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In Deutschland ein noch zu entdeckender Dichter

William Wordsworth gehört zu den bedeutensten Lyrikern Weltliteratur. Seine populäre Gedichtsammlung "Lyrical Ballads", 1798-1800, gilt als Manifest gegen eine klassizistisch erstarrte Dichtung und als Stiftungsurkunde der englischen Romantik. Die schönsten Werke des Dichters sind nun in 'I wandered lonely as a cloud' erschienen.

Von Cornelia Jentzsch | 29.02.2012
    Noch bevor die Wanderlust von den deutschen Romantikern entdeckt wurde, durchlief bereits ein englischer Dichter die hügelige und seenreiche Landschaft Kumbriens, querte Dorset, Somerset, Yorkshire, Schottland und Wales, wanderte hinunter nach Ostfrankreich, durchs Rheintal und schritt über den Simplon-Pass nach Oberitalien hinab. Es war William Wordsworth, der seine Verse grundsätzlich "out of doors" verfasste, wie seine ihn oft begleitende Schwester Dorothy erzählte. Mit weit geöffneten Sinnen und aus genauen Wahrnehmungen heraus, in der Freiheit des Gehens und versorgt mit lebendigen Erinnerungen schuf Wordsworth ein poetisches Werk, das in der englischsprachigen Welt nicht nur als Standardwerk gilt, sondern ihn zu einer personellen Instanz werden ließ. Jährlich pilgern heute an die 70.000 Besucher zu seinem ehemaligen Wohnhaus in Grasmere. In Deutschland blieb der englische Meister der aufkommenden Moderne mit seinem "hinreißend abgründigen Werk" unverlegt. Keine eigenständige Buchausgabe ließ sich, außer vereinzelten Abdrucken in Anthologien, bis vor Kurzem finden. Dass der Autor und Übersetzer Wolfgang Schlüter, bekannt für entdeckende Transferleistungen, nach zweihundert Jahren jetzt endlich eingriff und einen der bedeutendsten Lyriker der Weltliteratur von der britischen Insel zu uns herübergeleitete, ist nicht hoch genug zu würdigen. Unter dem Titel "I wandered lonely as a cloud" - Balladen, Sonette, Versepen - versammelte und übersetze Schlüter mit feinsinnigem Verstand eine umfangreiche Auswahl aus William Wordsworth' Schaffen. Er versah zudem seine Auswahl mit aufschlussreichen Anmerkungen und verfasste ein kenntnisreiches Nachwort. Ihren Einfrau-Verlag Straelener Manuskripte wollte Renate Birkenhauer, ebenfalls bekannt für hervorragend editierte Entdeckungen, eigentlich gerade schließen. Aber bei einem solchen Buchprojekt konnte sie nicht anders als noch einmal Tür und Tor zu öffnen. Denn William Wordsworth ist in all seinem Anachronismus moderner denn je.

    ... Das Auge, es muss einfach sehn ;
    Das Ohr auch können wir nicht stillen ;
    und unsre Körper fühlen, wo sie gehen & stehn,
    mit oder ohne Willen.

    Genauso weiß ich, dass es Mächte giebt,
    die sich von selber unserm Geist einprägen -
    dass diesen Geist zu nähren uns beliebt
    mit aus Passivität gebornem Segen.

    Du glaubst, inmitten all der mächtgen Summe
    des, was doch immer zu uns spricht,
    dass uns hienieden nichts von selber komme,
    wir ewig Suchende sein müssen, nicht?

    Dann frag nicht, warum hier, allein,
    im Traumgespräch mit Bäumen,
    ich sitz, auf diesem alten grauen Stein,
    um aus der Zeit mich fortzuträumen.


    Die Schaffenszeit von William Wordsworth, er wurde 1770 geboren und starb 1850, "umschließt das Georgianische und das Viktorianische, umfasst Robespierre wie Disraeli, Ochsenkarren wie Eisenbahngleise, Klosterkapellen wie Daguerrotypie", wie Wolfgang Schlüter im Nachwort schreibt. Die Zeit rückte den Dichter an die harte Bruchkante zur Moderne. Er musste zusehen, wie Verkehrsschneisen in bis dahin unberührte Natur geschlagen und Böden nach Verwertbarem zerschürft wurden. Musste beobachten, wie die Städte explosionsartig anwuchsen, die Menschen immer enger zusammenrückten und zusehends der Natur entwöhnt wurden. Doch anstatt diesen entfesselten Furor zum Thema zu machen, wanderte Wordsworth unbeirrt und nahezu stoisch durch entlegene Gegenden, nebelverhangene Täler, ausgedehnte Wälder oder an Flussufern entlang. Er wollte sich nicht in trotziger Nostalgie mit weltabgewandten Idyllen betäuben, sondern in Kontemplation, aus Distanz und inmitten der großartigen Natur weiterhin den Kopf oben behalten. So, wie es vor ihm bereits die arkadischen, bukolischen oder pastoralen Dichter versuchten. Offenbarungen, Erkenntnisse und Epiphanien fand er nicht in der unmittelbaren und turbulenten Anwesenheit des Menschen, sondern inmitten der leisen wie lauten, jahrtausendealten wie unmittelbar erlebten Gewalten einer Natur, die den Menschen nicht nur hervorgebracht hat, sondern ihn - nach wie vor - beharrlich physisch, mental und spirituell am Leben erhielt. Exakt in der Leere und Stille dieses exterritorialen Raumes wollte William Wordsworth tief ins Innere des verwirrend Menschlichen lauschen, wofür das "gepferchte, lebensauszehrende Gelärme in verstopfter Luft", wie er schreibt, andernortens ihm zu störend geworden war. Der damals gerade aufkommende Blankvers bot ihm, wie der Übersetzer Wolfgang Schlüter erklärt, ein "perfektes Versmaß für die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen". Wortwörtlich by the way brachte so die Dichtung von William Wordsworth frischen Wind in die Literatur. Den bis dahin vorherrschenden klassizistischen Versformen verweigerte sich der Dichter und buchstabierte selbst in seinen Versen Freiheit aus.

    Im Schauspiel der Urgewalten "erwacht eines Dichters Geist ", wie es in der Unterzeile zum Gedicht "Das Vorspiel" heißt:

    Das allumfassende Spektakel war durchaus
    geformt für Staunen und Entzücken,
    großartig an sich selbst - doch in dem Wolkenriss,
    durch den die heimatlose Stimme der Gewässer drang,
    dem tiefen dunklen Durchgange : dort war es, wo Natur
    die Seele angesiedelt, des Ganzen Bildungskraft.


    Das fast schreckhafte Zurückweichen von William Wordsworth' vor den Errungenschaften der damaligen Zivilisation, vor zunehmender Industrialisierung und Akkumulierung an Werten und Waren - von anderen mit Euphorie bedacht - , dieses Zurückweichen erfolgte im Wesentlichen aufgrund zweier traumatischer Erlebnisse. Das Erste war der frühe Tod seiner Mutter. Ein schockierender Verlust, über den sich das Kind nicht mehr in den Armen eines Menschen, sondern in der Geborgenheit von Bäumen, Bächen und Wiesen hinwegtrösten musste - was ein lebenslang anhaltendes, besonderes Verhältnis des Dichters zur Natur erklärt. Und das zweite Erlebnis, das nicht nur Wordsworth, sondern eine ganze Generation traumatisierte, kam mit dem blutigen Ende der Französischen Revolution. Eine brachiale Desillusionierung zerstörte sämtliches Hoffen auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Stattdessen rollte in England die sich ausbreitende Industrialisierung hemmungslos über Land und Landschaft hinweg. Sie bedrohte die heimischen und vertrauten Regionen Jener, für die der Wald noch immer ein jahrtausendelang gewachsener und gehegter Ort war und kein rasch abholzbares Futter für Dampfmaschinen, für den Ausbau des Eisenbahnnetzes und für möglichst großen Profit.
    In William Wordsworth Gedicht "An die Wolken", die für ihn zum Urbild werden, heißt es:

    .... klar & hell
    und leer erscheint die Region, die sie zuvor
    besetzt; ein ruhiges Gefälle, das hernieder
    geleitet zu der unnahbaren Tiefe, nieder
    in den verborgenen Schlund, aus dem sie stiegen,
    um zu vergehn - flüchtig wie Tage, Monate & Jahre,
    flüchtig gleichwie der Menschen Generationen,
    Macht, Ruhm & Herrschaft, wie der Erdball selbst,
    sein stockendes Rotieren, wenn Zeit hat aufgehört zu sein.


    William Wordsworth eigentliches Interesse galt nicht nur den Landschaften, Brücken, Stadtansichten und Himmelsgewölben, sondern vor allem den Menschen, die sich inmitten eingerichtet hatten und die die Zeit aus allen Gefügen zu reißen drohte. Er wusste, der alte Cumberland-Bettler, der durch die Dörfer zog und dem niemand ein Almosen verweigerte, weil er zu den Familien im Grunde dazugehörte, würde bald ausgestorben sein. Ihn würden zunehmend die zahllosen, in Anonymität und Armut lebenden Proletarier der Städte ersetzen.

    ... Da er also schlurft
    von Tür zu Tür, sehen die Dorfbewohner
    in ihm ein Dokument, welches uralte Konventionen
    und Ämter der Barmherzigkeit, die sonst vergessen wärn,
    ineins verkörpert, jenen güt'gen Sinn im Herzen
    daher am Leben hält, den das Vergehn der Jahre
    (was halb die Klugheit, halb Erfahrung ja bestätigt)
    träger empfinden ließe, und zielsichren Schritts
    zurück zu Eigensucht und kalt Vergessen führte.


    Warum ausgerechnet William Wordsworth im deutschsprachigen Raum ein noch zu entdeckender Dichter geblieben ist? Abgesehen davon, dass das literarische Interesse im damaligen Deutschland weniger nach England, sondern stärker nach Frankreich und dem alten Griechenland ausgerichtet war, scheint es noch weitere Gründe gegeben zu haben, wie Wolfgang Schlüter mutmaßt:

    "Wenn es darum gegangen wäre, Wordsworth ins Deutsche zu bringen nun ja, es hätte im 18. Jahrhundert in der Wielandszeit die Generation um Goethe, Kleist und Wieland sich Wordsworthens annehmen können. Aber dagegen stand offensichtlich ein Verdikt Goethes, der ganz eindeutige Prioritäten setzte: Nein, die englische Romantik wird repräsentiert von Lord Byron. Was nicht Byron ist, ist nicht gut, nicht gut genug. Und was Goethe sagte, war verbindlich für lange Strecken des 19. Jahrhunderts."

    Wordsworth, William : I wandered lonely as a cloud.
    Balladen, Sonette, Versepen.
    Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schlüter. Zweisprachige Ausgabe. Straelener Manuskripte. 208 Seiten. 24,90 Euro.