Dienstag, 23. April 2024

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Europapolitiker Peter Liese
"Gefahr der Grenzschließung ist durchaus da"

Der CDU-Europaabgeordnete Liese hält die erneute Schließung von Grenzen innerhalb der EU aufgrund der Corona-Pandemie für möglich. Diese müsse jedoch mit dem Infektionsgeschehen begründet werden und dürfe nicht politisch motiviert sein, sagte Liese im Dlf. Verärgert zeigte er sich über das Verhalten Ungarns.

Peter Liese im Gespräch mit Stefan Heinlein | 31.10.2020
Grenzpolizisten kontrollierten Autofahrer bei der Einreise nach Ungarn
"Als Europaabgeordneter möchte ich offene Grenzen, aber als Arzt möchte ich auch Menschenleben schützen", sagte Peter Liese im Dlf (imago images/Sven Simon)
Während der ersten Corona-Welle im Frühjahr hatten zahlreiche EU-Länder ihre Grenzen ohne Absprachen geschlossen. Auch jetzt gibt es bereits wieder einseitige Einreisebeschränkungen. So hat Dänemark verfügt, dass Menschen aus Deutschland nicht mehr ohne triftigen Grund einreisen dürfen. Auch Ungarn hat seine Grenzen abgeschottet - sehr zur Verärgerung des CDU-Europaabgeordneten Peter Liese, gleichzeitig gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion und im Zivilberuf Arzt. "Das waren politisch willkürliche Entscheidungen und die sollte es sicher nicht geben", sagte Liese.
Wenn der Treiber des Infektionsgeschehens wieder die Grenzübertritte seien, so Liese, dann müsse gezielt gehandeln werden. Das bedeute zum Beispiel, das touristische Reisen aus Ländern mit hohen Infektionszahlen wie Tschechien oder Belgien eine Zeit lang eingeschränkt werden müssten.
Peter Liese, gesundheitspoltischer Sprecher der EVP-Fraktion
Peter Liese, gesundheitspoltischer Sprecher der EVP-Fraktion (dpa / picture alliance / Henning Kaiser)
Stefan Heinlein: Geht Europa jetzt gemeinsam in den Winterschlaf?
Peter Liese: Nein, hoffentlich nicht in den Winterschlaf, aber wir müssen gemeinsam in Europa das Richtige tun, um das Gesundheitswesen nicht zu überlasten und die Menschen zu schützen, das heißt also Kontakte reduzieren. Das machen wir in Deutschland, und das machen andere Länder in Europa auch – leider einige wie Belgien und Tschechien zu spät, sodass dort das Gesundheitswesen schon überlastet ist. Das sollte uns eine Warnung sein, dass wir das, was beschlossen wurde von den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin, dass wir das auch wirklich durchführen in Deutschland.
"Ziehe den Hut vor Ursula von der Leyen"
Heinlein: Nun hat gestern EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ja eingeräumt, dass man Fehler gemacht hat im Frühjahr, man habe auch im Sommer dann zu schnell gelockert. Teilen Sie diese Einschätzung, waren wir zu lasch insgesamt in Europa in diesem Sommer?
Liese: Zunächst mal ziehe ich den Hut vor Ursula von der Leyen, sie ist eine der wenigen politisch Verantwortlichen, die zugeben, wenn was schiefgelaufen ist, und dass wir als Europäische Union auch die Europäische Kommission im März die Krise unterschätzt haben am Anfang, als in Italien schon die Krankenhäuser überlastet waren, hat trotzdem jeder auf sich geschaut und die Europäische Kommission hat zu wenig koordiniert. Das ist leider wahr, aber Ursula von der Leyen hat sich ja schon sehr frühzeitig im Plenum des Europäischen Parlamentes dafür entschuldigt, und sie arbeitet seitdem wirklich von morgens bis abends und auch am Wochenende zur Bekämpfung der Krise, und es läuft jetzt sehr viel besser. Das beste Beispiel dafür ist die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen. Hier gibt es ein Zusammenarbeiten von allen 27 Mitgliedsstaaten plus Norwegen, und das ist eigentlich das, wie es hätte auch in anderen Bereichen laufen sollen und wie es jetzt sehr gut funktioniert.
Sebastian Kurz, Bundeskanzler von Österreich, steht mit Mundschutz vor einer grün eingefärbten Karte des Landes. Daneben sind die Stufen zu sehen: Grün, gelb, orange, rot.
Reisen in Europa - Corona-Ampel soll mehr Klarheit bringen
Auf Initiative der EU-Kommission soll eine Corona-Ampel künftig für mehr Klarheit im europäischen Reiseverkehr sorgen. Reisende könnten so schneller erkennen, ob ihr Ziel ein Risikogebiet ist.
Europäische Corona-Warn-Apps müssen miteinander funktionieren
Heinlein: Ein konkretes Ergebnis, das auf dem Gipfel ja vereinbart wurde und das dieses gemeinsame europäische Vorgehen ja dann illustrieren soll, ist die Koordination 22 unterschiedlicher Corona-Warn-Apps noch in diesem Monat. Warum war es denn bislang nicht möglich in den vergangenen Wochen und Monaten, diese Warn-Apps besser zu koordinieren?
Liese: Ich hab mich schon sehr frühzeitig im Europäischen Parlament dafür eingesetzt, dass wir das gemeinsam tun, aber da gab es eben auch einen politischen Streit, und das hat mich sehr geärgert. Ganz am Anfang, im April/Mai, waren noch sehr viele Kollegen aus anderen Fraktionen, zum Beispiel bei den Liberalen, der Meinung, man muss eigentlich vor allen Dingen vor den Gefahren dieser Apps warnen, da angeblich die Datenschutzprobleme nicht gelöst seien.
Ich glaube, die sind gut gelöst, und deswegen ist es auch gut, wenn möglichst viele Menschen diese App nutzen. Wenn es immer mehr tun, dann hilft es immer besser, und gerade im grenzüberschreitenden Bereich, wo ja die Menschen, selbst wenn sie keinen Urlaub machen, einfach zur Arbeit hin und her fahren, da ist es einfach nötig, dass die Apps miteinander funktionieren. Und wenn wir hoffentlich durch die Maßnahmen jetzt die Inzidenz wieder runterbekommen, dann soll es auch möglich sein, dass wir wieder reisen, und dann ist es einfach notwendig, dass die Apps miteinander kommunizieren. Ich meine, das hätte viel früher gehen müssen, aber da war auch ein Teil des Europäischen Parlamentes leider auf der Bremse.
"In Belgien ist die Lage außer Kontrolle"
Heinlein: In welchen weiteren Feldern der Pandemiebekämpfung, Herr Liese, wäre oder ist denn eine europäische Zusammenarbeit noch möglich und sinnvoll? Viele fordern ja einheitliche Quarantäneregeln beispielsweise.
Liese: In der jetzigen Phase der Pandemie ist das Allerwichtigste, dass wir helfen, und ich glaube, das muss man sich immer wieder klarmachen, auch wenn wir die Diskussion in Deutschland sehen über diesen Teil-Lockdown, der ja vielen schon zu weit geht. In Belgien ist die Lage außer Kontrolle. Ich hatte gestern Kontakt mit einem Intensivmediziner in den Niederlanden, der sehr viel mit seinen Kollegen in Belgien redet, und da ist nicht mehr die Frage, ob man einen 70-Jährigen oder 80-Jährigen, der an COVID-19 erkrankt ist, behandelt, sondern die müssen schon entscheiden, ob sie einen 30- oder einen 50-Jährigen behandeln.
In den Niederlanden laufen die Intensivstationen auch voll, und da werden schon Krebsoperationen und Herzoperationen abgesagt. Das heißt, es ist ganz wichtig, dass wir helfen als Deutsche, und dass auch die Europäische Kommission ja in dieser Woche noch mal klargestellt hat, es gibt finanzielle Unterstützung für den Transport von Patienten, aber auch für die Hilfe, wenn Ärzte aus Deutschland oder anderen Ländern in diese Krisenregionen jetzt gehen. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste, dass wir jetzt Menschenleben retten. Und dann müssen wir, wenn hoffentlich die Maßnahmen wirken und die Zahlen wieder zurückgehen, auch über diese anderen Fragen wieder intensiver reden. Im Moment, um das einfach deutlich zu sagen, sollte niemand ohne Not in ein anderes Land reisen, wenn das nicht zu medizinischen Zwecken passiert. Und dann müssen wir über die Frage Quarantäne, Reisen, Urlaubsreisen und so weiter wieder intensiver reden, wenn wir das jetzt im Griff haben.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Gleiche Regeln nur bei gleicher Inzidenz
Heinlein: Sie haben die Triage in Belgien beschrieben, auch in Tschechien ist die Situation dramatisch, aber in anderen Ländern, hoch im Norden zum Beispiel, in Finnland, ist die Situation sehr entspannt. Warum sollte dieses europäische Land denn die gleichen Regeln haben wie eben zum Beispiel Tschechien oder Belgien?
Liese: Nein, die gleichen Regeln bei gleicher Inzidenz, das ist eine Forderung, die meine Fraktion schon im März erhoben hat, das heißt, wenn sich das Infektionsgeschehen gleich verhält, dann sollte es auch gleiche Vorsichtsmaßnahmen geben. Das heißt ja nicht, dass jemand, der praktisch keine Infektion hat oder sehr wenig sich so verhalten muss wie die, wo es schon praktisch außer Kontrolle geraten ist. Nur das Problem ist, das sehen wir ja auch in Deutschland, Gott sei Dank ist das jetzt überwunden, aber wir hatten ja auch monatelang bei ähnlichen Zahlen sehr unterschiedliche Regeln, und das hat halt die Akzeptanz in Deutschland und auch in Europa nicht unbedingt gefördert.
Heinlein: Herr Liese, Sie beschreiben die europäische Zusammenarbeit aktuell als sehr gut, aber es gibt ja auch nationale Alleingänge, das ist gar nicht so weit weg. Dänemark hat die Grenzen weitgehend wieder dicht gemacht, auch für die Besucher aus dem benachbarten Schleswig-Holstein. Wie groß ist denn die Gefahr aus Ihrer Sicht eines Europaparlamentariers, dass jetzt wie im Frühjahr die Schlagbäume wieder überall runtergehen?
Liese: Die Gefahr ist durchaus da, und was mich besonders geärgert hat, ist, dass Ungarn die Grenzen dicht gemacht hat für Europäer, unter anderem auch für Finnland, wo Sie ja zu Recht gesagt haben, da gibt es sehr wenig Fälle, aber für die, in Anführungsstrichen, Freunde aus den Visegrád-Staaten blieben die Grenzen offen. Wir wissen ja jetzt, dass Tschechien nach Belgien das Land ist, das am schlimmsten betroffen ist, also das waren politisch willkürliche Entscheidungen, und die sollte es sicher nicht geben.
"Dänemark hat das basiert auf Infektionszahlen gemacht"
Heinlein: Sie ärgern sich mehr über die Ungarn als über die Dänen.
Liese: Ja, definitiv, weil Dänemark das schon basiert auf Infektionszahlen und basierend auf konkreten medizinischen Kriterien gemacht hat und nicht eben nicht einseitig für einzelne Länder und andere bevorzugt hat.
Heinlein: Nach dieser Logik, Herr Liese, sollte Deutschland auch die Grenzen dicht machen zu Tschechien und Belgien.
Liese: Im Moment haben wir eine Situation, wo wir in Deutschland ein sehr hohes Infektionsgeschehen haben, und der Treiber des Infektionsgeschehens ist im Moment nicht der grenzüberschreitende Reiseverkehr. Aber wenn sich das ändert und wenn wir das Problem wirklich im Griff haben, dann müssen wir darüber nachdenken, das sag ich ganz klar. Wenn der Treiber des Infektionsgeschehens wieder die Grenzübertritte sind, wie das im Sommer war, dann muss man da gezielt handeln, das heißt nicht, Grenzen dicht machen, aber das heißt, dass man zum Beispiel touristische Reisen aus diesen Ländern meiner Ansicht nach eine Zeit lang dann einschränken müsste.
Heinlein: Ist das, was Sie hier sagen und fordern, Herr Liese, Konsens in Brüssel und Straßburg im Parlament oder ist das die Meinung Ihrer Fraktion, der EVP?
Liese: Nein, das ist erst mal meine Meinung als gesundheitspolitischer Sprecher und Arzt, weil ich sehe das Leid der Patienten, ich sehe auch die enorme Belastung der Pflegekräfte. In den Niederlanden sind viele Pflegekräfte von der ersten Welle noch mit psychischen Problemen zu Hause, weil das eine Krankheit ist, die auch Ärzte und Pflegekräfte ganz anders fordert als andere Erkrankungen. Deswegen glaube ich, müssen wir auch solche Maßnahmen in Erwägung ziehen, wenn es notwendig ist.
"Bin überzeugt, dass wir im Frühjahr einen Impfstoff haben"
Heinlein: Kann man also sagen, in Ihrer Brust schlagen zwei Herzen, Herr Liese, das Herz des Arztes und das Herz des Politikers?
Liese: Das ist ganz bestimmt so. Als Europaabgeordneter möchte ich offene Grenzen, aber als Arzt möchte ich auch Menschenleben schützen. Ich darf vielleicht noch mal einen Punkt sagen, weil Sie auch die Zusammenarbeit Europas angesprochen haben und weil ja auch viele Menschen sich jetzt fragen, wie das Ganze überhaupt weitergehen kann. Ich teile überhaupt nicht die Einschätzung von einigen Medizinerkollegen, die sagen, das wird jetzt noch ewig dauern und wir werden einen dritten und einen vierten Lockdown brauchen.
Ich glaube, wenn wir das jetzt gut hinbekommen – in Deutschland allemal, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern –, kommen wir gut durch den Winter, wenn wir uns jetzt anstrengen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir im Frühjahr einen Impfstoff haben. Das ist kein Versprechen, aber das ist eine Einschätzung, die ich habe, auch nach Gesprächen zum Beispiel noch diese Woche mit der Europäischen Kommission. Die Vertreterin der Europäischen Kommission hat im Gesundheitsausschuss öffentlich gesagt, dass sie damit rechnet, dass wir schon im April 100 Millionen Impfstoffdosen haben, und dann sieht die Situation anders aus. Dann ist die Pandemie nicht vorbei, aber dann können wir zum Beispiel Risikogruppen wirklich sehr viel besser schützen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.