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In den Bann gezogen

1950 erschien in England ein dickleibiges Buch, der Reisebericht über eine Fahrt durch die Karibik. "Der Baum des Reisenden" von Patrick Leigh Fermor ist kein klassischer Reiseführer, politische und wirtschaftliche Fragen sparte er ebenfalls aus. Gelassen und mit sprödem Charme verwebt der Autor seine vielfältigen Eindrücke zu einem bunten Teppich.

Von Sabine Peters | 14.03.2010
    1950 erschien in England ein dickleibiges Buch, der Reisebericht über eine Fahrt durch die Karibik. Sein Autor: Patrick Leigh Fermor, der im Zweiten Weltkrieg als britischer Agent auf Kreta den Widerstand mitorganisierte und zum Helden wurde, als er dort den deutschen General Kreipe gefangennahm.

    Fermor, Jahrgang 1915, war von Jugend an nicht gerade ein Nesthocker. Man darf ihn getrost zu den Nestflüchtern zählen: Schon als Schüler flog er aus diversen britischen Bildungseinrichtungen heraus. Im zarten Alter von 18 Jahren beschloss er, sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen, und brach 1932 zu einem vier Jahre lang dauernden Fußmarsch von Rotterdam nach Konstantinopel auf.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt es Fermor nicht lange in Europa. Mit seiner späteren Ehefrau und einem griechischen Freund trat er eine Fahrt durch die Karibik an. Im anglo-amerikanischen Raum zählt er längst zu den beliebtesten Reiseschriftstellern; er war ein Vorbild für Autoren wie Bruce Chatwin und Paul Theroux und wurde gelegentlich als ein "Herodot des 20. Jahrhunderts" gerühmt.

    "Der Baum des Reisenden" heißt Fermors jetzt erstmals im deutschsprachigen Raum erschienenes Buch über die Karibik. Dieser "Baum des Reisenden", der auf den Antillen oft zu finden ist, wird bis zu zehn Meter hoch, als Krone trägt er eine Reihe langstieliger Blätter, die an ihrer Basis eine Art Tasche tragen. Darin sammelt sich so viel Wasser, dass ein Wanderer seinen Durst stillen kann. Ursprünglich stammt der Baum nicht von dort – aber was ist überhaupt "einheimisch" auf den Inseln über dem Wind, was ist ein "Original" im Raum der "westindischen Inseln"?

    Der in die Irre führende Name geht bekanntermaßen auf den Abenteurer Kolumbus zurück, der für das spanische Königreich den Seeweg nach Indien suchte. Die von ihm angesteuerten Inseln sind geologisch betrachtet der Rest eines alten Gebirges, das seine heutige Gestalt im Tertiär durch Faltungen, Hebungen und Einbrüche erhielt; immer waren sie von vulkanischen Ausbrüchen betroffen. Kolumbus, nicht ahnend, sozusagen erst einen Zwischenstopp in der Gegend vor Mittelamerika zu machen, bezeichnete die Inseln - philosophisch gesehen akzeptabel, wenn auch geografisch äußerst großzügig in Hinsicht auf die tatsächliche Distanz zu Indien - als "westindisch".

    Wer "gehört" ursprünglich in ein Land, auf einen Kontinent, wer darf sich mit Fug und Recht einen "Einheimischen" oder gar einen "Ureinwohner" nennen? Patrick Fermor fasst die großen Linien der Besiedlung der Antillen zusammen:

    "Die ersten nachweisbaren Bewohner der Antillen waren die ursprünglich aus Venezuela und Guayana stammenden Arawak oder Aruak-Indianer, die irgendwann in grauer Vorzeit mit ihren Kanus nach Norden fuhren und sich auf jeder Insel, die sie erreichten, niederließen, um schließlich die gesamte Inselgirlande von Trinidad bis nach Kuba zu besiedeln. Sie waren offenbar sesshafte, friedfertige Menschen. Doch lange bevor die Spanier in ihr ruhiges Leben einbrachen, sahen sich die Arawaken bedroht von einer Horde von Neuankömmlingen. Auch hier sind keine Daten bekannt, doch die Ergebnisse von Sprachforschungen lassen darauf schließen, dass die Wiege der Kariben in Brasilien stand, irgendwo im Amazonasgebiet. Vielleicht sind sie von der Mündung des Orinoko aus aufgebrochen. Von Trinidad lenkten sie ihre Kriegskanus weiter gen Norden, auf genau der gleichen Route wie einst die Arawaken. Sie machten kurzen Prozess mit ihren friedfertigen Vorläufern. Die Männer wurden massakriert und gelegentlich auch verspeist, die Frauen geheiratet; einige ließen sich dauerhaft nieder, andere zogen rasch weiter und aßen und heirateten sich so durch den Inselbogen. Als die Spanier 1493 die karibischen Inseln erreichten, ankerte Kolumbus vor jeder von ihnen, auf einigen ging er an Land und nahm sie symbolisch im Namen seines Königs in Besitz. Fast überall traf er auf erbitterten Widerstand. Die Eindringlinge segelten wieder davon, und auf dem Papier wurde aus Hewanorra St. Lucia, aus Madanino Martinica und so weiter. Dann geschah hundert Jahre lang nichts."

    Diese mehr oder weniger selige Zeit des "Nichts" – die große Geschichte findet anderswo statt, der kleine Mann und die kleine Frau gehen vor Ort ihrem Alltag nach – wird von der bekannten Entwicklung abgelöst: Spanische, dann vor allem englische und französische, im Vergleich zu den Indianern technisch hochgerüstete europäische "Entdecker", werden zu Eroberern und Zerstörern. Sie rotten die indianische Bevölkerung größtenteils aus, und um Arbeitskräfte für die entstehenden Plantagen heranzuschaffen, führen sie die Sklaverei in großem Stile ein.

    Fortan schuften Generationen von Schwarzen auf Zuckerrohr – und Kakaoplantagen und begründen den Reichtum der weißen Siedler. Diese allgemeine Entwicklung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede der Inseln, die Fermor besucht, individuell geprägt von der je eigenen Kolonialzeit ist, von der jeweiligen Dauer der Sklaverei, außerdem von ganz unterschiedlichen Religionen, und von einem jeweils spezifischen Bevölkerungsgemisch.

    "Der Baum des Reisenden" ist nicht als Reiseführer angelegt, und Fermor sagt im Vorwort seines Buchs ausdrücklich, er habe politische und wirtschaftliche Fragen ausgespart. Sein Bericht über eine mehrmonatige Reise wolle seinen Lesern schlicht und einfach Freude machen. Weil das einzige Gemeinsame der Inseln ihre jeweilige Vielfalt ist, geht Fermor chronologisch vor, er schildert die Etappen seiner Reise, die auf Guadeloupe beginnt und auf Jamaika endet. Die einzelnen Kapitel tragen daher die Namen der besuchten Inseln, und wenn ein Kapitel auszuufern droht, setzt der Autor höchst unbefangen neu an mit Überschriften wie "Mehr über Haiti" und "Weiteres über Haiti". Ein dreistes beziehungsweise entwaffnendes Vorgehen, und es entspricht in seiner Form Fermors eigenen Verhaltensweise.

    Der große Spötter Tucholsky schlug in seiner "Kunst, falsch zu reisen" ironisch vor: "Durcheile die fremden Städte und Dörfer – wenn dir die Zunge nicht heraushängt, hast du falsch disponiert". Das ist nun gerade nicht Fermors Sache. Er und seine Gefährten begeben sich bei kaltem Regen geruhsam ins warme Meer, sie lassen sich auch an Land gern treiben und sind im besten Sinne erwartungslos. Sie trudeln durch die Welt der Antillen, wobei der Autodidakt Fermor immer wieder Bibliotheken vor Ort aufsucht, um sich über geologische, biologische, historische und kulturelle Gegebenheiten zu informieren und sein Wissen auf unangestrengte, elegante Art auszubreiten.

    Sein Faible für das Unvermutete, Skurile ist deutlich spürbar – oder soll man sagen, für diesen Reiseschriftsteller ist ohnehin die ganze Welt eine andauernde Überraschung? Anfangs macht Fermor das ungewohnte Klima und die drückende Hitze der Tropen besonders schwer zu schaffen: Wir gehen, so heißt es einmal, als drei glühende Feuersäulen dahin. Zur Erholung begibt man sich in ein Museum, das zu Ehren des Politikers Schoelcher errichtet wurde, der 1848 in Frankreich maßgeblich an der Abschaffung der Sklaverei mitbeteiligt war. Ausgestellt ist im Museum – nichts. Doch, sie finden einen Gipsabdruck der Venus von Milo, zwei Schildkrötenpanzer und den verblassten Stich eines Mangobaums. Mildes Erstaunen erfasst Fermor auch bei seiner Lektüre der Reisenotizen von Charles de Rochefort, der 1658 detailliert von den kulinarischen Vorlieben der menschenfressenden Kariben schrieb: Franzosen galten als besonders schmackhaft, Holländer schmeckten fade und die Spanier mit ihren vielen Sehnen und Knorpeln seien praktisch ungenießbar. Fermor scheint befriedigt, dass seine englischen Landsleute, was ihre Bekömmlichkeit angeht, schon an zweiter Stelle kamen. Er verleugnet seine patriotischen Gefühle ohnehin nicht. Auf der langjährigen britischen Kolonie Dominica bewundert er eine Bedienstete in ihrer Tracht aus der viktorianischen Zeit; er ist ersichtlich angetan von einer Welt aus Bienenwachs, gestärktem Linnen und makellosen Rasenflächen. Auf Barbados lobt er die anheimelnd klingenden englischen Namen, bedauert aber die Verkommenheit der Weißen. Ihre Vorfahren waren deportierte Schotten, Iren und Engländer, die sich nach dem Abbüßen ihrer Strafe dort niederließen, arme Teufel alle miteinander, die es auch nach Generationen zu nichts gebracht haben, bedauert Fermor.

    Unvermeidlich sagt auch dieser Bericht einiges über die Verankerung des Reisenden selbst. Aber natürlich bleibt es nicht bei patriotischen Reminiszenzen, die ohnehin mit sanfter Selbstironie vorgetragen werden – denn schließlich werden er und seine Gefährten in der Karibik mit einer Bevölkerung konfrontiert, wie sie bunt gemischter kaum sein kann. Mit der Vertreibung der Juden aus Spanien zogen viele von ihnen auch in die Karibik; Fermor begegnet daneben Christen aller Couleur, Muslimen, Hindus und Anhängern diverser afrikanischer Naturreligionen. Er trifft auf Syrer, Inder, Chinesen, Franzosen, und mit Freude beschreibt er all diese ganz unterschiedlich gewandeten und geschmückten Zeitgenossen, ob es nun ein würdiger Anwalt in Talar und gepuderter Perücke ist oder ein junges Mädchen, deren zahlreiche kompliziert angeordnete Turbanzipfel für Eingeweihte als amouröse Zeichensprache lesbar sind.

    Bunt zusammengesetzt wie die Bevölkerung ist auch das Sprachgemisch; einmal hört Fermor etwas, was er zunächst für Kreolisch, dann für Pidgin-Englisch hält. Es ist aber das legendäre Papiamento, eine Verbindung aus Spanisch, Portugiesisch, Niederländisch, Französisch, Englisch und diversen afrikanischen Dialekten. Das also ist die Karibik während der 50er-Jahre, scheinbar fernab der "großen" Geschichte und der "großen" Kulturen.

    Spätestens hier drängt sich die Frage auf, wann die sogenannte Globalisierung eigentlich einsetzte. Die Erfahrung einer weltweiten Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Kultur und Kommunikation wurde schon von dem Philosophen Karl Jaspers reflektiert; in seiner Kulturkritik "Die geistige Situation der Zeit" von 1932 schrieb er von "planetarischen" Fragen, die sich der gesamten Erdbevölkerung stellten. Setzte die Globalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg ein, also zu der Zeit, als Fermor seine Reise unternahm? Ist sie gebunden an den technischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts, an die Revolutionen in den Kommunikations- und Transporttechniken? Oder soll man früher ansetzen, mit dem 15. Jahrhundert, also mit der europäischen Expansion? Oder ist "Globalisierung" letztlich so alt wie die Menschheit selbst; beginnt sie also mit den ersten wandernden und bootsfahrenden Clans und Stämmen von woher auch immer?

    Ohne dass sich Fermor dazu explizit äußert, wird für heutige Leser seines Buches klar: Im Blick auf historische Prozesse wirkt es etwas gegenwartszentriert, das Phänomen der Globalisierung ausschließlich auf die Moderne zu beziehen. Das heißt natürlich nicht, gegenwärtige Phänomene aus dem Blick zu verlieren. Dem reisenden Fermor ist schon Einiges ein Dorn im Auge: And auch wenn ihm viele Kennzeichen des britischen Empire zunehmend scheinheilig und gespenstisch erscheinen, auch wenn er die kraftvolle, von den USA beeinflusste Schlichtheit und Lässigkeit auf Trinidad als wohltuend empfindet – Kaugummi und Coca Cola werden in harten Worten gegeißelt. Der Autor vermeidet es zwar, Erlebtes theoretisch zu überhöhen, er will keine Weltanschauung vermitteln, aber dann erfährt man eben doch, dass ihm der allgemeine "romantischer Verfall" auf Haiti angenehmer ins Auge fällt als ein einzelner Drugstore, der "wie eine Eiterblase" auftaucht.

    Fermor bewundert die naiven Malereien haitianischer Maler, die noch nicht von der europäischen Tradition und ihren Verfahren, etwa der Linearperspektive geprägt worden seien. Gleichzeitig befürchtet er, die Künstler in der Karibik könnten aufgrund ihrer "Anpassungsfähigkeit" langfristig beeinflusst werden. Etwas pathetisch fragt er, wie man die Einheimischen davor bewahren könne, vom "Baum der Erkenntnis" zu essen. Bei solchen, allerdings selten auftauchenden Bemerkungen hat es den Anschein, als wolle er seinen eigenen Augen nicht trauen – denn er sieht und hört doch allenthalben, wie sich die Kulturen vermischen beziehungsweise welche Dominanz von der europäisch-amerikanischen ausgeht.

    Der Autor reflektiert nicht, dass nicht nur Eroberer und Besiedler, sondern dass auch die Reisenden bereits durch ihre Anwesenheit einen Einfluss ausüben – dieses ethnologische kleine Einmaleins scheint an ihm vorbeizugehen. Das richtet allerdings keinen großen Schaden an, denn sein Buch hat andere Qualitäten.

    Über weite Strecken des Berichtes nimmt Fermor die Position eines vergleichsweise neutralen Beobachters ein. Im positiven Sinne bedeutet das: Selten nur wird eine Hierarchie der Werte aufgestellt. Die Fremde, das Andere dient ihm nicht lediglich dazu, die Überlegenheit des Eigenen zu demonstrieren. Fermor vermeidet das oft entnervende Klischee: Hier der gewitzte kultivierte Europäer, da der plumpe Einheimische, ebenso wie dessen Gegenteil: Hier der gute Wilde, da der arrogante Weiße. Man muss allerdings auch sagen: Verglichen mit aktuelleren Reiseberichten, zu denen immer auch die skeptische Betrachtung des Befangenseins im eigenen System gehört, gibt sich Fermor äußerst unbefangen, und man glaubt ihm das nicht immer: Sein bemüht neutraler, "objektiver" Blick sagt wenig darüber, ob das Reisen für ihn zu einer subjektiven Erfahrung wird, die in der Konfrontation mit dem Fremden auch das "Eigene" infrage stellt. Der Eindruck von Eleganz, den viele Leser der Werke von Fermor hervorheben, rührt auch aus der Distanziertheit des Autors. Widrigkeiten auf der Reise werden, wenn sie überhaupt gestreift werden, in leichtem, nonchalanten Ton geschildert. Mit leichtem Amüsement betrachtet er seine Zeitgenossen, darunter auch einen unangenehmen Europäer.

    "Ein seltsames kleines Männchen lehnte sich vor und sagte: 'Und wie kommen Sie mit diesen Tieren zurecht, Sir? Nein, Sir, nicht die Moskitos und die Lanzenottern. Ich meine die Schwarzen.' Er war ein Bauingenieur aus Lyon, der schon seit vielen Jahren auf Martinique Dienst tat. Es war kaum zu glauben, wie viel Wut und Empörung in diesem kleinen Körper steckten. Er spuckte Gift und Galle, eine einzige große Hetztirade gegen die Neger – nicht nur faul und dumm und unanständig seien sie, sondern dazu lächerlich und hässlich, und sie stänken. Jedes dieser Worte war begleitet von einem Schlag seiner kleinen Faust. 'Wie können Sie dermaßen ruhig', schrie er, 'über diese verfluchten, diese unverschämten Bäume reden? 'Mögen Sie Brotfruchtbäume nicht?' Nicht viel, und der Schlag hätte ihn gerührt. 'Wenn es nach mir ginge, würde ich sie allesamt fällen. Es sind doch die verfluchten Brotfrüchte, von denen die Schwarzen leben, ohne zu arbeiten. Sie schlagen sich die Bäuche voll und müssen keine Hand mehr rühren, und dann haben sie natürlich keine Lust mehr zu arbeiten. Deswegen bekommen wir sie nicht in den Griff.' Er hielt zwei Hände in die Höhe, die Finger krumm wie Klauen, durch die ihm die ganze Negerwelt entglitt. "Und wessen Schuld ist das? Ihre, Sir!... Nicht Ihre persönlich, aber Ihr Bligg war es.' Bligg? Es brauchte eine Weile, bis er uns begreiflich gemacht hatte, dass der Schurke, der hinter dieser ganzen Katastrophe steckte, niemand anderes war als der Kapitän der Bounty, Käptn Bligg, der die ersten Brotfruchtbäume aus Ostindien mitgebracht und in der Karibik heimisch gemacht hatte."

    Rassisten, das sind immer die anderen. Dieses Phänomen zeigt sich mitunter auch bei Fermor. Zwar beklagt er die Sklaverei und ihre Folgen, die bis in seine Zeit hineinreichen; er bewundert schwarze Freiheitskämpfer und macht sich Gedanken über das Verhältnis von Rassen- und Klassenkonflikten. Das hindert ihn allerdings nicht daran, eine alte Schwarze seinerseits in gönnerhaft-arroganten Kolonialherrentonfall darzustellen. Und er vermutet: Die Kunst, Sklaverei mit geistiger Reife und einem hohen Stand von Kultur zu verbinden, sei wohl mit den antiken Griechen und Römern untergegangen. Soll man solch eine historisch unhaltbare, ideologiedurchtränkte Behauptung einfach überlesen und sich damit begnügen, festzustellen, der Autor sei eben ein typisches "Kind seiner Zeit"? Warum soll man diesen über 50 Jahre alten Reisebericht überhaupt lesen, zumal die rasanten Entwicklungen, ja auch an der Karibik, nicht spurlos vorübergegangen sind?

    "Der Baum des Reisenden" ist nicht nur ein Reisedokument; das Buch ist Literatur in emphatischem Sinn. Der Begriff der Reiseliteratur wird im deutschsprachigen Raum leider immer noch etwas abwertend gebraucht. Mag sein, dass sie als Mischform hierzulande verdächtig ist – Abenteuer- und Bildungsroman, Reportage, Autobiografie und Lügendichtung gehen oft bruchlos ineinander über. Das Vorurteil dem Genre gegenüber ist allerdings reichlich ignorant, denn der homo sapiens gehört schließlich zu den wurzellosen Lebewesen: Pilger, Eroberer, Flüchtlinge, Händler und Forscher erzählen seit Menschengedenken vom Erlebten; das Fernweh ist eines der großen literarischen Topoi, angefangen mit der Odyssee.

    Fermor zählt zu den begnadeten Stilisten seiner Zeit. Die unselige Trennung von "Arbeit" und "Vergnügen", die sich auch im Lese- wie im Schreibverhalten niederschlägt, ist bei ihm hinfällig, sie ist aufgehoben: Fermor macht sich die vergnügliche Arbeit, einen Baum, ein Kleidungsstück, eine Architektur nicht einfach "schön" oder "imponierend" zu nennen, sondern er fasst sie in Worte und Begriffe, die dem Leser eine sinnliche Vorstellung vermitteln. So vergleicht er den Inselbogen mit den Wirbeln eines Rückgrats; oder er zeichnet mit wenigen Strichen das Porträt des 1693 nach Martinique gegangenen Missionars Père Labat: Ein gebildeter und streitlustiger Schlemmer, der mit Freibeutern dinierte, leidenschaftlich gern Wildschweine jagte und häufig Ärger mit seinen kirchlichen Vorgesetzten hatte – man darf annehmen, Fermor konnte sich mit dem so sympathisch Porträtierten identifizieren. Seine detailgenauen und äußerst plastischen Darstellungen werden mitunter geradezu Evokationen, zu Anrufungen des Erlebten und gewinnen eine poetische Intensität. Sein Text changiert zwischen Reportage, einer höchst eigenständig kommentierten Lektüre historischer Dokumente, Anekdotensammlung, Erlebnisbericht und Essay.

    Die Passagen, in denen Fermour seine Teilnahme an Voodoo-Zeremonien beschreibt, lassen einen ins Schwindeln geraten, und der Autor gibt auch zu, dass er in deren Bann gerät. Aber dann fasst er sich wieder und stellte seine eigenständigen, wundersam assoziationsreichen und dichterischen Reflexionen über das Gesehene an:

    "Neue Religionen durchlaufen zu Beginn eine Phase, in der sie wie ein Laubenvogel Elemente benachbarter Religionen unbekümmert mit dem halbfertigen Nest verweben. Wenn das Gebäude fertig ist, erstarren Dogma und Kanon zur Orthodoxie. Nach dieser theologischen Sperrstunde wird jeder, der verspätete Nachzügler willkommen heißt, als Ketzer abgestempelt. Diese Stunde ist für die Voodoo-Religion noch nicht gekommen.

    Da der Voodoo-Kult keinerlei Dogma kennt, ist er erstaunlich anpassungsfähig. Er hat ein riesiges Inventar an Mythen und über lange Zeit herausgebildeten Ritualen, aber da die urtümlichen spirituellen Bedürfnisse der Neger sich überwiegend an Magie und Talismanen orientieren, gab es keine Probleme bei der Übernahme zahlreicher christlicher Vorstellungen. ....Der Voodookult lebt davon, dass er praktiziert wird....– er existiert um seiner selbst willen. Die Ideen, für die er steht – die Erinnerungen an Afrika; das Bündnis gegen eine grausame, feindliche Welt; Überleben; das faszinierende Wunder der Besessenheit, das Geheimnisvolle, die Wärme, die Trommeln und Tänze – all das ist Teil der Religion.

    Es gibt keine Theorie, kein geschriebenes Wort, keinen Überbau. Anfangs konnte ich nicht begreifen, dass es keine Regeln gab. Es war, als widme man sich beim Studium des Christentums nach der Betrachtung der Genealogie Christi der Frage, wozu eine Bischhofsmütze gut ist. Denn im Voodoo gibt es nichts dazwischen. Der Voodoo ist für die Masse der haitianischen Bevölkerung weit mehr als eine Philosophie. Er ist ihnen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Luft, die sie atmen, das gesamte Universum."

    Gelassen und mit sprödem Charme verwebt der Autor seine vielfältigen Eindrücke zu einem bunten Teppich. Der Romantiker, der Spötter und dabei sehr britische Patrick Leigh Fermor beschenkt seine Leser mit der ihm eigenen genießerischen Haltung. Vielleicht hat er Tucholsky nie gelesen, und doch folgt er dessen Ratschlag für die Kunst, richtig zu reisen: "Lass das Steuer los. Trudele durch die Welt. Sie ist so schön: Gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben."

    Patrick Leigh Fermor: "Der Baum des Reisenden. Eine Fahrt durch die Karibik." Aus dem Englischen von Manfred und Gabriele Kempf-Allié. Dörlemann-Verlag, 640 Seiten, 33.-