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Immer gegen den Tod anschreiben

Beharrlich wächst und weitet sich das Werk der 1967 in Frankfurt am Main geborenen Autorin Katharina Hacker. Seit ihrem Debüt "Tel Aviv. Eine Stadterzählung" im Jahr 1997 kreist ihre so leise wie präzise Prosa in stets neuen Anläufen um Fragen der jüdisch-deutschen Geschichte und der Erinnerung. Nun also: "Eine Dorfgeschichte".

Eine Besprechung von Claudia Kramatschek | 25.01.2012
    "In dem Sommer, an den ich mich als ersten erinnere, flogen die Schwalben hoch, sie bauten ihre Nester unter unserem Dach; im Dorf gab es ein Gasthaus, in dem wir manchmal aßen, dann wurde es zugemacht, man musste ins Nachbardorf, um Eis zu kaufen. Das Sträßchen, das aus dem Dorf führte, war nicht asphaltiert und nicht begradigt, es schlängelte sich zum Wald."

    Das Dorf, das in Katharina Hackers neuem Buch den Schauplatz bildet, existiert tatsächlich. Noch heute verbringt Katharina Hacker dort ihre Sommer, inzwischen mit den eigenen Kindern. Es ist ein Dorf im Odenwald, mit Löschteich, Brunnen, Kirche in der Mitte. Ein typisches Dorf eben, und doch bleibt es in dieser Dorfgeschichte seltsam schemenhaft, denn diese handelt vielmehr von den Erinnerungsfragmenten der namenlos bleibenden Ich-Erzählerin an eine Kindheit in den 70er-Jahren im Odenwald. Die Frage, ob Katharina Hacker hier autobiografisches Material verarbeitet habe, verneint die Autorin jedoch:

    "Es ist tatsächlich erfunden, was ich in dem Buch erzähle. Und zwar fast ohne Ausnahme. Ich konnte ja unmöglich diese Menschen, mit denen ich den Sommer verbringe, schildern in dem Buch, ohne sie zu fragen. Deswegen habe ich die Familienkonstellation mir ausgedacht. Ich habe nicht zwei Brüder, meine Eltern leben und sind mitnichten gestorben; meine Großeltern kommen tatsächlich aus der Tschechoslowakei, das ist nicht erfunden – wobei meines Erachtens der Unterschied auch gar nicht relevant ist."

    Auf den ersten Anschein ist es eine idyllische Kindheit, die Hackers Ich-Erzählerin hier schildert. Einmal im Jahr verlässt die Familie – Mutter, Vater, die zwei Brüder und das heranwachsende Mädchen – die Wohnung in der Stadt und fährt aufs Land. Für die Kinder sind es Wochen seltener Freiheit: Sie stromern im Wald herum, bestaunen Schwalbennester, Blutegel und Schlingpflanzen; erkunden Trecker und Melkmaschinen auf dem Hof der Großeltern. Zurück bleibt ein körperliches Wissen, das noch Jahre später der erwachsenen Heimkehrerin als Medium der Erinnerung fungiert; eine in haptischen Sensationen gespeicherte Erinnerung, die Hacker in sinnlichen Bildern zum Leuchten bringt. Und doch überzieht ein dunkler unterschwelliger Schrecken diese Sommer voller Licht und Glück.

    "Angeblich hatten wir einen Onkel. Einen Großonkel, genauer gesagt, aber alle nannten ihn nur Onkel. Keiner von uns hatte ihn je gesehen, doch unsere Mutter und unsere Großeltern, sogar unser Vater, der gar nicht aus der Tschechoslowakei kam, bestand darauf, dass wir einen Onkel hatten. Wir suchten ihn im Gerümpel auf dem Dachboden, wo wir Ahnenpässe fanden, die unsere arischen Großeltern verlegen machten."

    Geheimnisse, Unausgesprochenes, Nicht-Mitgeteiltes füllt den Raum zwischen den Erwachsenen und den Kindern. Der Großvater empfängt Freunde, die von Flucht und Vertreibung reden; die Großmutter kann, seit sie auf der Flucht von einem Hund gerettet worden ist, keine Tiernamen mehr aussprechen. Die Erwachsenen haben also Grund zum Fürchten; die Kinder dagegen spielen nach, worüber die Erwachsenen nur in Andeutungen sprechen: Hungern und Flüchtlingszüge aus Osten. Die Geschichte mit dem großen H der Historie ist in dieser Dorfgeschichte somit allgegenwärtig – und wird doch in dieser Familie verdrängt. Sie wird verdrängt – und ist doch eingelagert als kollektives Wissen noch in die Körper der Kinder.

    "Es geht tatsächlich um die Frage der deutschen Geschichte und diese ja oft genug politisch leidig auftauchende Problematik: Wer hat wie viel gelitten? Was für eine Bedeutung hat das, was für eine Bedeutung hat überhaupt Leid?"

    "Hier, sagte meine Mutter und stellte heftig eine große braune Schüssel auf den Tisch. Das hast du geerbt. Wenn du sie bitte freundlichst nicht zerbrichst. Darin hat dein Urgroßvater Brotteig geknetet oder seine Frau, wahrscheinlich seine Frau oder ein Dienstbote. Ich betrachtete die Schüssel, ein grobes Ding, riesig im Durchmesser, mit zwei festen Griffen. Das da, fragte ich enttäuscht. Meine Mutter wandte sich ab."

    "Es gibt einen ganz klaren Vorgang, und den könnte man benennen. Der wird aber nicht benannt, weil das so mystifiziert wird, dass das Historische daran und das Politische daran irgendwie verschwindet. Und das beschäftigt mich immer noch. Auch, weil es ja diese Flüchtlingsgeschichten permanent gibt: Wer kommt woher, wer konnte was mitnehmen, was heißt es, nichts mitnehmen zu können, wo kommt man dann hin, wie lange ist die Geschichte noch etwas, was nicht nur mitgeteilt werden kann oder könnte, sondern auch etwas, mit dem man dann weiterhin politisch oder ganz material umzugehen hat?"

    Hacker verfugt die Bruchstücke dieser Kindheit daher nicht so sehr nach dem Muster der vergehenden Zeit. Es ist ein eher flächenartiges Erzählen, in dem die punktuelle Erinnerung an Dinge und Menschen das Zwischenreich vermisst zwischen den Toten und den Lebenden, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Da sind die Steine auf dem Acker des Großvaters. Nachts entdecken die Kinder dort erst ein Geisterlicht, dann unter den Steinen das Foto eines jungen Mannes. Da ist der dicke Jäger, der sich eines Tages im Wald aufhängt; der Korbflechter kommt blind aus dem Krieg zurück und stirbt, kurz nachdem er der Achtjährigen gezeigt hat, wie man die Orgel spielt.

    "Die Materialität bezeugt auf eine Weise noch Sachen, wenn sie in Vergessenheit geraten. Und andererseits vergeht die Materie halt auch und dann verschwinden die Sachen wieder und müssen auf eine andere Weise ins Gedächtnis gerufen werden, wenn man sie weiter erinnern will. Das Ganze ist auch ein Zusammenspiel von Materialität und Raum im Vergleich zur Zeit. Für mich ist die Zeit und die Kausalität eben die Kategorie, mit der ich nicht gut zurande komme. Ich schreibe je explizit gegen Kausalität. Und Kausalität ist ja ein bestimmter Modus von Chronologie, und Chronologie wird mir zu oft als Erklärung benutzt, also als Herleitung. Da geht so oft die Idee von Freiheit einfach verloren. Ich glaube. Menschen sind sehr frei und sie sind meines Erachtens auch deshalb frei, weil sie Geschichten auf unterschiedliche Weise erzählen können."

    Hackers Dorfgeschichte ist insofern auch eine literarische Reflexion darüber, wie Geschichte, wie Geschichten erzählt werden können. Wie schon in "Anton, Alix und die anderen" ist auch dieses Buch deshalb mehrstimmig angelegt. Hacker erzählt ihre Dorfgeschichte nämlich sowohl mit der Stimme des Kindes als auch mit der Stimme der erwachsenen Ich-Erzählerin, die nach Jahren der Abwesenheit in das Dorf zurückkehrt und aus den Augen der eigenen Kinder den unaufhaltsamen Wandel im Dorf verzeichnen muss.

    "Ich sagte Namen, die für die Kinder bedeutungslos waren, am Müllplatz vorbei, wo längst kein Müllplatz mehr war, am Spielplatz vorbei, wo kein Spielplatz mehr ist, zur Wildschweinfütterung hin, die Wildschweine werden aber nicht mehr gefüttert."

    Zugleich lesen wir quasi zwei Texte: Den einzelnen, übrigens kurzen Kapiteln, sind kleine, frei stehende Gedankensplitter vor- oder nachgestellt. Sie spiegeln sowohl inhaltlich als auch formal den Kontrast zwischen kindlicher Erinnerung und erwachsener Ernüchterung. So entsteht, bis in den Rhythmus der einzelnen Sätze hinein, ein reizvoller Wechsel zwischen sprachlichem Klang und plötzlichem Kommentar, zwischen melodischem Erzählfluss und verwundertem Innehalten. Die Sätze beginnen – und nehmen plötzlich eine andere Richtung. Sie sind kurz, aber nicht schlicht. Denn aufgrund ihrer präzisen Gestaltung fordern sie die ganze Aufmerksamkeit des Lesers. Ruhepunkt ist daher die bewusst luftige Gestaltung der einzelnen Seite.

    "Ich mag sehr, wie das Buch gestaltet ist, und habe sehr darum gebeten, dass es eben viel freien Raum bekommt, in den idealerweise man auch was rein schreiben kann oder reinzeichnen. Weil mir plötzlich klar wurde: Das ist eigentlich ein Buch, was einen Kommentar hervorrufen soll. Es ist ja tatsächlich so, dass ganz viele Leute als Kinder auf dem Dorf waren oder überhaupt vom Dorf kommen, und dass sie deswegen auf dieses Buch anders regieren, als ich das von anderen Büchern kenne. Also gar nicht im Sinne des wieder Erkennens, sondern im Sinne des selber Erzählens und weiterspinnen."

    Schließlich stiftet Erzählen auch Kontinuitäten, Korrespondenzen. Denn um die Frage von Kontinuität und Vergänglichkeit kreist Katharina Hackers Werk von Anfang an. Auch diese vermeintlich zart getupfte Dorfgeschichte reist mit schwerem Gepäck: dem Wissen um das Ungehörige des Todes, wenn der ältere Bruder noch vor den eigenen Eltern stirbt.

    "Die Tatsache, dass ich selber Kinder habe, ändert nichts daran, dass ich mit der Schreiberei wahrscheinlich doch auch immer gegen den Tod anschreibe – und ich schreibe gegen ihn an, indem er präsent ist. Also es gibt vielleicht zwei Weisen, diese Präsenz zu empfinden. Das eine ist Gegenwärtigkeit, und das hebt eher auf die Zeit ab, und das andere ist Anwesenheit. Und mich interessiert die Anwesenheit. Und bei Anwesenheit, da würde ich sagen: je mehr, desto besser! Also wenn es gewissermaßen die Fülle des Lebens gibt, dann ist die Fülle des Lebens Anwesenheit. Anwesenheit von Menschen, Anwesenheit von Dingen, Anwesenheit von Tieren, Anwesenheit von Empfindungen, auch von kummervollen Empfindungen. Und die Freiheit des Menschen ist, mit diesen Anwesenheiten leben zu können und davon nicht verschlungen zu werden. Weder physisch noch in der Seele. Dafür schreibe ich."

    Man sollte sich also nicht täuschen lassen von diesem kleinen schmalen Band. "Eine Dorfgeschichte" ist Literatur pur: hoch verdichtet, anspielungsreich und von eigenwilligem poetischen Reiz.

    Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. S. Fischer Verlage 2011. 126 Seiten, 17,95 Euro.