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Indien
Kaum Hilfe für psychisch kranke Frauen

Knapp 30 Millionen Menschen in Indien sind psychisch krank. Sie bedürfen dringend ärztlicher Behandlung, doch es gibt kaum Psychiater. Die Zustände in den wenigen Kliniken sind miserabel. Bei Frauen werden psychische Störungen meist ignoriert, viele werden von ihren Familien versteckt.

Von Thomas Kruchem | 24.03.2018
    Eine Schizophrenie-Patientin liegt auf einem Bett in einer psychiatrischen Klinik in Indien
    Die wenigen Psychiater in Indien behandeln Patienten wie diese Frau mit Schizophrenie häufig nur mit Medikamenten. Für Psychotherapie fehlt die Zeit. (AFP/ Rebecca Conway)
    Jarnadapur, ein Dorf nahe der Großstadt Cuttack im Nordosten Indiens. Durch die Hauptstraße mit etlichen Läden drängeln sich Karren, Fahrräder und Frauen mit Einkaufstaschen; gegenüber dem größten Hindu-Tempel gibt es auch eine Moschee. In einem schmucken Steinhaus lebt die Familie des Lehrers Pravat Barik. Neben der Eingangstür stehen zwei Mopeds; Pravats Frau Sukodei kocht auf einem modernen Gasherd. Auf dem Betonboden der Terrasse jedoch sitzt eine magere Frau, vielleicht 40 Jahre alt, in lachsrot-lila geblümtem Kleid und gelber Jacke. Sie redet ununterbrochen vor sich hin. "Meine Schwägerin Senadei", sagt Sukodei Barik.
    "Seit sieben Jahren sitzt Senadei auf der Terrasse, schreit und schlägt um sich. Vor fünf Jahren fuhr mein Mann mit Senadei nach Cuttack, ins psychiatrische Krankenhaus. Sie habe eine Psychose, sagte der Arzt und verschrieb ihr Medikamente. Die Tabletten aber nahm Senadei nicht; sie spuckte sie dauernd aus. Und wir hatten irgendwann keine Lust mehr, ihr mit den Tabletten hinterherzurennen. Jetzt sitzt sie halt da; und ich muss sie füttern und waschen – wie ein kleines Kind."
    Senadei Barik zählt zu den fast 30 Millionen psychisch kranken Indern, die dringend ärztlicher Hilfe bedürfen. In Indien jedoch gibt es nur wenige Psychiater, im Bundesstaat Odisha ganze 40 für 40 Millionen Menschen. Hinzu kommt: Psychische Störungen bei Frauen werden meist ignoriert.
    Verheiratung ist wichtiger als Gesundheit
    Cuttack. Auf dem weitläufigen Gelände des staatlichen Krankenhauses stehen die Flachbauten des Instituts für psychische Gesundheit – eine der wenigen Einrichtungen im Bundesstaat , die psychische Erkrankungen behandeln. In den weiß gekachelten Zwölf-Bett-Zimmern der Frauenstation sitzen oder liegen Patientinnen auf Betttüchern oder blanken Matratzen. Eine Frau mit feingeschnittenem Gesicht starrt gegen die Wand – argwöhnisch beobachtet von ihrer Mutter, die einen teuren Sari und viel Goldschmuck trägt. Manasi Panda, die für die Station verantwortliche Sozialarbeiterin, schüttelt den Kopf.
    "Diese Patientin leidet seit zwei Jahren an Schizophrenie, ihr Bruder seit fünf oder sechs Jahren. Von diesem Bruder wurde sie mehrmals vergewaltigt. Die Eltern des Mädchens haben jetzt Angst, dass die Leute von der Krankheit der Tochter erfahren und niemand sie heiratet. Ihnen liegt die Verheiratung ihrer Tochter offenbar mehr am Herzen als deren Gesundheit."
    Etwas weiter: die geschlossene Frauenstation. Ein Wachmann mit einem langen Holzknüppel in der Hand öffnet die Gittertür zu einem dunklen Trakt fast ohne Fenster. Abbröckelnde Kacheln, schmutzige Fußböden, auch die Gänge vollgestellt mit Betten. Frauen schreien, weinen, wimmern, sprechen ins Nichts. Es riecht beißend nach Schweiß, Urin und Fäkalien.
    Medikamente, keine Therapie
    Die wenigen Psychiater hier behandelten fast ausschließlich mit Medikamenten, berichtet Manasi Panda. Für begleitende Psychotherapie fehle meist die Zeit. Generell sei nur ein Viertel der Patienten weiblich, erzählt Panda weiter. Denn viele psychisch kranke Frauen würden von ihren Familien eher versteckt als in eine Einrichtung gebracht.
    Das bestätigt die Psychotherapeutin Itimayee Panda. Sie leitet das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im Bundesstaat, nicht weit von Cuttack entfernt, betrieben von einer Hilfsorganisation. In langgestreckten, rot gestrichenen Gebäuden befinden sich die Schlafsäle. 240 Frauen zwischen 15 und 50 Jahren leben hier. Einige liegen auf Schlafmatten oder dem Betonboden der Säle; andere sitzen im Schatten der mit Stroh überdachten Terrasse oder laufen ruhelos hin und her, sprechen mit sich selbst. Dennoch: Eine friedliche Zuflucht vor der Außenwelt. Heimleiterin Itimayee Panda:
    "All diese Frauen haben keine Familie mehr. Man hat sie auf der Straße aufgelesen und im Polizei- oder Krankenwagen zu uns gebracht. Auch Frauen, die Angehörige in der Psychiatrie von Cuttack quasi entsorgen, landen schließlich bei uns."
    Nur ein Viertel der Frauen ist ansprechbar. Auch deshalb schaffen es Mitarbeiterinnen des Heims oft nicht, die Ursprungsfamilie ausfindig zu machen. Zwei junge Psychologinnen führen, soweit möglich, Gespräche. Und es gibt Veranstaltungen, bei denen im Heim lebende Frauen tanzen und Geschichten erzählen. Sie täten alles, um den von ihren Familien verstoßenen Frauen ihre Würde zurückzugeben, sagt Itimayee Panda. Das Heim jedoch sei völlig überfüllt und halte sich, mithilfe von Spenden, gerade so über Wasser. Der indische Staat zahle hundert Rupien, einen Euro 25, pro Patientin und Tag.