Ladensterben in den USA

Wie meine Straße ums Überleben kämpft

31:19 Minuten
Eine Straße mit Pflastersteinen und Altbauten im Bostoner Viertel Beacon Hill.
Der Bostoner Stadtteil Beacon Hill ist bekannt für seine engen Straßen mit Gasbeleuchtung und Bürgersteigen aus Backsteinen. © Imago / agefotostock / Fotosearch LBRF appalachianviews
Von Nora Sobich · 01.11.2020
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Über 20 Geschäfte haben seit Mitte März auf Bostons berühmter alter Charles Street im historischen Viertel Beacon Hill aufgegeben. Wo früher urbanes Leben blühte, geht seit der Coronapandemie die Angst vor dem Niedergang um.
Acht, neun Treppenstufen runter ins Tiefparterre. Bei "Shoe Repair" brummt die Schleifmaschine. Armen Ketsoian, Anfang sechzig, Armenier, legt den braunen Herrenschuh zur Seite und schiebt sich die Weitsichtbrille ins kurze graumelierte Haar. Sein Laden auf der Charles Street im historischen Viertel Beacon Hill in Downtown Boston ist kaum größer als eine Garderobe. Es riecht nach Schuhcreme, Gummi, Leder. An den Wänden hängt picobello sortiert altes Werkzeug. Gut läuft es nicht.
Als ich ihn das letzte Mal nach dem Lockdown gesehen hatte, wegen ein Paar Winterschuhen, blickte er nur aufs Regal mit den fertig reparierten Schuhen und sagte: "Von Stammkunden, sie sind verstorben, Covid. Ihre Schuhe werden sie nicht mehr abholen."

"Alle sitzen zu Hause in Pyjamas"

"Allen geht’s jetzt so, nicht nur mir! Schau doch die Straße an." Armen Ketsoian zeigt schräg gegenüber zu Ninos Pizzaladen: ein kleines Fastfood-Restaurant, wo sich leeres Gestühl im Schaufenster stapelt. "Nichts los. Keiner da, um Lunch zu essen. Alle machen Homeoffice, sitzen zu Hause in Pyjamas." Der Betrieb sei tot. Er lacht, als bliebe nichts anders übrig.
Blick aus dem Fenster auf die Charles Street mit ihren Gebäuden aus rotem Backstein.
Kleine Läden haben in den USA bisher kaum staatliche Hilfe erhalten.© Deutschlandradio / Nora Sobich
Die Schusterei sei über achtzig Jahre alt. Dreißig Jahre habe sie sein Vater geführt. Probleme hatten sie nie. Covid habe alles verändert. Selbst die Materialien, die er jetzt aus New York bestellen muss, seien teurer geworden. Dort hätten die Vertreter auch nichts zu tun. "Hoffentlich gehen sie nicht pleite."
Für kleine Geschäfte wie ihn – ohne Angestellte – gab es bisher kaum staatliche Hilfe, bloß die Einmalzahlung von 1200 Dollar, der sogenannte Trump-Scheck, den in Amerika jeder erhielt. "Gottseidank gibt mir mein Vermieter einen kleinen Discount. Dafür danke ich ihm. Er versteht die Lage, gewährt mir Aufschub mit der Miete, dass ich überleben kann."

Das Ende von Amerikas Tante-Emma-Läden?

Seit März haben in den Vereinigen Staaten geschätzte 70.000 kleine Geschäfte zugemacht. Von einem "turning point" des urbanen Lebens ist die Rede. Die "Financial Times" fragt Apokalypse-mäßig "Is this the end for America’s Mom-and-Pop-stores?", das Ende von Amerikas Tante-Emma-Läden? Auf der Charles Street, wo wir zwei Häuser weiter von "Shoe Repair" über der Irish-Pub-Institution "The Sevens" wohnen, muss man keine Statistiken lesen, um zu begreifen, was los ist: Direkt vor der Haustür klaffen jetzt die Lücken, zwischen Highend-Shopping und Nagelstudio, zwischen Luxushotel und einfacher Wäscherei.
Ein Graffiti auf Pressspanplatten verkündet: "We will get through this".
Solidarische Grüße auf den Brettern, die vor Vandalismus schützen sollten.© Deutschlandradio / Nora Sobich
Über zwanzig Läden schlossen in den letzten Monaten auf der alten "thoroughfare", - Durchfahrtsstraße in Beacon Hill, zu Füßen des denkmalgeschützten Hügels, wo auf dem "South Slope", dem Südhang, mal Bostons Brahmanen lebten, jetzt Hedgefonds- und Biotech-Manager, und auf der nördlichen Hügelhälfte sozusagen die Normalsterblichen. Wobei sich die Mieten und Grundstückspreise in der City von Boston überall auf New Yorker Niveau bewegen.
Mit ihren gediegenen unebenen Backstein-Bürgersteigen und schummrig pittoresken Gaslaternen sieht die schmale, zweispurige Geschäftsmeile, die sich gemächlich in zehn Minuten herunterschlendern lässt, eigentlich so aus, als könnte sich hier nie etwas ändern. Im Viertel geht es ein wenig wie in dem Film "Notting Hill" zu. Jeder kennt deinen Namen, es ist bürgerlicher, kein Hipster District - ein Dorf, das die große Stadt gleich nebenan hat: Regierungsviertel, Finanzdistrikt, Universitäten, Klinikareal und direkt gegenüber am Charles River das Massachusetts Institute of Technology, Harvard und die Biotech-Firmen. Dazu Horden von Touristen auf den Spuren der Amerikanischen Revolution. Jedenfalls war es bisher so.

Der Lockdown in Boston kam früher und restriktiver

In Boston – lange ein Hotspot der Krise – begann der dreimonatige Lockdown früher und restriktiver als in vielen anderen US-Städten, bereits Mitte März. Gleich in den ersten Wochen ging es los, schloss einer der verehrtesten Läden: das über Jahrzehnte wie eine Dickens’sche Geistesstube geführte Antiquariat "Eugene Galleries". Als nächster schloss "Fastachi", der piztaziengrün gestrichene Nussladen, dann floh die alteingesessene Vintage-Modeschmuck-Boutique vor einer Mieterhöhung ins Internet und schließlich machte "Artu", der Eck-Italiener, nach 25 Jahren die Türen zu. Aus und vorbei. Nie wieder die gute Nuss-Mischung, die man noch Tage später aus den Zähnen pulte. Nie wieder bei "Eugene Galleries" das mit Zinnfiguren, antiquarischen Karten, Drucken, Büchern wie ein kleines Diorama dekorierte Schaufenster bestaunen.
In der Lokalzeitung "The Beacon Hill Times" ist jetzt von einem "mass exodus of businesses" zu lesen. Kleine Modeboutiquen, Restaurants, der russische Trödel-Shop, selbst die Regionalbank "Hingham Savings" haben ihre Filiale dichtgemacht. Jeden Tag zwischen 12 und 13 Uhr ging der Filialeiter rüber zu Ninos Pizzaladen und kam mit einem flachen Karton in Jumbogröße zurück. In den letzten Tagen klebte an der Tür eine Notiz: Bitte klopfen, Please knock. We are still here. "Wir sind immer noch da." Drinnen wurde ausgemistet. Vor der Tür parkte ein LKW, in dem graue Tonnen verschwanden.
"We will miss you", "Wir werden euch vermissen", rief der Postbote den Angestellten noch nach. Jetzt hängt auch dort ein "For Lease"-, ein Zu-Vermieten-Schild. Wie in den anderen leergeräumten Schaufenstern. Bei manchen auch ein Abschiedsgruß: "Thank you for the memories, be well" oder "Thank you to our Beacon Hill Friends. We are sad to be closing this location." Viele Neubewerber gibt es anscheinend nicht. Alles ist erlahmt.

Angst vor anonymen Kettenläden

"Mein Gefühl ist, es wird für den Einzelhandel und kleine Geschäftsviertel erst völlig runtergehen müssen, bevor es wie ein Phönix aus der Asche wieder hochgeht. Und das kann Jahre dauern." Ali Ringenburg sitzt auf einer Holztreppe im großen hellen Raum ihrer Galerie "SloaneMerrill" auf der Charles Street. Sie ist Anfang dreißig, vor zehn Jahren kam sie aus Oldtown Alexandria bei Washington D.C. nach Boston, wo sie seit jeher auch Familie hat. Die Charles Street hatte ihr schon immer gefallen.
Ali Ringenburg an ihrem Schreibtisch.
Ali Ringenburg an ihrem Schreibtisch. Vor knapp zehn Jahren eröffnete sie ihre Galerie SloaneMerrill auf der Charles Street.© Deutschlandradio / Nora Sobich
Zu ihren Ausstellungseröffnungen kam - neben Künstlern und Freunden – auch immer gefühlt das halbe Charles-Street-Dorf. Jetzt sind nicht mehr als fünf Gäste bei Eröffnungen erlaubt. Covid habe für den Einzelhandel die Probleme des Internet-Shoppings noch verstärkt, meint Ali: der Lockdown sei für Online-Einkäufe und Homeoffice wie ein Crashkurs gewesen. "Ich habe von so vielen gehört, die die Stadt verlassen haben. In unserem Familienhaus in Western Massachusetts waren zwischenzeitlich über 14 Freunde und Verwandte. Jeder flüchtete dorthin."
Auf der Charles Street geht die Angst um, es könnte noch schlimmer kommen, weitere Läden schließen, in den Leerstand anonyme Kettenläden einziehen, die urbane Mischung zerstört werden. Ali nennt sie die "Pillars", die Säulen, unserer Straße: Post, Schuster, Schlachterei, Lebensmittelladen, Apotheke und Hardware Store: so etwas wie ein Baumarkt, nur kleiner und eben viel persönlicher. In "Our hood", wie die Charles-Street-Nachbarschaft – neighborhood – familiär genannt wird, ist normal gelebter Alltag, was in den USA schon Folklore sein soll: eine funktionierende Main Street, Hauptstraße.

Ein Hardware Store mit 24.000 Produkten

"Ja, es ist eine echte Nachbarschaft. Im Grunde auch sehr europäisch. Viele, die hier leben, kaufen wie ich jeden Tag ein. Auf dem Weg nach Hause gehe ich zum Lebensmittelladen und schaue, was gut aussieht." Jack Gurnon ist gerade dabei, sich einen Snack zu machen, als ich bei ihm im Hardware Store "Charles Supply &Co" vorbeischaue. Auf dem Counter beim Eingang, auf dem so viele Artikel herumliegen, dass man gar nicht anders kann, als sich beraten zu lassen, liegt ein frischer Apfel. Mit einem Holzspatel zum Farbemischen rührt Jack in einem Glas Erdnussbutter. Wenig später sitzen wir bei Michelle in Jacks Büro.
Porträt von Jack Gurnon hinter seinem Verkaufstresen.
Jack Gurnon im Hardware Store Charles Supply & Co.© Jack Gurnon / Charles Supply
"Mein Vater hat das Geschäft vor vielen Jahren gegründet. Ich bin froh, hier im Haus leben und arbeiten zu können, selbst wenn ich es schon seit 48 Jahre mache, ja, 48 Jahre." Jack ist ein sportlicher Neuengländer mit schulterlangen braunen Haaren, er könnte für Anfang 50 durchgehen. Als Junge hat er schon im Laden mitgearbeitet, ins Geschäft stieg er nach dem College 1977 ein. Ihm gehört das Haus, wo er mit seiner Frau und zwei Töchtern lebt. 24.000 Produkte hat man im Inventar. Es gibt alles, was man braucht oder brauchen könnte.
Wer neu in die Nachbarschaft zieht, schaue meist gleich bei ihm vorbei, meint Jack. Das stimmt – auch ich bin immer wieder da, weil es für "Charles Supply & Co" sozusagen nichts gibt, was sich nicht irgendwie lösen ließe. Von oben aus dem Verkauf ruft jemand an. Eine Kundin fragt, ob der bestellte Staubsauger da sei. Nach wie vor ein Engpass beim Lieferanten, sagt Jack. Falls es dringend ist, könne sie sich einen von ihnen leihen. Jack genießt ohne Frage die familiär lebendige Atmosphäre – im Laden, auf der Straße, im Viertel, wo die Geschäfte Teil der Community sind. Ich liebe unsere Nachbarschaft, sagt er leise.

Covid trifft Bars und Restaurants schlimmer als die Prohibition

Am Ende seiner E-Mails steht die Signatur "Think Globally – Shop locally". Nur so kann städtisches Leben funktionieren, hätten kleine Geschäfte eine Chance gegen Amazon und Kettenläden. Gegen die Konkurrenz großer Filialisten haben inhabergeführte Hardware Stores, die unverzichtbare Equipment-Zentrale jeder Main-Street, sich schon vor Jahrzehnten zu Einkaufsgenossenschaften zusammenschlossen. Während des Lockdowns konnten sie als "essential business" geöffnet bleiben."Wir haben seit dem 15. März durchgearbeitet. Aber wir haben sehr, sehr gute Freunde, die jetzt davon bedroht sind, ihr Restaurant zu verlieren. Sie können nicht arbeiten, sie können ihre Mitarbeiter nicht bezahlen, nicht ihre Rechnungen."
Zwei Personen studieren die Karten an einem Fensterplatz des Pubs The Sevens.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Seit Mitte März ist der legendäre Pub The Sevens geschlossen© Getty Images / Boston Globe / Jonathan Wiggs
Die Covid-Krise trifft viele schlimmer als die Prohibition. In Boston hat ein Fünftel der Bars und Restaurants bereits zugemacht. Die paar Restaurant-Tische, die jetzt am Straßenrand der Charles Street stehen, lohnen sich kaum. Ab November helfen im kalten Neuenglandwetter auch die Heizpilze nicht, deren Preis sich jetzt vervielfacht hat. "Unsere Regierung tut wirklich nichts, um ihnen zu helfen. Es ist ein völliges Durcheinander. Wir sind das reichste Land der Welt, wir haben die beste Kommunikation, aber die schlechteste Führung überhaupt."
Im Kiez erzählt man sich eine märchenhafte Solidaritätsgeschichte: 1963 brannte "Charles Supply & Co" katastrophal ab, jemand hatte den Abfall hinterm Haus angezündet, und der Vater von Jack besaß keine Brandschutzversicherung. Aus der Nachbarschaft, den Stadthäusern up-the-hill, kam ein Unbekannter und überreichte ihm einen Scheck. Heute bräuchten einige so einen Samariter-Scheck. An den Wänden in Jacks Büro – früher mal, wie er erzählt, eine asiatische Wäscherei – hängen Schwarzweiß-Aufnahmen von Ende des 19. Jahrhunderts, als die Charles Street erweitert und dafür die Kirche umgesiedelt wurde, eine der ersten afroamerikanischen in Boston, später wurde sie Meeting House, heute befinden sich hier moderne Büros. Ein Beispiel dafür, dass sich auch die Charles Street immer wieder neu erfunden hat.

Der Apotheke fehlt die Laufkundschaft

Jack erzählt weiter: Bis in die Achtziger krachte noch der City-Verkehr durch, war sie zentrale Ausfahrtsstraße. An einem Freitag, als es Bostons damaligem Bürgermeister Kevin White, der selbst im Viertel lebte, nicht gelang, während der Rushhour die Straße zu überqueren, beschloß er, deren Richtung zu wechseln. Statt raus, rein in die Stadt. Das half. Seit jenem Montag im November 1982 können sich die Fußgänger besser bewegen. So wurde die Charles Street zur Flanier- und Shoppingmeile. Aber selbst ein wiedergefundenes städtisches Leben hat keine Garantie.
Seth Freedman ist Apotheker bei Gary Drugstore, Bostons ältester, wenn nicht gar letzter unabhängiger Apotheke: an der Ecke Charles Street - Mount Vernon Street, die steil hoch zum Louisburg Platz führt, wo der ehemalige US-Außenminister John Kerry einen efeuumrankten "Brownstone" bewohnt. Seth Freedman lugt von hinten, wo man ihn nie sieht, nach vorn in den Verkauf. Neben ihm lacht Gail Brail, Anfang Sechzig, kurze graue Haare, strahlendes Gesicht. Sie ist die Seele des Ladens, ihre Schwester arbeitete schon bei Gary Drugstore, auch ihre Tochter und jetzt ihre Neffe. Der Laden, seit einem halben Jahrhundert in Familienbesitz, ist so schmal, dass man kaum aneinander vorbeikommt: doch irgendwo findet sich quasi alles. Filmcrews waren auch schon da, vor einigen Jahren Denzel Washington. In der Community eine Institution.
"Wir kennen die Menschen hier sehr gut, besonders die, die seit vielen Jahren zu uns kommen. Und die Beziehung, die wir zu ihnen haben, ist sicher besser als die von Kettenläden mit täglich 400 bis 500 Verschreibungen." Konzern-Apotheken haben in Amerika inhabergeführte Apotheken so gut wie verdrängt. Doch so selbstverständlich Gary Drugstore heute an seiner Ecke sitzt, es ist immer auch Überlebensarbeit, die Covid-Krise auch hier zu spüren.

Dem Waschcenter fehlen die Hemden der Anzugträger

Gary Drugstore gehört das Haus, in dem sie ihr Geschäft betreiben. Auch ohne Covid sind die schwindelerregenden City-Mieten und Immobilienpreise für kleine Stores längst zum Problem geworden. Jetzt fehlen vor allem auch die Passanten, die Laufkundschaft: Studenten, Touristen, die Sportfans der Boston Red Sox und Bruins, die Sonntags zielstrebig den legendären Pub unter meiner Wohnung ansteuerten, um dort mit ihrem Pint den Sieg zu feiern oder die Niederlage herunterzuspülen. Und natürlich die Büroangestellten, die "white collar worker".
Den Reinigungen ist das Geschäft ohne die Anzugträger mit ihren Oberhemden völlig eingebrochen. Am Ende der Charles Street, direkt bei der U-Bahnstation "Charles/MGH" und dem Krankenhaus MassGeneral, geht es einen kleinen Durchgang in eine Nebenstraße: Key, Anfang Sechzig, klein und athletisch, steht vor der Tür des Waschcenters WestCeder Laundromat und strahlt.
Er ist wie aus einem Roman gefallen, schon wegen seiner bewegten Lebensgeschichte, als Sohn eines chinesischen Fabrikanten wuchs er in Vietnam auf, bevor er in die USA kam und sich durchschlug. Key will wissen, wie es in Deutschland war. Zu Covid hat er allerhand abenteuerliche Theorien. Seine Einnahmen, sagt Key, seien runter, er mache nur noch 25 Prozent von dem vor der Krise. In der Woche kaum mehr als 200 Dollar. Pleite würde das Wasch-Center aber nicht gehen. "Nein, weil sie das Gebäude besitzen. Sie bezahlen keine Miete. Darum geht’s. Wenn du Miete bezahlst, schaffst du es nicht. Keiner schafft es, der Miete bezahlt." Angst vor einem zweiten Lockdown hat Key nicht. Geld von der Regierung habe er nie genommen, sagt Key, und dass er mehr Steuern als Trump zahlt. Er lacht. Er lacht eigentlich immer. Oder er sagt einen Satz, den man dann für Wochen nicht mehr vergißt wie: "Was jetzt besteht, lass es, lass es ruhen, jedenfalls für eine Zeit."

Inmitten des Ladensterbens öffnet ein echter Buchladen

Es ist auch ein Generationswechsel, der auf der Charles Street stattfindet, den die Krise forciert hat. Einige Traditionsläden, die über Jahrzehnte den "Charakter" der Straße bestimmten, haben ihre ohnehin geplante Geschäftsaufgabe Covid-bedingt vorverlegt: das Antiquariat "Eugene Galleries" zum Beispiel. Der Eckitaliener "Artu", der nach 25 Jahren schloss, hat in Bostons "Little Italy", dem North End, noch sein Hauptgeschäft. Und "Fastachi", der heißgeliebte Nussladen im Kiez, der nur "Our nut store" genannt wurde, hatte sogar Glück: die Geschäftsaufgabe war noch vor Covid geplant. Sie haben in den letzten Monaten alle ihrer drei City Filialen geschlossen, wollen sich mehr aufs Hauptgeschäft, Großhandel und Internet, konzentrieren. Die Charles Street sei eine gute Adresse, um eine Brand bekannt zu machen. Acht Jahre waren sie dort. Die Straße habe sich verändert, meint Souren Etyemezian.
Porträt von Melissa Fetter am Fenster ihres künftigen Buchladens.
Melissa Fetter, im Herbst 2021 wird sie - wenn alles gut geht - auf der Charles Street einen dreistöckigen Buchladen plus Café eröffnen.© Deutschlandradio / Nora Sobich
"Als wir öffneten, war sie noch ein Ausflugsziel in der Stadt mit vielen Antiquitätenläden und kleinen Geschäften. Dann gingen die Mieten hoch und große Marken kamen rein. Auch zu viel Kaffee. Wir haben nicht mehr die Kunden gekriegt, die wir suchten. Auch Boston hat sich verändert, es gibt viele neue Viertel wie den Seaport District. Das heißt, die Konsumenten verteilen sich." Als mich Souren Etyemezian später in seinem Kleintransporter herumfährt und wir auf der Charles Street noch ein wenig im Auto plaudern, winkt ihm gleich die erste Passantin zu :"Oh – wir vermissen Dich."
Eben Handel und Wandel. Irgendwie geht es weiter. Im Oktober fiel nach wochenlangen Bauarbeiten das Gerüst vor der Charles Street 71. Jahrzehntelang befand sich dort ein feines Restaurant - Hungry I. Jetzt wird der "Brownstone" noch von Innen renoviert, und dann zieht ein Buchladen mit Café auf drei Stockwerken ein. Einen echten Buchladen – auch die sind in Amerika so gut wie ausgestorben - direkt nebenan zu haben, ist wie Weihnachten. Es seien unsichere Zeiten für den Einzelhandel, meint Melissa Fetter, die seit einem Jahr an dem Projekt arbeitet, und selbst in Nachbarschaft lebt. Aber sie werde weitermachen. Auch um ein positives Signal zu setzen. Im Herbst nächsten Jahres soll Eröffnung sein.
Ein langer Atem ist gefragt, vor allem auch im noch immer pausierenden Herzen der Straße: dem Irish-Pub "The Sevens", zwei Stockwerke unter uns. "It’s a sad story", sagt Jules, die sich gerade in Quarantäne befindet. Ruf mich: "I’m around." Unfassbar, seit Mitte März, seit in Boston der Lockdown begann, haben dort die Türen zu. Ist Stille. Jack Kiley, unser Vermieter, gehört das Haus, anders wäre die Covid-Zwangspause kaum zu überstehen. Die Neighborhood-Institution betreibt er seit 1973. Jetzt mit seinen beiden Töchtern.
Wann es weitergeht? Alles ist noch ungewiss. Aber es wird weitergehen, sagt Jules, wir halten durch.
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