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In der Schattenwelt der Töne

Es ist eine geschichtsträchtige Gattung: 1760 erfand Joseph Haydn das Streichquartett. Heute spielen zahlreiche Komponisten mehr denn je mit der Vierer-Formation und reihen sich mit ihren Kompositionen und Stücken in eine lange Tradition ein. Drei Beispiele von zeitgenössischen Quartettschaffen spiegeln diese Auseinandersetzung wieder.

Von Egbert Hiller | 16.06.2013
    "Salvatore Sciarrino, Sei quartetti brevi, Nr. III"
    Quartetto Prometeo

    Die Nummer 3 aus den "Sei quartetti brevi", den "sechs kurzen Quartetten", von Salvatore Sciarrino in der hoch konzentrierten und klangsensiblen Einspielung des Quartetto Prometeo. Die seit 1993 existierende Formation ist dem italienischen Komponisten eng verbunden. Die Grundpfeiler von Sciarrinos Schaffen sind latente Expressivität und verfremdete Instrumentalklänge, aus denen er düstere, jenseitige Klangbilder, ja, eine "Schattenwelt der Töne" konstituiert. Gängige stilistische Merkmale lässt er dabei weitgehend hinter sich – auch auf dem Feld des Streichquartetts zieht sich Sciarrino in seinen ganz eigenen Klangkosmos zurück. Der hohen Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, tut das freilich keinen Abbruch, im Gegenteil. Sciarrino zählt mittlerweile zu den renommiertesten Komponisten der Gegenwart.
    Seine "Sei quartetti brevi" entstanden zwischen 1967 und 1992; sie bilden einen sechsgliedrigen Zyklus aus weitgehend voneinander unabhängigen Miniaturen. Neben den "Sei quartetti brevi" schrieb Sciarrino auch neun durchnummerierte Streichquartette. Die CD enthält noch das Siebte von 1999 und das Achte von 2008. Auch in diesen Werken zielte er zum einen auf seelische Tiefendimensionen, und zum anderen entfachte er subtile Spiele mit Licht und Schatten, wie sie sich ihm, wie er selbst hervorhebt, in den arkadischen Landschaften Italiens offenbaren. Hier der Beginn des siebten Quartetts, kongenial interpretiert vom Quartetto Prometeo.

    "Salvatore Sciarrino, Quartetto Nr. 7"
    Quartetto Prometeo

    Die intensive Hinwendung zeitgenössischer Tonkünstler zum Streichquartett spiegelt sich auch auf Interpretenseite wider. Viele neue Quartette haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten formiert, und sie widmen sich nicht nur dem etablierten Repertoire von Klassik, Romantik und früher "Moderne", sondern auch neuen und neuesten Werken für die altehrwürdige Gattung. 1998 gründete sich in Warschau das Royal String Quartet, das seine Ausbildung in Deutschland abschloss – von 2001 bis 2004 beim Alban Berg Quartett in Köln. Es kann bereits auf eine beachtliche Diskografie zurückblicken, die es nun mit Einspielungen von Quartetten herausragender polnischer Komponisten erweiterte.

    "Krzysztof Penderecki, Streichquartett Nr. 1"
    Royal String Quartet

    Mit Präzision und Emphase bringt das Royal String Quartet die schrillen Klanggefilde in Krzysztof Pendereckis Streichquartett Nr. 1 zur Geltung. Nicht zuletzt mit diesem 1960 komponierten Stück begründete Penderecki seinen Ruf als Neutöner, der so radikal wie möglich mit der Tradition brechen wollte. Charakterisiert wurde der Stil des Quartetts als "Sonorismus". Statt Melodien, Harmonien oder regulären Metren legte Penderecki geräuschartiges Klangmaterial zugrunde, das er, zeitlich fixiert, in Reihen anordnete.
    Wesentlich gemäßigter mutet demgegenüber sein aus dem Jahre 2008 stammendes drittes Streichquartett an. Es trägt den vielsagenden, auf biografische Belange verweisenden Untertitel "Blätter eines ungeschriebenen Tagebuchs", und es entführt in konfliktreiche Sphären zwischen romantisch-melancholischen Anflügen und pochenden Aufwallungen. Auch diesem Werk verhilft das Royal String Quartet zu voller Wirkung.

    "Krzysztof Penderecki, Streichquartett Nr. 3"
    Royal String Quartet

    Das Schlussstück auf der neuesten CD des Royal String Quartet ist das einzige Streichquartett von Witold Lutoslawski, entstanden 1964. Lutoslawski, der 1994 starb, war neben Penderecki der wohl einflussreichste polnische Komponist des 20. Jahrhunderts. Im Laufe seines langen Lebens unterzog er sein Schaffen mehrfach tief greifenden stilistischen Wandlungsprozessen: von der Orientierung am Neoklassizismus über strenge Konstruktion bis zu einer von John Cage angeregten verfeinerten "Aleatorik" – ein Verfahren, das dem Zufall bei Konzeption und Darbietung eines Werks mehr oder weniger breiten Raum gewährt. Im Zeichen der "Aleatorik" steht auch Lutoslawskis Streichquartett, entsprechend unterschiedlich können die Interpretationen ausfallen.

    Das Royal String Quartet nahm die Herausforderung an und begab sich auf einen reizvollen Drahtseilakt zwischen Bindung und Freiheit. Mit Hochspannung gestaltet es den vom Komponisten vorgegebenen Weg, der von lockerer Aneinanderreihung von Klangfeldern bis zu deren kontinuierlich sich steigernder Verdichtung führt. Gleichsam magnetisch werden die Klänge zu wachsender Ordnung hingezogen.

    "Witold Lutoslawski, Streichquartett"
    Royal String Quartet

    Während sich das Royal String Quartet auch im klassisch-romantischen Repertoire zu Hause fühlt, spielt das bereits 1974 ins Leben gerufene Arditti Quartet fast ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Zahllose CDs belegen diese Ausrichtung, und die neueste Produktion gilt dem kompletten Quartettschaffen von Roberto Gerhard. Dieses umfasst allerdings nur zwei Werke: das 1955 vollendete erste und das zweite Quartett von 1961. Beigefügt ist noch Gerhards betörende Chaconne für Solovioline – eingespielt von Irvine Arditti, dem Gründer des Arditti Quartet. Hier ein Ausschnitt:

    "Roberto Gerhard, Chaconne für Solovioline"
    Irvine Arditti, Violine

    Der spanische Komponist Roberto Gerhard lebte von 1896 bis 1970; bis heute ist seine Musik im Konzertleben stark unterrepräsentiert. Er war Schüler von Arnold Schönberg in Wien und Berlin und übernahm dessen Zwölftontechnik, er ließ aber auch Elemente der katalanischen Volksmusik einfließen. In seinen beiden Streichquartetten stellte er sich mit komplexer Satztechnik und raffinierter Klanglichkeit mühelos in die große Tradition dieser Gattung – und das Arditti Quartet leistet mit seinen hervorragenden Interpretationen einen wichtigen Beitrag, der Musik von Roberto Gerhard den ihr gebührenden Stellenwert zu verschaffen.

    "Roberto Gerhard, Streichquartett Nr. 2"
    Arditti Quartet

    Wie weit der klangliche und stilistische Bogen in der "modernen" Streichquartett-Literatur gespannt ist, bezeugen die drei in der heutigen Sendung vorgestellten CDs eindrucksvoll. Die CD des Quartetto Prometeo mit einschlägigen Werken von Salvatore Sciarrino erschien beim Label Kairos, die des Royal String Quartet mit Quartetten von Krzysztof Penderecki und Witold Lutoslawski bei Hyperion, und die des Arditti Quartet mit Musik von Roberto Gerhard beim Label Aeon. Soweit für heute DIE NEUE PLATTE – am Mikrofon verabschiedet sich: Egbert Hiller.

    Musik:

    Arditti Quartet
    AECD 1225; LC: 19608; EAN-Code: 3 760058 360255

    Royal String Quartet
    Hyperion CDA 67943; LC: 7533; EAN-Code: 0 34571 17943 8

    Quartetto Prometeo
    0013212 KAI; LC: 10488; EAN-Code: 9 120010 281822