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In 78 Umdrehungen um die Welt

Der Niederländer Ziya Ertekin alias DJ "Blue Flamingo" sammelt alte Schellackplatten aus den 20er-Jahren, die er weltweit sucht. Unter dem Namen "78rpm", also 78 Umdrehungen in der Minute, begeistert er mit seinen Kompilation- und DJ-Abenden zwischen R&B, Hot Jazz und Exotica eine wachsende Fangemeinde.

Von Cornelius Wüllenkemper | 11.12.2012
    "Ich ging damals auf die Kunsthochschule und hörte eigentlich nur Rock- und Punkmusik. Die erste Schellackplatte mit 78 Umdrehungen in der Minute habe ich hier in Rotterdam auf dem Flohmarkt gekauft, Duke Ellingtons 'The Mooch'. Als ich sie zu Hause aufgelegt habe, wusste ich: Das ist es!"

    Ziya Ertekin ist dem Geheimnis der 78 Umdrehungen in der Minute auf der Spur. Der 43-jährige DJ aus Rotterdam macht Jagd auf verschollene Schellackplatten aus den 1920er-Jahren, als die ersten Jazz-Stars wie Duke Ellington, Louis Armstrong und dessen Frau, die Pianistin Lil Armstrong, in verrauchten New Yorker Clubs mit ihrer Musik und mit leicht bekleideten Tänzerinnen von exotischen Ländern in Afrika und im Orient und vom Schicksal der farbigen Sklaven in der Welt erzählten.

    "Viele dieser Musiker, wie Duke Ellington, Louis Armstrong oder Fats Waller waren nie in ihrem Leben im Orient. O.K., Duke Ellington schon, aber erst weit nach den 20er-Jahren. Bei Exotica Musik geht es um Fantasie!"

    Um diese Fantasie in unsere Zeit zu holen, reist Ziya Ertekin, der früher einmal als Mode-Designer arbeitete, seit einigen Jahren um die Welt, auf der Suche nach den Original-Aufnahmen aus der Blütezeit des Swing, Blues und Hot Jazz, die im digitalen Zeitalter fast vergessen sind. In New Orleans suchte er nach den Ursprüngen der Jazz-Musik, in der Karibik traf er die letzten Musiker, die die Liedtraditionen aus Kolonialzeiten am Leben erhalten, auf Tobago stieß er auf einen ganzen Dachboden voller uralter Platten, und zuletzt war er drei Monate in Mali und Burkina Faso auf den Spuren einer fast vergessenen Musikgeschichte unterwegs.

    "Viele dieser Aufnahmen sind wie Geschichte, die auf Platten gepresst wurden. Viele der Farbigen in der Karibik und auch in Afrika konnten nicht lesen und konnten damals vor allem nicht öffentlich über politische oder gesellschaftliche Fragen sprechen. Also haben sie angefangen, darüber zu singen. In indirekter Weise erzählen uns diese Aufnahmen also viel über die Geschichte, nicht so, wie sie in den Büchern steht, sondern wie sie die ganz normalen Leute erlebt haben."

    Neben seinen Reisen und diversen Gigs, bei denen Ziya selbst zu Banjo und Gitarre greift, hat er bisher drei Kompilationen veröffentlicht. Jetzt kommt dieser Sound, mit dem Ziya als "Blue Flamingo" schon längst zu den großen Musikfestivals in Dänemark und Frankreich tourt, auch nach Deutschland. Unter dem Namen "78rpm", also 78 Umdrehungen in der Minute, zeigt Ziya uns die schönsten Perlen seiner Schellack-Forschungsmissionen in Sachen Oriental Nitty Gritty, Spanish Tinge und Ritmo and Blues.

    Ziyas Jagd nach alten Schellackplatten ist dabei mehr als reine Nostalgie, vielmehr geht es auch um ein Stück Kultur- und Industriegeschichte. Zugleich ist es die Rückbesinnung auf die Zeit, als jede neue Platte noch eine Rarität war und mit andächtiger Ehrfurcht wochenlang gespielt, nein geradezu zelebriert wurde. Und gerade seine jungen Fans scheinen sich für 100 Jahre alten Blues, R&B und Hot Jazz zu begeistern, aus denen erst später Blues Rock und Black Music entstand, die Grundlage heutiger Musikstile.

    "Nachdem die Leute über ein Jahrzehnt nur Computern zugehört haben, wollen sie wieder Menschen zuhören! Heute ist es so einfach, an Musik zu kommen, dass neue Songs innerhalb von Sekunden begeistern müssen, sonst zappt man sie einfach weiter. Wenn du dir dagegen die Sachen von Duke Ellington anhörst, dann fragst du dich: Wie, jetzt spielt der Pianist noch eine Runde Solo? Und dann merkst du: Natürlich spielt er sein Solo weiter! Es ist 1920, wir haben alle Zeit der Welt, wir haben Spaß, wir trinken Einen. Natürlich spielt der jetzt sein Solo!"