Donnerstag, 25. April 2024

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Im Tal der Schatten. Frankfurter Poetikvorlesungen

Es ist noch nicht allzu lange her, da standen Literatur und Film in einem äußerst gespannten Verhältnis zueinander. Mit den technisch nicht nur reproduzierten, sondern auch noch bewegten Bildern trat der Welt der Bücher erstmals ein Medium entgegen, dass besser die Phantasie des unterhaltungssüchtigen Publikums zu bedienen wusste.

Michael Wetzel | 30.04.2003
    Und besser hieß damals, dass man das Erzählte auch zeigte, dass man die in den Bleiwüsten des Buchstäblichen gefangene Einbildungskraft des Lesers in die Paradiese der bildlich-plastischen Anschauung des scheinbar wirklichen Lebens entführte. In dieser Zerstreuung witterte man damals Gefahr nicht nur für den literarischen Fortgang, auch Psychologen, Pädagogen und Mediziner warnten vor den schädigenden Folgen des Kinos.

    Andererseits war das sprichwörtliche Hollywood, Ursprung der so genannten Kulturindustrie, aber auch lange Jahre Rettungsort für all die emigrierten Autoren und Künstler, die vor dem Faschismus fliehen 20 mussten, um dort neu Arbeitsmöglichkeiten in den Filmstudios zu finden.

    In Los Angeles hat Patrick Roth eine zweite Heimat gefunden. Er war im Winter 2001/2002 nach Frankfurt gekommen war, um im Rahmen der traditionellen Poetikvorlesung eine Reihe von fünf Vorträgen zu halten. Der 1953 in Freiburg geborene Autor ist seit den Siebzigerjahren unweit der Hügel von Hollywood zuhause, was nicht unwichtig ist zu wissen, wenn man die jetzt publizierten Vorlesungen verstehen will. Seine Reise Ins Tal der Schatten - so der Titel - ist auch eine Art road-movie , zumindest befindet man sich häufig auf diese Weise unterwegs und schaut mit dem vom Autor geführten Kamerablick durch die Windschutzscheibe auf irgendwelche Schauplätze downtown LA oder 5 links und rechts des Mulholland Drive .

    Zunächst einmal folgen die fünf Vorträge Patrick Roths der traditionellen Aufgabenstellung der Veranstaltungsreihe, die Schriftstellern Gelegenheit geben soll, öffentlich über ihr Werk oder genauer über ihre poetische Verfahrensweise nachzudenken. Auch Roth spricht über sein Schreiben, über das, was mit der "Suche nach dem Stoff" beginnt, die für ihn eine "Totensuche" ist.

    Das Tote, das, was der Dichter also im Tal der Schatten sucht, ist das tief in ihm Verborgene, Vergrabene, jene im Schatten des Bewusstseins liegende unbewusste Region der Psyche. Zu ihr will er herabsteigen, um das dort Gefundene emporzuführen. "Schreiben ist Totenerweckung. Im Leser, im Autor." So die kurze prägnante Formel, die Roth auf gut 170 Seiten in suggestiven Bildern ausführt. Suggestiv nicht zuletzt, weil sie vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Autors geschrieben sind, der nicht nur seit Jahrzehnten in unmittelbarer Nähe der amerikanischen Filmmetropole lebt, sondern der selbst auch in Film denkt, der in seiner Erlebnisweise von den Movies geprägt ist und sogar selbst als Regisseur arbeitet.

    Patrick Roth ist bescheiden und vorsichtig genug. Er hat bewusst vermieden, mit dem Versprechen einer Behandlung des Verhältnisses von Literatur und Film zu locken. Aber im Grunde genommen haben wir 25 es genau damit zu tun, und zwar in einer selten so gelungenen Form. Jede der fünf Vorlesungen präsentiert eine poetologische Figur, die von jener Arbeit am Verborgenen, Abgestorbenen zeugt. Jede Vorlesung steht zugleich im Zeichen einer filmischen Figur, die sich mit der poetologischen aufs engste verschlingt. Schon der Beginn spielt mit allen Mitteln filmischer Imagination, dem Timing , dem Suspense , mit dem etwa Hitchcock sein Publikum in Atem zu halten wusste. Es ist auch eine Anekdote Hitchcocks, die hier erzählt wird, eine Anekdote von einem blutverschmierten Mordopfer, die jener gern in Fahrstühlen zum Besten gab, um sich die letzten gestammelten Worte des Sterbenden für den Augenblick des Türenöffnens im Foyer aufzusparen, wenn alle Ohrenzeugen im Aufzug schwanken, ob sie ihren gewohnten Weg fortsetzen oder lieber die Geschichte zuende hören sollen. Roth übersetzt das Bild von der Fahrt nach unten sogleich in einen mythologischen Kontext. Und gerufen wird die mythische Figur, die vielleicht als Schutzpatron über alle Vorlesungen wenn nicht sogar über alle Dichtung wacht, nämlich Orpheus. Der Fahrstuhl zum Schaffott wird für ihn zum Königsweg der Suche nach dem Stoff, der für Roth nicht nur zu Eurydike, der Wild-Äugigen führt, sondern auch - in der anderen Tradition des Christentums - ins leere Grab.

    Zwei Urszenen also macht Patrick Roth für seine Verfahrensweise geltend: eine griechisch-mythologische und eine christologisch-biblische, womit er natürlich auch die beiden Motivquellen des klassischen Hollywood-Kinos benannt hat. Dessen Sehweisen aber auch Schauplätzen fühlt er sich durchgängig verpflichtet. Die zweite Vorlesungsstunde, die eigentlich der Erzählung "Die Toten" von James Joyce gewidmet ist, nimmt einen Umweg über die filmische Einstellung des Dissolve , der Überblendung, wobei Roth mehr auf der langsamen Enthüllung des anderen Bildes - der Vergangenheit, der Zukunft, je nach Sichtweise - beharrt. Und jene, in der dritten Vorlesung geschilderte Szene der in irgendeiner Villa auf dem Mulholland Drive geprobten Passage aus dem Matthäus-Evangelium wird so mehrdeutig, dass man sich unversehens in dem nach dem gleichen Ort benannten Film David Lynchs wiederzufinden glaubt.

    Diese Suggestionen, ohne eindeutig werden zu müssen, sind die große Stärke von Patrick Roth. Er muss nicht Lynch zitieren, um dennoch alle Bilder seines Films heraufzubeschwören: das Hinabsteigen in die Täler rund um Los Angeles, der ständige Wechsel der Identiät der Figuren, die sich vor einer langen Kette von mytholopgischen, typologischen, ikonographischen, motivischen und anderen Übertragungen abzeichnen. Auffällig ist, dass sich durch den ganzen Text zwei key words hindurchziehen, die Roth auch, wie um zu zeigen, dass er nicht in einer, sondern in zwei Sprachen lebt, auf englisch benennt: nämlich freeze frame und no fiction . Beim ersteren spürt man den Wunsch des Autors danach, die Bilderflut anzuhalten, sich das Gesehene einzuprägen, es zu wiederholen, um den Sinn der Bilder zu entziffern. Der Ruf nach einem Jenseits der Fiktion, der Einbildung des bloß Erzählten zeugt dagegen vom Umgang mit dem Stoff, um den es ihm geht. Man könnte Roth fast einen Romantiker nennen im Sinne etwa 20 des serapiontischen Prinzips von E.T.A. Hoffmann, bei dem der Dichter verpflichtet wird, nur das zu schreiben, was er wirklich in seinem Innersten geschaut hat.

    Auch Roth hat diesen Respekt vor dem Eigenleben des ersehenen Stoffs, der eine "Kernrealität" in den Tiefenschichten seiner Psyche ist. Beidesmal, beim Hinabsteigen des Orpheus und beim Grab Christi geht es ja um einen Glauben an das Gefundene, auch wenn es nicht mit banalen Augen gesehen wird. Roth will nicht nur hinabsteigen zum verborgenen Stoff, er weiß, dass es beim Schreiben auch darauf ankommt, ihn wieder emporzubringen ans Licht, ihn in eine sichtbare Gestalt zu übersetzen. Das nennt er 'aktive Imagination', die für ihn eine Verbindlichkeit des Schreibens ausmacht. Aber es ist auch eine s Geschichte, ein Movie , dessen Sinn sich im letzten Bild, im letzten Dissolve lichtet. Daher ist Schreiben für Roth immer auch ein "Vom-Ende-her-Sehen" aber hören wir ihn selbst:

    Deshalb: Vom Ende her sehen - das hilft bei der Suche. Es muss dem Leser, der die ausgearbeitete Geschichte dann liest, gar nicht mitgeteilt werden, dass alles vom Ende her gesehen wurde. Etwas davon teilt sich ihm ohnehin mit. Er wird sich wundern, warum alles Sehen im Erzählten etwas vom Letzten-Sehen oder Zum-letzten-Mal-Sehen hat, jene Abschieds- oder Ankunftsfarbe geringster Details oder Gesetn, die sich nicht weg erklären lässt.