses Begriffes akribisch nachgezeichnet hat, ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis nationalsozialistischer Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Darüber hinaus macht ihre Studie beeindruckend deutlich, wie lohnenswert die Beschäftigung mit der Kategorie "Raum" sein kann – ein wichtiges Beispiel für die Geschichtswissenschaft. Weitere Untersuchungen dürfen sich an dieser verdienstvollen Untersuchung orientieren.

    Ulrike Jureit: "Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert."
    Hamburger Edition, Hamburg 2012, 445 Seiten, 38 Euro
    ISBN: 978-3-868-54248-6