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Indien
Der "Medicine Baba" verteilt Medikamente an Bedürftige

Wer in Indien arm ist, wird zwar kostenlos von Ärzten behandelt, aber die Medikamente sind für viele unerschwinglich. Der 80-jährige Omkarnath Sharma sammelt deshalb in den besseren Vierteln nicht mehr benötigte Arzneien und verteilt sie unter Bedürftigen. Doch nicht jeder gläubige Hindu darf die Gabe annehmen.

Von Horst Blümel | 31.01.2017
    Patienten in dem indischen Edward-Memorial-Krankenhaus in Mumbai.
    In Indien ist die Behandlung für arme Menschen in den staatlichen Krankenhäusern kostenlos, allerdings müssen die Patienten die Medikamente selbst bezahlen. (picture alliance / dpa / EPA / DIVYAKANT SOLANKI)
    "Vor acht Jahren habe ich einen schrecklichen Unfall miterlebt: In Lakshmi Nagar war eine neu erbaute Brücke eingestürzt und hatte einige Menschen unter sich begraben. Vier Männer waren sofort tot."
    Sagt der 80-jährige Omkarnath Sharma, ein ehemaliger Labor-Angestellter.
    "Viele Leute haben versucht, den Verletzten vor Ort zu helfen. Später hat man sie dann ins Krankenhaus gebracht. Nach einer notdürftigen medizinischen Versorgung schickte man sie nach Hause. Einige Tage später stand in der Zeitung, dass auch sie verstorben waren. Weil sie im Krankenhaus nicht die notwendigen Medikamente bekommen hatten."
    Diese traurige Begebenheit hat Omkarnath Sharma immer wieder beschäftigt, bis er schließlich den Entschluss fasste, etwas zu unternehmen.
    "Medikamente sammeln, um sie kostenlos an Bedürftige abzugeben"
    "Überall, wohin man schaut, gibt es Medikamente. Aber diese stehen vielen nicht zur Verfügung. Denn arme Leute haben kein Geld für Medikamente. Und andererseits werfen finanziell besser gestellte Inder nicht mehr benötigte Tabletten einfach weg. Da hatte ich die Idee, diese Medikamente zu sammeln, um sie kostenlos an Bedürftige abzugeben."
    Seitdem ist Omkarnath Sharma in den vornehmen Wohngegenden Delhis unterwegs. Der "Medicine Baba" geht von Tür zu Tür und fragt nach nicht mehr benötigten Arzneien. An diesem Morgen ist er wie gewöhnlich schon früh auf den Beinen. Nach einem kurzen Frühstück steigt Omkarnath in einen Bus nach Vasant Vihar, was im Süden Delhis gelegen ist.
    Nach über zwei Stunden Busfahrt ist Omkarnath am Ziel. Wie immer trägt er safranrote Kleidung: eine weite Hose und ein locker sitzendes Hemd, darauf sein Name und seine Handynummer.
    Aufmerksamkeit durch Medienkampagne
    "Ich gehe einfach los. Die Leute wissen nicht, an welchem Tag ich komme. Aber inzwischen kennen mich die Leute durch die Medien und es hat sich herumgesprochen, dass ich kein Betrüger bin, sondern Medikamente an arme Leute verteile. Durch die Medienkampagne 'Medikamente aufbewahren, nicht wegwerfen' sind noch mehr Menschen auf mein Projekt aufmerksam geworden."
    In leichten Sandalen schlurft Omkarnath los und wendet sich gleich dem ersten Haus auf der rechten Straßenseite zu. Die Hausherrin auf dem Balkon hat ihn bereits gesehen und erkannt. Er möge doch bitte zum Eingangstor kommen, sie habe einige Medikamente für ihn, ruft sie ihm zu. Kurz darauf landen die Tabletten auf dem Rasen im Vorgarten. Der Hausangestellte hebt sie auf und überreicht sie Omkarnath. Dieser bedankt sich und steuert das nächste Haus an.
    "Ich gehe sechs bis sieben Kilometer am Tag, obwohl ich gehbehindert bin. Das mit meinem Fuß ist passiert, als ich zwölf war. Ein Auto hat mich angefahren. Medikamente gegen die Entzündung gab es damals nicht - wir waren zu arm."
    Als Omkarnath am Nachmittag mit den gespendeten Medikamenten in die Umsonst-Apotheke zurückkehrt, einem kleinen Lagerraum in einem Armeleuteviertel, schaut er zufrieden auf die Ausbeute des heutigen Tages: zwei Taschen voller Medikamente. Nach einer kurzen Pause, mit einem süßen Milchtee und ein paar Keksen, registriert er die Arzneimittel im Computer und stellt sie dann, alphabetisch geordnet, auf eines der ohnehin schon überfüllten Regale. In einer Ecke des Raumes lehnt ein zusammengeklappter Rollstuhl an der Wand, daneben stehen zwei Sauerstoff-Geräte. In einem Kühlschrank befinden sich besonders teure Medikamente, hier liegen unter anderem Mittel für Krebskranke.
    Schlechte Bedingungen in den Krankenhäusern
    "Ich habe Kontakt zu den großen staatlichen Krankenhäusern der Stadt. Und die Ärzte dort haben Zugriff auf meine Datenbank und wissen, welche Arzneien ich in meiner Apotheke lagere. Wenn arme Patienten dann Medikamente brauchen, die ich habe, schicken die Ärzte die Leute zu mir und sie bekommen hier die Medikamente umsonst."
    In Indien ist die Behandlung für arme Menschen in den staatlichen Krankenhäusern kostenlos, allerdings müssen die Patienten die Medikamente selbst bezahlen. Die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern ist oft schlecht - es fehlt vielerorts an Geld und Personal. Um überhaupt während der Sprechstunde an die Reihe zu kommen, bemühen sich viele Kranke schon am Vorabend zum Krankenhaus und schlafen vor dem Eingang.
    Auch Ganga, eine 62-jährige Witwe, musste im Krankenhaus Stunden warten, bevor sie mit einem Arzt sprechen konnte:
    "Nachdem mein Mann verstorben war, habe ich plötzlich starke Herzbeschwerden bekommen. Die Ärzte im Krankenhaus sagten, ich müsse Tabletten einnehmen. Aber die sind viel zu teuer und meine Schwiegereltern wollen dafür kein Geld ausgeben."
    Doch Ganga hatte Glück im Unglück: Auf dem Markt erzählte ihr eine Frau vom Medicine Baba und seiner Umsonst-Apotheke. Einige Tage später hat sie Omkarnath aufgesucht und dieser hat mit dem Arzt im Krankenhaus Rücksprache gehalten. Seitdem bekam sie schon ein paar Mal ihre Herztabletten umsonst.
    Geschenke bedeuten mehr rituelle Unreinheit
    Hindus kennen verschiedene Arten des Schenkens. Wenn die Gläubigen zu Diwali, einem der bedeutendsten Feste der Hindus, Geschenke mit Familienangehörigen und Freunden austauschen, handelt es sich um sogenanntes "weltliches Schenken". Von einer religiös motivierten Gabe spricht man, wenn ein Hindu, wie Omkarnath, einem Gott, einem Asketen oder einer bedürftigen Person etwas schenkt. Der Gebende erwirbt dadurch ein religiöses Verdienst. Der Beschenkte übernimmt mit der Gabe etwas von der rituellen Unreinheit des Gönners. Aus diesem Grund sind Asketen nicht unbedingt erfreut, wenn sie von den Gläubigen Almosen erhalten, da dies ihrer rituellen Reinheit entgegen wirkt. Die Witwe Ganga aber denkt gar nicht daran, dass sie durch den Erhalt ihrer Tabletten nun rituell ein wenig unreiner geworden ist. Sie freut sich nur, dass ihre Herzbeschwerden verschwunden sind.
    "Auch ich bin froh, dass ich etwas für arme Menschen tun kann", sagt Omkarnath, der "Medicine Baba". "Jedes Medikament, das nicht im Müll landet und einem Kranken hilft, ist ein kostbares Geschenk."