Montag, 18. März 2024

Archiv

Impulse Festival in NRW
Das Dilemma, wenn die freie Entscheidung zum Brexit führt

Das mittlerweile kuratierte Impulse Festival in NRW bleibt die wichtigste Plattform für die freie Theaterszene im deutschsprachigen Raum. Das diesjährige Motto "Decide or else" - "Entscheide oder stirb" - ist in Zeiten von Brexit und Trump politisch gemeint, fällt jedoch ein wenig beliebig aus.

Von Dorothea Marcus | 26.06.2017
    Besucher vor dem Logo des Impulse Theater Festivals 2017, aufgenommen am 22.6.2017
    Beim Impulse Festivals 2017 ist die Formenvielfalt so groß wie nie - Filme und Installationen stehen fast gleichberechtigt neben den Theaterstücken. (Impulse Theater Festival 2017 / © Robin Junicke)
    Wie ein Monsterfinger in ein Puppenhaus bohrt sich der Abrisshammer in das Glasfoyer des Stadttheaters Mönchengladbach. 2012 wurde es abgerissen, im Film "State Theater" haben die Filmemacher Daniel Kötter und Constanze Fischbeck den Abbruch aus nächster Nähe schweigend verfolgt. Die Staubwolken scheinen in die Nase zu kriechen, es schmerzt fast körperlich, dem unbarmherzigen Gang der Investitionslogik in Innenstädten zuzusehen - Theaterbauten in Detroit, Teheran, Beirut oder Lagos folgen.
    Ein spannendes filmisches Statement über den menschlichen, kulturfeindlichen Fortschrittsglauben hat Florian Malzacher an den Beginn gestellt. Eine ähnliche Geräuschkulisse entführt den mitteleuropäischen Kunstkonsumenten später in einen anderen Abgrund dieses Glaubens - allein im White Cube wird man mitten in eine Baumwollfabrik in Guangzhou gebeamt. Dort imitiert ein Arbeiter-Kind jeden meiner Schritte, bis wir uns gemeinsam in Echtzeit auf den Boden legen und über Tausende von Kilometern, über so viele Lebensunterschiede hinweg, die Hand reichen. "Guilty Landscape", "Schuldige Landschaft" hat der in Berlin lebende Niederländer Dries Verhoeven seine Videoinstallation genannt, die tief in die Eingeweide fährt - so hautnah hat man in zehn Minuten selten die Ungerechtigkeit der Welt gespürt.
    Das Böse und das Banale liegen so nah
    Der momentane Shooting-Star der Bildenden Kunst, Alexandra Pirici, setzt dagegen auf Distanzierung. Malzacher hat sie, die gerade auf der Biennale Venedig und dem Skulptur Projekt Münster weilte, mit der Arbeit "Delicate Instruments of Engagement" beauftragt. Fünf Performer stehen im White Cube der Kunsthalle Düsseldorf und stellen Momente der Geschichte nach, ob es nun Ceaușescu ist, der erschossen wird oder Bill Clinton, der sich für die Affäre mit Monica Lewinsky rechtfertigt: Das Böse und das Banale liegen so nah. Doch die Performer wirken verloren in ihrer repetitiven Vergänglichkeit. Die Bilder, die sie repräsentieren, sind nicht ikonografisch genug. Vielleicht liegt es auch an der schlechten Raumakustik, dass der Beitrag eher verpufft. Schade, er hätte eine spannende Diskussion um den momentanen Performance-Hype befeuern können.
    Fest steht aber: Die Formenvielfalt des Festivals ist in diesem Jahr so groß wie nie, Filme und Installationen stehen fast gleichberechtigt neben den Theaterstücken, die Florian Malzacher unter das Motto "Decide or else" gestellt hat, "Entscheide oder stirb".
    "Wir setzen uns mit dem Dilemma auseinander, wie wir das gesellschaftliche und politische Wesen entscheiden, im Augenblick sehr schwierig ist. Mehr mitbestimmen wollen: Sind alle vier Jahre genug oder nicht? Auf der anderen Seite sich Trump, Brexit etc. anschauen und denken: Vielleicht ist das mit dem Wählen gar nicht so eine gute Idee? Was für Wahlmöglichkeiten wollen wir eigentlich haben - aber auch nächsten Schritt: auch in der Kunst, auch in privaten Zusammenhängen, nicht nur in großen gesellschaftlichen."
    Heimatliebe versus Landflucht
    "Mein Name ist Sonja und mir geht es heute um Gertrud G, die als erste das Dorf verlassen hat … Es ist ein Rückzug vom Land geworden, viele sind gegangen. Wir beschäftigen uns mit Spuren, stellen Situationen nach. Landflucht ist ja kein Verbrechen - aber aus dem Rabtal wegzugehen schon."
    Großes steht so neben Kleinem, Privates neben Politischem. Charmant und rustikal stellen etwa die österrreichischen "Rabtaldirndl" mit Overhead-Projektoren und Karton-Dirndln die Frage nach, ob man in der Heimat bleiben oder gehen soll.
    Still und schön fügen die Newcomer " Vorschlag:Hammer" in "Die Erfindung der Gertrud Stock" fünf Biografien alter Frauen aneinander und untersuchen, aus welchen Entscheidungen sich ein Leben letztendlich zusammensetzt.
    Doch ein wenig beliebig ist das Motto "Decide or else" am Ende doch. Wenn überhaupt eine Tendenz des zeitgenössischen Theaters durch die diesjährige Auswahl erkennbar ist, dann vor allen Dingen, wie durchlässig die Grenzen zwischen Bildender Kunst und Theater, Nationalem und Internationalem, freiem und etabliertem Theater geworden sind. Trotz großer Inspirationen bleibt es fraglich, ob die Umwandlung in ein kuratiertes Festival den "Impulsen" guttut, die doch einst als Bestentreffen der freien Szene gegründet wurden. Was ist, wenn es nach dieser Ausgabe in weniger talentierte Kuratorenhände gerät als die des politisch so präzise denkenden Florian Malzacher?