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"In Italien kann man mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit nicht regieren"

Siegfried Brugger will sich beim heutigen Misstrauensvotum gegen Silvio Berlusconi der Stimme enthalten. So oder so werde Berlusconi nicht auf Dauer weiterregieren können - es laufe auf Neuwahlen oder eine große Koalition hinaus.

14.12.2010
    Silvia Engels: Im italienischen Abgeordnetenhaus und im Senat wird heute über das Schicksal von Ministerpräsident Berlusconi abgestimmt. Im Senat, im Oberhaus, wird er die Vertrauensfrage stellen und im Abgeordnetenhaus muss er sich zwei Misstrauensanträgen stellen. Hintergrund ist der Bruch Berlusconis mit seinem früheren Verbündeten Gianfranco Fini, der mit anderen Abgeordneten die Regierungskoalition verlassen hat. Seitdem wackelt sein Stuhl.
    Parlamentarier im italienischen Abgeordnetenhaus ist Siegfried Brugger. Er ist dort Mitglied der Südtiroler Volkspartei und nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Brugger.

    Siegfried Brugger: Guten Morgen!

    Engels: Verraten Sie uns, wie Sie heute abstimmen wollen?

    Brugger: Ja, das ist überhaupt kein Problem. Ich enthalte mich der Stimme, zusammen mit meinem anderen Kollegen der Südtiroler Volkspartei. Unser Stimmverhalten ist aber nicht eines, das wir in den letzten Tagen beschlossen haben, sondern wir haben seit Anfang dieser Legislatur im Wesentlichen immer uns der Stimme enthalten, wenn es um Vertrauensfragen ging, und wir haben den Gesetzen zugestimmt, wenn sie vertretbar waren, und wir haben natürlich dagegen gestimmt, wenn es um die persönlichen Gesetze von Berlusconi ging, also Justiz oder persönliche Angelegenheiten.

    Engels: Haben Sie denn keine Meinung zu Ministerpräsident Berlusconi, oder weshalb die Enthaltung?

    Brugger: Ja, natürlich! Wir haben natürlich unsere Meinung zu dem Land Italien und auch zu Berlusconi. Wir haben in den letzten Jahren natürlich immer wieder versucht, das fatale Wahlrecht in Italien zu ändern, das eben Berlusconi immer wieder eine Mehrheit gesichert hat mit einem ganz großen Mehrheitsbonus, den er sich organisiert hat. Das muss man sich vorstellen. Eine Partei, die auch nur 20 Prozent oder 25 Prozent der Stimmen bekommt, also relative Mehrheit hat, bekommt 55 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer, und das ist natürlich für Berlusconi immer bisher gut gegangen und würde wahrscheinlich auch gut gehen, wenn jetzt in unmittelbarer Nähe Wahlen wären. Deshalb haben wir uns aus dieser letzten Implosion und den Grabenkämpfen der Mitte-Rechts-Parteien herausgehalten. Wir sind Vertreter der Südtiroler Volkspartei und somit in erster Linie Vertreter unseres Territoriums, unseres Landes in Italien und lassen diese Grabenkämpfe die gesamtstaatlichen Parteien machen.

    Engels: Herr Brugger, aber Sie äußern Kritik an Herrn Berlusconi und vor allen Dingen seiner Wahlreform, Wahlrechtsreform. Damit helfen Sie aber, wenn Sie sich jetzt enthalten, ja den Gegnern Berlusconis?

    Brugger: Nein, überhaupt nicht. Wir helfen hier niemandem. Wir helfen höchstens einer Möglichkeit nach dieser Abstimmung, die ja wirklich auf der Kippe ist, eine Stimme Mehrheit oder eine Stimme weniger. Wir würden unseren Beitrag leisten nach diesem Tag, wenn es darum ginge, tatsächlich mit einer großen Koalition die wichtigsten Wirtschaftsprobleme Italiens anzugehen und eben auch dieses Wahlrecht zu reformieren. Da würden wir mitmachen. Das, was derzeit aber abläuft, das spielt sich innerhalb von Parteien ab, die auch auf der anderen Seite, die kleinen Zentrumsparteien, sich überhaupt nicht letztlich positionieren und höchstens strategisch heute dagegen stimmen, um morgen wieder mit Berlusconi zu verhandeln. Ich denke an den UDC von Pier Ferdinando Casini. Deshalb haben wir da diesbezüglich uns - - Da bleiben wir außen vor.

    Engels: Es gab ja viele Berichte in den vergangenen Tagen. Einige Abgeordnete änderten ihre Meinung, dann gab es auch den Vorwurf der Beeinflussung der Abgeordneten zum Teil mit finanziellen Mitteln. Haben Sie dazu etwas gehört unter den Parlamentariern?

    Brugger: Ja, natürlich, und das war auch nicht nur unter den Parlamentariern zu hören, das war ja auch Thema von vielen Zeitungsberichten und es ist die Staatsanwaltschaft dabei, die Hintergründe aufzuklären, wie es zu gewissen Übertritten, Parteiübertritten gekommen ist. Es ist ja ganz klar, dass in den letzten Zeiten da wahrscheinlich einige Abgeordnete, die jetzt plötzlich bei Berlusconi sind, das nicht ganz ohne Gegenleistung gemacht haben. Das ist natürlich vollkommen skandalös und das, was in Italien diesbezüglich abläuft, hat mit einem modernen Staat in Europa schon nicht sehr viel zu tun.

    Engels: Herr Brugger, trauen Sie sich denn eine Einschätzung zu, welches Ergebnis insgesamt heute bei diesem Misstrauensvotum im Abgeordnetenhaus herauskommen wird?

    Brugger: Wie im Vorspann Ihres Berichtes bereits angekündigt, im Senat wird Berlusconi sicher eine Mehrheit haben. In der Abgeordnetenkammer ist es wirklich, da kann man keine Prognose wagen. Ich habe gestern am Abend mit dem ja wirklich sehr seriösen Wirtschaftsminister Tremonti auch noch gesprochen. Er hat mir gesagt, auch er ist nicht sicher, ob in der Abgeordnetenkammer eine Mehrheit für Berlusconi sein wird. Die Opposition glaubt, eine oder zwei Stimmen für das Misstrauen zu haben, aber wir wissen das heute so gegen 13:30 Uhr.

    Engels: Eine oder zwei Stimmen, das ist wirklich ein Zünglein an der Wage. Überlegen Sie sich da nicht doch noch mal Ihr eigenes Votum, wo Sie solch ein Gewicht spielen könnten?

    Brugger: Nein, das werden wir nicht tun. Man hat uns in den letzten Tagen versucht, auf die eine oder andere Seite zu bewegen. Wir haben uns da ganz seriös herausgehalten. Wir haben gesagt, und das haben wir auch in den letzten Monaten und Jahren auch gemacht, wir sind da, die Interessen Südtirols zu vertreten, und das haben wir in den letzten Jahren auch einigermaßen gut zustande gebracht. Wir machen da diesbezüglich jetzt nicht den Unterschied. Aber es ist ja auch ganz einerlei, denn auch wenn Berlusconi eine oder zwei Stimmen mehr hat, als er braucht, also das Vertrauen auch bekommt in der Abgeordnetenkammer, so kann er trotzdem nicht weiterregieren. In Italien kann man mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit nicht regieren. Deshalb gibt es auf jeden Fall die Regierungskrise und deshalb wird auf jeden Fall, egal wie es heute ausgeht, in den nächsten Wochen und Monaten entweder die Perspektive Neuwahlen sein, oder aber eine neue Parteienkoalition von Mitte-Rechts, oder es gibt sogar eine Hypothese, wenn Berlusconi heute stürzen würde, dass es dann eine sogenannte Koalition aller Verantwortlichen geben könnte, die von links bis zu Fini, bis zur Partei von Gianfranco Fini reicht. Und wenn es darum geht, dann das Wahlrecht zu ändern und bei Wirtschaftsreformen mitzumachen, dann sind unsere zwei Stimmen sicher auch dabei.

    Engels: Das heißt, Sie könnten sich vorstellen, Teil einer Übergangsregierung zu werden, die, das ist ja eine Option, falls Berlusconi stürzt, tatsächlich dann ins Auge fassen würde, vor Neuwahlen erst eine Rücknahme der Wahlrechtsreform Berlusconis durchzusetzen? So in etwa?

    Brugger: Ganz genau, denn das ist auch letztlich das große Problem in Italien, dass mit diesem Wahlrecht es ja nicht möglich ist, ein normales politisches Leben, parlamentarisches Leben zu führen, denn dieses Wahlrecht ist ja so aufgebaut, dass es nicht nur diesen Mehrheitsbonus gibt, der vollkommen absurd ist, sondern dass der Parteichef – und das ist ja nicht nur Berlusconi für seine Gruppierung, sondern das sind auch in den Linksparteien Bersani, Casini, Bossi, oder wie sie alle heißen -, die Leader der Parteien, die ihre Leute im Parlament einfach nur angeben auf einer blockierten oder geblockten Liste ohne Vorzugsstimmen, und dann werden diese Leute ins Parlament gesetzt, so wie es die Chefs einfach nur in der Reihenfolge angeben. Das ist letztlich extrem skandalös und wenn es gelingt, dieses Wahlgesetz wie auch immer zu ändern, dann sind wir ganz sicher dabei.

    Engels: Vertrauensabstimmung und Misstrauensantrag heute gegen den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Wir sprachen mit Siegfried Brugger, er ist Mitglied der Südtiroler Volkspartei und sitzt im italienischen Abgeordnetenhaus. Er will sich der Stimme heute enthalten. Vielen Dank für das Gespräch.

    Brugger: Danke auch!

    Arrivederci Berlusconi? - Heute stellt sich der italienische Ministerpräsident einem Misstrauensvotum