Donnerstag, 25. April 2024

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Im Zeichen des Bernsteins

Anonym erschien 1931 André Bretons allegorisches Gedicht auf den weiblichen Körper "L’Union Libre", ein bizarres Spiel mit Symmetrien, eine systematische Unordnung, die Verknüpfung scheinbar unversöhnlicher Phänomene. Ein surrealistisches Spiel, das sich zugleich das metaphorische Potential der "Räume der Wunder" aneignet, wie sie seit dem 16. Jahrhundert die Kunst- und Wunderkammern und später dann die Kuriositätenkabinette inszeniert haben. Breton hat zeit seines Lebens gesammelt und Objekte aus aller Welt in seiner Wohnung an den Wänden, auf Tischen oder in Vitrinen einander gegenübergestellt. Vor kurzem wurde die Sammlung, die lange im Pariser Centre Pompidou ausgestellt war, vom ehrwürdigen Auktionshaus Drouot zur Versteigerung angeboten. Ein von Jacques Derrida angeführtes Breton-Komitee blockierte die Eingangstür, am Fortgang der Auktion änderte das jedoch nichts. Die Erlöse blieben hinter den Erwartungen zurück. Ein privates Exemplar Bretons von "L’Union Libre" wurde für 10.000 Euro verkauft. Auch wenn die große Sammlung nun in alle Winde zerstreut ist, konnte durch die Auktion doch eine ganz neue, mediale Form der Wunderkammer errichtet werden: sämtliche Gegenstände der Sammlung wurden digitalisiert und sind nun, anders als zuvor, dem interessierten Fachpublikum zugänglich.

Guido Graf | 26.11.2003
    Der Pariser Journalist Patrick Mauriès macht mit seinem Buch über die Geschichte des Kuriositätenkabinetts eine Weile vor der digitalen Welt halt. In den Jahrhunderten davor ist genug zusammengetragen worden und zu großen Teilen auch wieder verloren gegangen, über das sich berichten läßt, über dessen Sinn, den das Sammeln produzieren will, Mauriès hätte nachdenken können. Doch liegt der Wert seines Bandes eher im Bildmaterial, das im großen Format daherkommt, prächtig ausgestattet mit wundervollen Detailaufnahmen von Bernstein- oder Alabasterschränkchen, die ganze Universien en miniature beinhalten, Mineralien und Kameen, Arzneigläser, Messer, Scheren, je exotischer das Material desto besser. Die Reproduktion etlicher Stiche und Schnitte wirkt dagegen blaß und beliebig, oft auch nur als Hintergrundfolien unter den Text von Mauriés Text geblendet. Dabei ist jedes dieser Exponate geeignet, als Schwelle für Träume – und auch Alpträume zu dienen.

    "Trete leise auf, ihr tretet auf meine Träume!" ermahnte der Schriftsteller Horace Walpole, vierter Earl of Orford, die Besucher seines Schlosses Strawberry Hill in Twickenham bei London. Wie schon Ferdinand II. von Tirol, der in seinem Schloß Ambras bei Innsbruck im 16. Jahrhundert den Prototyp aller späteren Wunderkammern einrichtete, der alles Undenkbare von bizarren Musikinstrumenten bis zu ausgestopften Haien enthielt, wie Kaiser Rudolf II. und so viele andere, die Mauriès in seiner Revue auftreten läßt, trug auch Horace Walpole ein großes Arsenal an nutzlosen, wunderbaren, seltenen, in jedem Fall die Phantasie anregenden Dingen zusammen. Ein Arsenal der Träume, in dem Walpole das Mittelalter wieder erstehen lassen wollte, wofür er überdies Strawberry Hill 1747 zu einem der frühesten neugotischen Bauwerke umgestaltete. Jenseits aller Wissenschaft ging es darum, eine Aura zu erzeugen, eine imaginäre Welt zu entwerfen, in der die Natur einer künstlichen Ordnung folgt, die der Mensch bestimmt.

    Die Natur wird einer Innenwelt einverleibt, die erst, um sich überhaupt selbst erleben zu können, in kunstfertiger Stilisierung zum erlesenen Objekt werden muß. Daß diese Historisierung der Natur bereits im Horizont der Kunstkammern des 16.-18. Jahrhunderts lag, war eine der zentralen Thesen von Horst Bredekamps wegweisender Studie zur Geschichte der Kunstkammer, die Mauriès ebensowenig zu kennen scheint wie diverse andere einschlägige Publikationen. In Ansätzen kann Mauriès zeigen, welchen Einfluß die merkwürdige Tradition der Kunstkammern und Kuriositätenkabinette bis heute hat. Daß in ihren Schränken und Vitrinen der Geburtsort unserer Museen liegt, ist unmittelbar einsichtig. Doch gerade in den letzten Jahren zeigen neben den Ausstellungsmachern und Kunsthistorikern auch die Künstler immer mehr Interesse an der Möglichkeit, der Verwirrung über die Unübersichtlichkeit der Weltverhältnisse ein entsprechendes Abbild im Maßstab Eins zu Eins gegenüber zu stellen.

    Die labyrinthische oder chaotische Präsentationen von Kunst, das Gewirr der Ansichten und Meinungen, spiegeln aber auch die Hilflosigkeit in der Annäherung an das naturwissenschaftliche Weltbild, das die Diskurse beherrscht. Es ist wie mit dem Teufel im Kristall. Er schließt einen ganzen Kosmos in sich ein, eine Denkwelt über Gut und Böse. Das Geheimnis des Diabolischen, das sich der Menschen bemächtigt, ist hier wie eingefroren in einem gläsernen Sarg. Der "Diabolus in vitra" wurde im 17. Jahrhundert laut Überlieferung nach einer Teufelaustreibung in sein durchsichtiges Gefängnis gesperrt. Das Glasprisma mit schwarzen Figürchen war jahrhundertelang ein magisches Objekt, zu dem die Menschen ins Kaiserliche Museum nach Wien pilgerten. Heute wird das etwa sechseinhalb Zentimeter hohe, auf einem drei-mal-drei-Zentimeter-Grundriss stehende Glashaus mit dem Diabolus in Schloß Ambras bei Innsbruck aufbewahrt. Vor ein paar Jahren wurde es dann auf der Biennale in Venedig gezeigt, inmitten von Werken der zeitgenössischen Kunst wie etwa von Meret Oppenheim, Rebecca Horn, Marcel Broodthaers oder Mario Merz. Fremd nimmt sich das Teufelchen in dieser Gesellschaft nicht aus.

    Patrick Mauriès
    Das Kuriositätenkabinett
    DuMont, 256 S., EUR 72,-