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"Im Stein" am Schauspiel Stuttgart
Rausch aus Bildfragmenten

Sebastian Hartmann hat am Schauspiel Stuttgart Clemens Meyers sprachmächtigen Prosatext "Im Stein" inszeniert. Es gelingt ihm, Meyers Ansatz verbildlichend zu übersetzen - allerdings nur im ersten Teil des Stückes, findet unsere Kritikerin.

Von Cornelie Ueding | 19.04.2015
    Abenteuer "Rotlicht-Milieu"? So wenig Clemens Meyer die Klischees und den Voyeurismus der Welt der Bordelle und des Nachtlebens bedient - so wenig tut es Sebastian Hartmann in seiner Stuttgarter Theateradaption des Romans "Im Stein". Stattdessen dreht sich auf der Bühne ein Kubus: Glatte, geschlossene Außenseiten, nur eine davon verglast, doch auch dahinter: nur Spiegel, kein Einblick. Der Spielraum liegt, wie in Alices Wunderland, hinter den Spiegeln, labyrinthisch, uneinsehbar - gäbe es da nicht die Projektionen des Live-Films auf die Oberfläche dieses Steins. Bunt, zerrissen, mit schnellen Wechseln und Überblendungen zeigen sich in Momentaufnahmen zweidimensionale Figuren in einem ausweglosen Leben.
    Die Räume haben einen mehrfach doppelten Boden - aber keinen Ausgang; bald öffnet sich unvermutet ein Spalt oder sie gehen gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit ineinander über, werden ineinandergeschoben oder, mal erfüllt von Lichtkaskaden, dann wieder von Schattenspielen, durcheinandergewirbelt - ganz so, wie die Figuren sie erleben. Denn dieser geschlossene Block ist auch ein gigantischer, von brodelndem Leben erfüllter Kopf. Und da ist alles möglich. Eben noch Tote leben weiter in der Fantasie der Menschen, in Erinnerungen und Träumen. Sind ganz plötzlich gegenwärtig - und bleiben dennoch ungreifbar, Schimären, Kopfgeburten. Die Dialoge (wenn man sie denn so nennen will), die uferlosen Selbstgespräche, mit denen einer vor sich hin oder auf andere einredet, das wenige, was die Menschen, von Einsamkeit, Drogen, Sex und Alkohol beherrscht, von sich preisgeben - all das mündet in einen Rausch aus Bildfragmenten: Fluchtreflexe aus der gerade erlebten Situation im Nachtklub, im Bordell; raus aus dem Leben, in das sie eingesperrt sind.
    Wortfetzen. Gedankensplitter. Bruchstücke. Teilansichten - meist auf vergangene, auf erinnerte, erträumte oder erhoffte Situationen bezogen. Auf Lotterbetten, in Sesseln, in düsteren Schluchten auf dem Boden kauernd, ausgestellt neben blinkenden Neonlichtern oder an Glaswände gepresst, belauert von einem düsteren Vogel-Menschen - immer sehen wir nur Teilansichten, zerstückelte Menschen in fragmentarischen Räumen. Ein Kopf, ein Mund, ein Rumpf. Wiederkehrende Motive, Anspielungen an Episoden, die sich ähnlich sind, ergeben ein zartes Gespinst der Orientierung, und einzelne Figuren gewinnen Profil: ein Bordellkönig, ein Vater der seine Tochter sucht, ein wichtigtuerischer Detektiv, ein angeturnter Moderator.
    Das Milieu als Brennspiegel
    Die Aufführung macht keine Identifikationsangebote und die Zuschauer bleiben beschränkt auf die Draufsicht auf diese Film-Figuren. Zuweilen ergibt das eine doppelte, sich sogar vervielfachende Perspektive auf Einzelne, die aus der Käfighaltung ins Leben drängen: immer dann, wenn eine Figur aus diesem Kasten auszubrechen versucht. Dann landet sie klein, sehr viel kleiner als in den riesenhaft vergrößerten Nahaufnahmen, in der Leere einer weiteren Kiste, der Bühnenschachtel. Auch hier verfolgt von einem Kamerateam, das gleichzeitig jede ihrer hilflosen Gesten verzerrt an die Öffentlichkeit bringt. Wir aber sehen sie für ein paar Augenblicke unverstellt.
    Dieses ebenso eigenwillige wie kluge Verfahren ist alles andere als eine Bebilderung von Clemens Meyers Roman. Eher ein verbildlichendes Übersetzen von Meyers Ansatz, das Milieu als Brennspiegel, als verdichtendes Medium für alle gegenwärtigen Brüche und Wunden der Gesellschaft zu sehen. Der Regisseur Sebastian Hartmann erfasst mit dieser kongenialen Transformation des sprachmächtigen Prosatextes ebenso die verflochtenen, verschwimmenden Zeitfolgen, wie das übergangslose Umschlagen von Erregungszuständen: von Zärtlichkeit in Gewalt. Umso bedauerlicher, dass es ihm nicht gelungen ist, die Qualität der ersten Stunde dieses szenischen Projekts für die Spieldauer von, die Pause mitgerechnet, vier Stunden durchzuhalten. Hat er, verführt von der suggestiven Sprachkraft des Romans, etwas mehr Vollständigkeit angestrebt und wollte möglichst viele seiner Assoziationen in diese Form übersetzen? Oder war zu wenig Zeit zum "Feilen"? Schon vor der Pause sind manche Einstellungen einfach zu lang, klingen die Textstücke zunehmend deklamatorisch. Der zweite Teil übertönt die Sprache dann streckenweise ganz und zerdehnt aufgelöste, flackernde Bilderfolgen ins Rauschhaft-Laute. Es tummeln sich bunt ausstaffierte Mickey-Maus-Figuren und Geishas – sodass am Ende sogar sein eigener Zugriff gefährdet ist.