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Ina Hartwig: "Wer war Ingeborg Bachmann"
Eine Dichterinnen-Biografie in Bruchstücken

Auch Jahrzehnte nach ihrem Tod gibt die Biografie der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmanns immer noch Rätsel auf. Unter dem Titel "Wer war Ingeborg Bachmann?" legt die Literaturkritikerin Ina Hartwig nun ein aufschlussreiches Buch über das Leben der Dichterin vor.

Von Günter Kaindlstorfer | 26.03.2018
    Buchcover von Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann?
    "Sie hat nie sich im 68-Umfeld von den höchsten Ansprüchen an die Kunst verabschieden können": Ina Hartwig über Ingeborg Bachmann (S. Fischer / dpa)
    "Nachtflug.
    Unser Acker ist der Himmel,
    im Schweiß der Motoren bestellt,
    angesichts der Nacht
    unter Einsatz des Traums –
    geträumt auf Schädelstätten und Scheiterhaufen,
    unter dem Dach der Welt, dessen Ziegel
    der Wind forttrug – und nun Regen, Regen, Regen
    in unserem Haus und in den Mühlen
    die blinden Flüge der Fledermäuse ..."

    Die Stimme der Ingeborg Bachmann: Sie klingt aufs erste Hinhören zerbrechlich, gefährdet, fragil – eine reine Kopfstimme, ohne nennenswerte Resonanz im Körper der Autorin. Der Stimmforscher Reinhart Meyer-Kalkus ist einer von Dutzenden Gesprächspartnern, mit denen sich Ina Hartwig im Zuge ihrer Recherchen getroffen hat. Meyer-Kalkus ortet so etwas wie ein "vokales Self-Fashioning" in Bachmanns Stimme, einen kalkulierten stimmlichen Selbstentwurf, mit dem sich die Dichterin als poetische Schmerzensfrau und vom Leben verwundetes Opfer inszeniert hat.
    "Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass man nur in einem Krieg ermordet wird. Oder nur in einem Konzentrationslager. Man wird mitten im Frieden ermordet: Dafür sorgen die Anderen oder das, was ich den Mörder nenne."
    Intensive Bewunderer
    Eine "Biographie in Bruchstücken" nennt Ina Hartwig ihr Buch, und damit ist die Konzeption des 320-Seiten-Bands präzise umrissen. Für eine wissenschaftlich abgesicherte Biografie ist die Zeit noch nicht reif, liegen doch beträchtliche Teile des Bachmann-Nachlasses – einschließlich der Briefe an Max Frisch – noch unediert und zum Teil mit fünfzigjähriger Sperrfrist versehen in den Archiven der "Österreichischen Nationalbibliothek". Gleichwohl, es ist erstaunlich, was Ina Hartwig in ihrer spannenden und gut zu lesenden Studie alles ans Tageslicht bringt: Die prominente Literaturkritikerin hat Gespräche mit Freunden und Wegbegleitern Ingeborg Bachmanns geführt, mit Hans Magnus Enzensberger und Klaus Wagenbach, mit Martin Walser, Günter Herburger, Peter Härtling – und mit dem früheren US-Außenminister Henry Kissinger, der die Bachmann Mitte der 50er Jahre an der "Harvard Summer School" kennengelernt hat, wo die junge Österreicherin als Stipendiatin weilte. Der deutsch-jüdische Emigrant Kissinger war ein intensiver Bewunderer nicht nur der Bachmannschen Lyrik, wie Ina Hartwig weiß:
    "Aus seiner Sicht war’s mehr als Freundschaft, das darf ich sagen, nachdem ich mehr als eine Stunde mit ihm sprechen durfte. Er erinnerte sich voller Emotion und Rührung an Ingeborg Bachmann und hat auch kein Hehl daraus gemacht, dass sie ihn sehr fasziniert hat. Ich glaube, er mochte sie mehr als gern. Ich konnte den Briefwechsel auch einsehen. Das ist ein spannendes und bisher ungeschriebenes Kapitel in Bachmanns Biographie."
    In neun Essays setzt Ina Hartwig sich in ihrem Buch mit zentralen Themen der Bachmannschen Biografie auseinander: mit der Drogensucht der Autorin ebenso wie mit der ambivalenten Vaterbindung der Dichterin, mit ihrer Nähe zur US-amerikanischen Kulturpolitik der 50er- und 60er-Jahre und mit der schwierigen Liebesbeziehung der Bachmann zu Paul Celan, die – auch wegen der prekären psychischen Disposition des Dichters – unabwendbar zum Scheitern verurteilt war:
    "Das ist allgemein bekannt, dass er schwierig war, sehr sensibel, sehr empfindlich, sehr auffahrend. Er war ja auch in Paris in der Psychiatrie behandelt worden. Bekannt ist auch, dass er seine Frau Gisèle Lestrange mit einem Messer bedroht hat, er hat sich auch selbst mit einem Messer bedroht. Also, das war jemand, der in Phasen seines Lebens in Zustände hineingeriet, die man wahrscheinlich mit psychiatrischem Vokabular beschreiben muss."
    "Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen rotgoldene Augen und siderische Stimmen haben, an dem ihre Hände begabt sein werden für die Liebe, und die Poesie ihres Geschlechts wird wieder erschaffen sein, und ihre Hände werden begabt sein für die Güte, sie werden nach dem höchsten aller Güter mit ihren schuldlosen Händen greifen, denn sie sollen nicht ewig, denn es sollen die Menschen nicht ewig, sie werden nicht ewig warten müssen."
    Verkörperung alles Bösen und Destruktiven
    Die Beziehung der Dichterin zu ihrem Vater, dem Klagenfurter Volksschullehrer Matthias Bachmann, gibt der Forschung bis heute Rätsel auf. Der Kärntner Protestant Matthias Bachmann, NSDAP-Mitglied seit 1932, muss Aussagen seiner Schüler zufolge ein strenger, unerbittlicher Mann von forciert autoritärem Auftreten gewesen sein. In ihrem Roman "Malina" lässt Ingeborg Bachmann eine rohe, gefühllose Vaterfigur auftreten, die als Verkörperung alles Bösen und Destruktiven erscheint. Dieser Roman-Vater ist ein Folterer und Vergewaltiger, ein KZ-Scherge, der das Ich des Romans "vergasen" möchte, der Blutschande mit seiner Tochter treibt und sich in Gewaltexzessen individuiert.
    "Ich bin eigentlich zu dem Ergebnis gekommen - wenn man das mittlere Kapitel von "Malina" liest, das so unglaublich brutal ist und den Vater als überdimensional bösen Mann schildert, als Chiffre des Bösen – ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verhältnis der Bachmann zu ihrem Vater zutiefst ambivalent gewesen sein muss. Es gab aggressive Anteile, die ich in dem "Malina"-Kapitel ausmache, und es gibt natürlich auch rührende Schilderungen des Vaters, die auf ein liebevolles Verhältnis zum Vater hindeuten und auf eine große Vaterliebe. Und ich denke, man kann sagen, dass diese beiden Vaterbilder - der böse Vater und der gute Vater -, dass die nicht zusammenpassen, und dass sie die nie zur Deckung bringen konnte und insofern ein ungeklärtes Vaterverhältnis bis zum Lebensende gehabt hat."
    Dennoch: Die gnadenlosen Vater-Passagen in "Malina" lassen sich als eine Art Rufmord am realen Bachmannschen Vater lesen. Eine Art Rache? Ina Hartwig schreibt dazu in ihrem Buch:
    "Dass die als Literaturalbtraum geschilderten Taten nicht die Taten des eigenen Vaters sein können, versteht sich von selbst. Aber etwas bleibt hängen, und das dürfte die schreibende Bachmann gewusst haben. Das hat sie in Kauf genommen. Darin war Ingeborg Bachmann radikal und rücksichtslos, ja, darin war sie ihrerseits gewalttätig."
    "Malina" und andere Bachmann-Texte naiv autobiografisch zu lesen, wie es im Zuge der Debatten um sexuellen Kindesmissbrauch immer wieder vorgekommen ist, davor warnt Ina Hartwig:
    "Beim Thema Missbrauch bin ich äußerst vorsichtig und möchte mich da zu keiner Äußerung hinreißen lassen. Tatsache ist, dass in dem mittleren Kapitel von "Malina" – in diesem Alptraumkapitel – der Inzest vorkommt. Darüber muss nachgedacht werden – auf der literarischen Ebene. Auf dieser Ebene hat das Ich, das diese Träume produziert, auch ein Kind mit dem Vater. Das sind natürlich ganz diffizil zu behandelnde Sujets. Die Inzest-Thematik in "Malina" führt zu einer Monströsität, vor der ich warnen würde, sie auf eine biographische Lesart zu reduzieren."
    Selbstbestimmt und ungemein lebenspraktisch
    Ina Hartwig geht es darum – und das ist vielleicht die zentrale Stoßrichtung ihrer Studie – Ingeborg Bachmann nicht als Opfer zu zeichnen. Auch wenn die Biografie der Dichterin, zumal in ihren späten Jahren, von selbstdestruktiven Impulsen gekennzeichnet war, vor allem von massivem Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, so erscheint die Bachmann bei Hartwig doch als vielschichtige und starke Persönlichkeit, die, bei allen Gefährdungen, denen sie ausgesetzt war, in weiten Phasen ihres Lebens immer auch selbstbestimmt und ungemein lebenspraktisch agierte.
    Das galt nicht zuletzt für die politische Haltung der Autorin. Seit ihren Auftritten bei der "Gruppe 47" zu Beginn der 50er-Jahre hat sich Ingeborg Bachmann als wortgewandte Repräsentantin des linken kulturellen Establishments in der Bundesrepublik Deutschland inszeniert. Aber: Die marxistische Wende vieler Intellektueller habe sie nicht mitgemacht, so Hartwig:
    "Sie hat nie sich im 68-Umfeld von den höchsten Ansprüchen an die Kunst verabschieden können, wie einige andere das gemacht haben. Und aus dem Grund war sie eigentlich auch keine richtige 68erin. Aber von ihrem politischen Engagement her war sie ganz sicher eine Linksliberale, sie hat sich ja auch im Wahlkampf 65 für Willy Brandt mit engagiert, mit Grass und Henze und Kortner. Das sind ganz klar auch Bekenntnisse, Statements, die sie gegeben hat. Aber von ihrer generellen Haltung her war sie eine Antikommunistin."
    "Ich habe keine Ansichten, denn in der Ansicht, in der Meinung, regiert die Phrase."
    Literarische Phantasmagorie
    Ina Hartwig bringt in ihrem Buch mehr als nur ein heikles Thema zur Sprache: zum Beispiel auch die berühmte Orgie, die Ingeborg Bachmann Mitte der 60er Jahre – den Erinnerungen des österreichischen Schriftstellers Adolf Opel zufolge –, in einem griechischen Hotelzimmer erlebt hat. Eine Art Offenbarungserlebnis für die Dichterin, wie es scheint:
    "Angeblich hat in Athen in einem Hotelzimmer eine Orgie mit drei Männern stattgefunden. Das berichtet Adolf Opel. Er beschreibt diese Orgie nicht weiter, und es geht uns auch nichts an. Entscheidend ist, dass Ingeborg Bachmann daraus eine literarische Phantasmagorie gemacht hat, die sie in ihrem sogenannten Wüstenbuch niedergeschrieben hat... Diese Orgie ist stark überhöht in ihrem Werk und soll die Heilung von allem bringen. Das ist nach meiner Meinung kein besonders geglückter Text, aber ein signifkanter Text in ihrem Werk. Ein Text, der uns auf die Fährte ihrer Grenzerfahrung bringt. Ich würde sagen: Sie suchte die Grenzerfahrung, sie hat viel ausprobiert, sie hat Schmerzmittel genommen, sie hat Beruhigungsmittel genommen, sie hat sicher auch im Sinne einer Ästhetik des Drogenrausches einiges probiert. Sie wollte, glaube ich, die Grenze ihrer selbst finden."
    "Wer war Ingeborg Bachmann?" Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage hat auch Ina Hartwig noch nicht gefunden. Sollte diese Frage aber dereinst in einer größeren, umfassenderen Biografie noch einmal neu gestellt werden: Man würde gern den Autorinnen-Namen Ina Hartwig auf dem Cover lesen.
    Ina Hartwig: "Wer war Ingeborg Bachmann – Eine Biographie in Bruchstücken"
    S. Fischer, Frankfurt am Main, 320 Seiten, 22 Euro.