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In eleganten Sphären gefangen

Es gibt Bücher, die liest man mit hohem Genuss, weil sie eine unvergleichliche sprachliche und gedankliche Eleganz besitzen. Dennoch kommt man sich bei ihnen in ein Paralleluniversum versetzt vor, das nur wenige Überschneidungen mit der eigenen Lebenswelt besitzt. Appiahs Großessay gehört zu dieser Gattung.

Von Florian Felix Weyh | 16.06.2011
    Man hat bis zur Erschöpfung Argumente getauscht, voluminöse Essays sind geschrieben, flammende Pamphlete gedruckt worden. Doch nichts passiert – der Missstand bleibt unbehoben, ungerührt praktizieren die Betroffenen ihr anfechtbares Verhalten weiter. Indes: Plötzlich ändert sich etwas. Duelle werden als lächerlich betrachtet, Sklavenhalter als barbarisch gebrandmarkt. Binnen einer Generation verschwindet eine vormals ubiquitäre Verhaltensweise, und die Nachfahren verstehen kaum noch, wie man sie jemals hatte billigen können. "Nicht die moralischen Argumente waren neu", konstatiert der Philosoph Kwame Anthony Appiah, "sondern die Bereitschaft, nach ihnen zu leben."

    Wie kommt das? Wie entstehen abrupte Umbrüche im kollektiven Verhalten von Völkern, gar von länderübergreifenden Zivilisationen? An einer neuen Moral kann es nicht liegen, denn moralische Postulate verändern sich kaum. Alle großen Weltreligionen umfassen in etwa dasselbe Repertoire an Ge- und Verboten, auch die säkulare Philosophie hat wenig hinzuerfunden, sondern nur Tradiertes verfeinert und neu begründet. Insofern weist der Untertitel des philosophischen Essays von Kwame Anthony Appiah in die Irre: "Wie es zu moralischen Revolutionen kommt" ist gar nicht die Frage. Nicht die Moral wird revolutioniert, Gesellschaften überwinden an einem bestimmten Punkt nur die beklagenswerte Spaltung von idealistischer Theorie und niederschmetternder Praxis. Dieser Wendepunkt erscheint dann im historischen Rückblick als Revolution. Kann es dafür einen Kausalfaktor geben, der über verschwommene Begriffe wie "Mentalitätswandel" hinausgeht?

    Ja, sagt der britische Philosoph und überrascht seine Leserschaft mit einem verblüffenden Griff in das, was man hierzulande gern die Mottenkiste nennt: Eine Veränderung im Ehrbegriff sei entscheidend für die Beendigung der Sklaverei, fürs Aussterben des Duells und die Abschaffung der chinesischen Sitte gewesen, schon in Kindertagen Frauenfüße so zu verkrüppeln, dass sie klein und zierlich, doch schmerzhaft deformiert blieben. "Ich finde, es ist an der Zeit, die Ehre wieder in die Philosophie einzuführen", schreibt Appiah und erzeugt gleich zu Beginn eine hohe Erwartungshaltung: Kann er das schaffen? Ausgerechnet Ehre, deren semantische Bedeutung wir eher in Lexika nachschlagen als sie aus dem Zusammenhang unseres aufgeklärten Lebens noch erschließen zu können?

    Es gibt Bücher, die liest man mit hohem Genuss, weil sie eine unvergleichliche sprachliche und gedankliche Eleganz besitzen. Dennoch kommt man sich bei ihnen in ein Paralleluniversum versetzt vor, das nur wenige Überschneidungen mit der eigenen Lebenswelt besitzt. Appiahs Großessay gehört zu dieser Gattung. Man bleibt geistig wach und erfährt viele kulturgeschichtliche Details, und doch vermag man dem Autor in seiner Logik kaum zu folgen. Während das Eingangskapitel über die Mechanismen des adligen Duells noch eine klare Anbindung an geläufige Ehrbegriffe besitzt, sucht man bei Abschaffung der Sklaverei schon händeringend nach einer Begründung, die mehr mit Ehre als mit Moral zu tun hat.

    Was moralisch motivierte Handlungen von Handlungsweisen aus Ehrmotiven unterscheidet, wird nie so recht klar, außer man wertete die Ehre als utilitaristische Second-Hand-Moral ab, die nicht auf universale Prinzipien, sondern auf kleinräumige Vorteilsnahme aus ist. Dann wäre die Männerehre des Patriarchen eine, die nur ihm nützt, sich aber nicht auf größere Zusammenhänge berufen darf – zu wenig für einen rehabilitierten Ehrbegriff, wie er Appiah vorschwebt. Ihm geht es generell um Respekt, doch die Trennschärfe seiner beiden Haupttermini "Wertschätzungsrespekt" und "Anerkennungsrespekt" reicht nicht aus, radikale historische Umschwünge zu erklären, denn zwischen Wertschätzung und Anerkennung liegt allenfalls ein akademisch wahrnehmbarer Unterschied. Fast gänzlich fehlt Appiahs Denken die psychologische Dimension – wie steht es um die Scham, eine gewaltige Steuerungsmacht unseres Verhaltens? –, und es scheint, als habe er sich vorgenommen, das Konzept der Ehre um jeden Preis in die Philosophie hineinzuzwängen. Das führt zu einseitigen Interpretationen historischer Situationen, besonders augenfällig im Kapitel über China, aber da Appiah ein ehrlicher Intellektueller ist, lässt er die Durchsichtigkeit seiner Argumente offen zutage treten.

    Bei einem derart klugen Kopf erweckt das den Verdacht, dies Scheitern sei demonstrativ gemeint und trage einen versteckten Sinn in sich. Vielleicht den, im Kontrast zweier schief gelagerter Kapitel den wahren argumentativen Bogen kenntlicher zu machen. Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Morden aus Ehrsucht, genannt Duelle, und den Ehrenmorden an Frauen im islamischen Kontext – wiewohl Appiah betont, dass der Islam diese Praxis so strikt untersagt, wie das Christentum Tötungen im Duell verbat. Wenn er anschließend konstatiert, man müsse sich um Veränderungen im Ehrgefühl der Beteiligten bemühen, statt ihnen erfolglos moralische Standards zu predigen, die sie in ihrem aktuellen sozialen Kontext kaum beherzigen können, dann steckt darin der eigentliche Wert des Buches. Wir müssen unsere Berührungsängste mit einem als abstoßend empfundenen Ehrbegriff abbauen, wollen wir dessen fatales Gewaltpotenzial entschärfen. Aus dem Niedergang adliger Duell-Riten lässt sich vielleicht ein Mechanismus isolieren, der geschundenen Frauen heute zu helfen vermag. Wie er aussieht, muss der Leser freilich selbst herausfinden; der Philosoph bleibt in seinen eleganten Sphären gefangen. Nicht zynisch im Tonfall, aber vielleicht ein bisschen zynisch in der Wirkung.

    Kwame Anthony Appiah: "Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt". C.H. Beck, 270 Seiten. 24,95 Euro