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In die Nacht hinein

Drei Wochen haben genügt, um das Debut der aktuell noch siebzehnjährigen Helene Hegemann auf das Podest des Kultstatus und auf Platz sechs der Bestsellerliste zu heben. "Axolotl Roadkill" ist ein rauschhafter, halluzinatorischer Text aus dem Mund eines sechzehnjährigen Teenagers namens Mifti, ein nachtschwarzes, böses und boshaftes Frühlingserwachen.

Von Ursula März | 11.02.2010
    In einer Woche feiert Helene Hegemann einen biografisch herausragenden Geburtstag: Sie wird achtzehn Jahre alt, also volljährig. Im Berliner Szeneclub "Tresor" findet ihr zu Ehren eine große Party statt, die Filmregisseurin Nicolette Krebitz wird als DJ für die Musik zuständig sein, ebenso wie der Theaterdramaturg Carl Hegemann, der Vater Helene Hegemanns, die aus ihrem Debutroman "Axolotl Roadkill" lesen wird.

    Der Berliner Literaturbetrieb wird sich einfinden und mit der Kulturboheme anderer Branchen vermischen - was nicht allzu oft vorkommt, aber in diesem Fall eine gewisse Logik besitzt. Denn alles, was sich um Helene Hegemann und ihre künstlerische Blitzkarriere abspielt, erfüllt schon jetzt die Kategorien des Einzigartigen und Phänomenalen. Noch nie wurde in der deutschen Literaturgeschichte das Buch einer so jungen Autorin in so kurzer Zeit so überwältigend gefeiert, idolisiert, diskutiert, in sämtlichen Feuilletons der überregionalen Presse besprochen wie "Axolotl Roadkill".

    Drei Wochen haben genügt, um das Debut der aktuell noch siebzehnjährigen Helene Hegemann auf das Podest des Kultstatus und auf Platz sechs der Bestsellerliste zu heben. Und hätte man sich vor einer Woche gefragt, worin die Steigerung dieser Sensation bestehen könnte, hätte die Antwort gelautet: Vielleicht in einem Skandal? Beispielsweise einem Plagiatsskandal?

    Schon ist er zur Stelle. Helene Hegemann sieht sich seit dem Wochenende dem Vorwurf ausgesetzt, Textpassagen aus dem Buch "Strobo", verfasst von einem Blogger mit dem Pseudonym "Airen", ohne Quellenangabe in ihren Roman "Axolotl Roadkill" übernommen zu haben. Am vergangenen Montag gab der Ullstein Verlag, bei dem Hegemanns Debüt erschien, eine Presseerklärung heraus, in der das Plagiat einerseits eingeräumt, andererseits mit dem Kunst- und Textverständnis der jugendlichen Autorin erklärt wird, die im Geist des Internet, das heißt, mit der permanenten Verfügbarkeit von elektronisch Geschriebenem und Gedachtem aufgewachsen, mit den Methoden des Sampelns und Mixens naturgemäß besser vertraut sei als, mit den Gepflogenheiten des klassischen Urheberrechts. In diesem Sinn äußerte sich auch Helene Hegemann selbst. Sie sei, erklärt sie "selbst nur Untermieter in meinem Kopf".

    Man darf annehmen, dass ihr die Umstände und Implikationen ihres Erfolgs langsam über eben diesen Kopf hinaus wachsen. Denn ob sie nun tatsächlich ein "Wunderkind" ist, wie der "SPIEGEL" sie nannte, oder einfach eine literarisch hochbegabte, erstaunlich frühreife und profilstarke junge Frau. Eines ist sicher: Die Rezeption ihres Buches gleicht einer Wundertüte des literarischen Betriebs, der hier sein gesamtes Erregungspotenzial ausschöpft.

    "Axolotl Roadkill" ist schon jetzt ein Fall, und einen solchen rein literarisch zu bewerten ist nicht gerade einfach. Jede positive wie jede negative Kritik steht im Verdacht, nicht den Roman, sondern den Fall zu meinen. Dass es sich bei "Axolotl Roadkill" um ein exzentrisches Romanprojekt handelt, kann allerdings niemand bestreiten.

    "Axolotl Roadkill" ist ein rauschhafter, halluzinatorischer Text aus dem Mund eines sechzehnjährigen Teenagers namens Mifti, ein nachtschwarzes, böses und boshaftes Frühlingserwachen. Die Eckdaten von Miftis Geschichte stimmen mit dem Gerüst der Biografie Helene Hegemanns überein. Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr lebte Mifti bei ihrer Mutter in Bochum, nach dem Tod der Mutter zog sie nach Berlin zu ihrem Vater, einem bekannten, im Kulturmilieu verwurzelten Intellektuellen. In Berlin-Mitte teilt sich Mifti eine Wohnung mit zwei älteren Geschwistern, die Schule hat sie abgebrochen, sie lebt in den Tag, besser gesagt: in die Nacht hinein. Mifti ist altklug, auf ätzende Weise selbstzerstörerisch, konsumiert Drogen und miesen Sex, und sie ist auf ebenso ätzende Weise hellsichtig, entlarvend, analytisch. Ihr wüster Jargon zerreißt die Welt in Stücke. Stürmische, furiose Negativität treibt die Prosa dieses Romans vorwärts. Kindliche, bonmontselige Albernheit heitert ihn erheblich auf. Und in eben diesem Gegenspiel, der Dialektik von Verzweiflung und Vergnügung, liegt tatsächlich die Qualität von "Axolotl Roadkill". Dem Leser wird dabei Einiges abverlangt. Er muss sich auf eine Reihe von Szenen gefasst machen, die sich auf Toiletten abspielen, dem Schauplatz von Drogenkonsum, von Geschlechtsverkehr und Kotzorgien. Er darf sich nicht auf eine durchgehende Handlung verlassen.

    Helene Hegemann, die ihm vergangenen Jahr - da war sie gerade sechzehn Jahre alt - mit ihrem Film "Torpedo" einen Überraschungserfolg feierte, ist am Film und am Theater geschult. Die Dramaturgie ihres Romans folgt dem Prinzip der szenischen Reihung, im plötzlichen Auftritt des Personals, in den Überraschungseffekten der Dialoge liegt die Stärke des Buches, in den theorielastigen, etwas angelernt wirkenden Passagen eine Schwäche. "Axolotl Roadkill" erzählt von den Nöten eines jugendlichen zeitgenössischen Bewusstseins, das sich seine Widerstände, seine Feinde, seine Objekte des Protests selbst schaffen muss, da die Umwelt sie nicht bietet.

    Miftis Vater ist eher kluger Gesprächspartner und toleranter Freund als Erziehungsberechtigter, Miftis Freunde sind egoistische, mit sich selbst beschäftigte, frei schwebende Künstler, Bohemiens, Intellektuelle, die weder Halt noch Wärme noch Normen bieten.

    Die Erfahrung, auf die Mifti sich am stärksten verlassen kann, ist - so paradox es klingt - die des Traumas, des Verlustes ihrer Mutter. Ein gleichsam unhörbares, so brutales wie zärtliches Zwiegespräch mit der Toten zieht sich durch den gesamten Subtext des Romans. Bei aller Schrillheit, aller Grellheit, die den Sound und die Sprache von "Axolotl Roadkill" bestimmen, wirkt dieses Zwiegespräch überaus anrührend, es rückt das literarische Debüt Helene Hegemanns in die Nähe des Nekrologs.

    Die Gattung, die sich für "Axolotl Roadkill" anbietet, ist eher die des gesellschaftlichen Milieuromans als die des Generationsromans. Zu einem solchen scheint der Überraschungsbestseller erst jetzt, im Nachhinein zu werden, in der Auseinandersetzung um den aktuellen Plagiatsskandal: Durch die Tatsache, dass die siebzehnjährige Autorin, die in der kommenden Woche volljährig wird, im freien und ungeschützten Umgang mit den Gedanken, Sätzen und Texten anderer Autoren weder ein Plagiat noch irgendeinen Skandal erkennen kann. Es ist ihr selbstverständlich, dass alles, was in Blogs, ob anonym oder unter Pseudonym geäußert wird, urheberrechtlich niemand und somit allen gehört, und dass sich dieses Verständnis auch auf Bücher übertragen lässt. Damit dürfte Helene Hegemann tatsächlich typisch sein für ihre Generation.

    Helene Hegemann: Axolotl Roadkill (Ullstein Verlag, Berlin)