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Indische Straßenhändler "würde das extrem treffen"

Barbara Lochbihler, Fraktion der Grünen im Europaparlament, sieht mit dem derzeit verhandelten Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien hin zu einer Marktöffnung "die Interessen von sehr vielen armen Menschen in Indien und auch der Mittelschicht" gefährdet.

Barbara Lochbihler im Gespräch mit Christoph Heinemann | 10.02.2012
    Christoph Heinemann: In Neu-Delhi findet heute der 12. EU-Indien-Gipfel statt. Auf der Tagesordnung steht ein geplantes Handelsabkommen. Die EU-Kommission und die indische Regierung wollen sich über zentrale Aspekte einigen, unterschrieben wird wahrscheinlich heute nichts. Immerhin wird seit 2007 verhandelt. Die Europäische Union setzt sich für eine umfassende Öffnung der Märkte in Indien ein. So weit, so gut, könnte man sagen, gäbe es da nicht eine Warnung. Das katholische Hilfswerk Misereor und die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung befürchten, dass die Lebensgrundlage von Millionen kleiner Händler bedroht sei, wenn die Regierung in Neu-Delhi Forderungen der EU zustimme. Als Beispiel nannten sie die Expansion von europäischen Supermärkten in Indien, vor allem Straßenhändler wären die Leidtragenden einer solchen Entwicklung, da sie wegen geringer Bildung und Ressourcen kaum andere Einkommensmöglichkeiten hätten.

    – Barbara Lochbihler war Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, ist heute Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament, dort stellvertretendes Mitglied der interparlamentarischen Delegation für Indien. Guten Morgen.

    Barbara Lochbihler: Guten Morgen.

    Heinemann: Frau Lochbihler, ein angestrebtes Ziel ist die Öffnung des indischen Marktes. Befürworten Sie offene oder abgeschottete Märkte?

    Lochbihler: Ja, das ist sehr differenziert zu sehen. Ein unregulierter freier Markt und ein Handel ist sicher keine Option und existiert so auch nirgends. Eine komplette Abschottung ist natürlich auch falsch. Deshalb muss man abwägen, was sind die individuellen Rechte und Bedürfnisse der Menschen und was sind gesellschaftliche Prioritäten, wie gerechte Verteilung des Wohlstands und Umweltschutz. Und da sehe ich schon als Menschenrechtlerin, dass man mit so einem Abkommen die Interessen von sehr vielen armen Menschen in Indien und auch der Mittelschicht gefährden würde. Und wir haben uns als europäische Abgeordnete an den EU-Kommissar de Gucht gewandt und gefordert, dass er dieses Freihandelsabkommen nicht weiter verhandelt.

    Heinemann: Und was sollte stattdessen kommen?

    Lochbihler: Man müsste eine Pause machen und neu verhandeln und die Armutsbekämpfung und die Menschenrechte als Ziel eines solchen Abkommens sehen. Es ist ein Grundsatz europäischer Handelspolitik, dass man den freien Handel fördert, aber gleichzeitig universelle Werte wie zum Beispiel den Menschenrechtsschutz und soziale Gerechtigkeit. Und das sehe ich hier überhaupt nicht gegeben. Sie haben jetzt die Situation der Straßenhändler angesprochen, die ihre Arbeit verlieren würden. Es wird argumentiert, na ja, in anderen Bereichen würden Arbeitsplätze geschaffen, wie zum Beispiel, wenn Supermarktketten dort eingerichtet würden. Die Böll-Stiftung hat aber geschätzt, dass zwei Mal so viele mehr Menschen ihren Job, ihre Arbeit verlieren würden, wenn das geschieht. Oder denken Sie daran, dass mit der Marktöffnung europäische Agrarprodukte nach Indien geliefert werden können und dort die Kleinbauern und die Bauern, die wären dann nicht mehr konkurrenzfähig und das Erwirtschaften der Lebensmittel für die eigene Bevölkerung wäre dann nicht mehr gesichert.

    Heinemann: Nur grundsätzlich gilt doch, dass Marktöffnungen Arbeitsplätze und auch Wachstum schaffen können. Und das wird dringend benötigt, denn gerade musste die Regierung in Neu-Delhi die Prognose für das laufende Fiskaljahr auf 6,9 Prozent senken – angepeilt waren mindestens 10.

    Lochbihler: Ja. Man muss daran denken, Arbeitsplätze zu schaffen. Man muss aber auch schauen, wie schnell zum Beispiel oder wie einseitig Märkte geöffnet werden. Und ich muss mich hier wiederholen: Wenn man an die vielen Straßenhändler denkt, die würde das extrem treffen. Und wenn sie ins Zentrum immer die Personengruppen stellen, die eben arm sind, die auch den Schutz und die Förderung des Staates brauchen, dann wird so eine schnelle Marktöffnung nicht dazu führen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden in einem größeren Kreis. Wenn Sie sich überlegen, dass in Indien auch keine sozialen Auffangnetze bestehen für die ärmeren Schichten, dann hat das wirklich eine Verelendung zur Folge. Und die Gewinne, die dann europäische Konzerne einfahren, durch die Investitionen dort, die kommen ja nicht unbedingt zwangsläufig der indischen Gesellschaft zugute, sondern werden wieder an die Firmensitze in die Länder in der EU transferiert.

    Heinemann: Aber gilt dieses Schutzbedürfnis für Arbeitnehmer nicht für jede Branche?

    Lochbihler: Das gilt für jede. Ich habe jetzt nur diese zwei herausgegriffen.

    Heinemann: Also, dann könnte man quasi mit Indien überhaupt kein Handelsabkommen abschließen?

    Lochbihler: Es kommt ja darauf an, wie sie das machen. Ich als Menschenrechtlerin schau natürlich darauf, wo es wirklich um Existenzielles geht. Da nehme ich noch ein weiteres Beispiel: das Recht auf Gesundheit. Das ist ein Menschenrecht. Das heißt, dass jeder Mensch in der Lage sein muss, Medizin zu bekommen, die er sich auch leisten kann. Es gibt jetzt in Indien viele Unternehmen, indische Unternehmen, die preisgünstig Medizin produzieren können. Würde dieser Markt jetzt geöffnet, dann könnten sie das nicht mehr und die Menschen wären nicht mehr in der Lage, die armen, sich diese Medizin zu kaufen. In dem Feld kommt sogar hinzu, dass die indischen Produzenten für erschwingliche HIV-Aids-Medizin ungefähr zu 80 Prozent den weltweiten Bedarf decken. Und die könnten dann nicht mehr so günstig produzieren mit diesem Abkommen.

    Heinemann: Frau Lochbihler, ist das nicht die alte Dritte-Welt-Rhetorik? Mal anders gefragt: Asiatische Exporteure haben in der Regel auch wenig Mitleid mit europäischen Produzenten oder mit europäischen Arbeitnehmern. Sollte man nicht doch den Kunden die Freiheit geben, zwischen einheimischen oder ausländischen Waren zu wählen?

    Lochbihler: Das kann man natürlich schon, bei uns den Kunden die Freiheit geben, aber man muss sich eben schon bewusst sein, auch als Konsument hier, was man damit anstellt. Und es ist positiv, dass es bei uns schon ein wachsendes Bedürfnis gibt, dass man eben nicht Produkte kauft, die vielleicht hier günstig sind, oder die ich gerne mag, weil sie exotisch sind, aber die in ihrer Auswirkung das Leben von vielen Menschen, vor allem der armen Bevölkerung in Indien gefährden.

    Heinemann: Wer schützt europäische Arbeitsplätze vor asiatischen Importen?

    Lochbihler: Ja, da wird es auch einzelne Abkommen geben, nehme ich an, und hier wird im Einzelnen sicher auch auf europäischer Seite verhandelt.

    Heinemann: Also, man muss aber europäische Arbeitsplätze auch schützen, meinen Sie?

    Lochbihler: Das denke ich ja, denn je nach Segment des Arbeitsplatzes ist das wichtig. Und wir sehen das ja, wenn es Abwanderung gibt innerhalb der EU, das hält nicht lange an und dann wandern sie noch weiter ab. Wir haben ja in einzelnen Ländern eine extrem hohe Arbeitslosigkeit, denken Sie an Spanien mit über 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, da müssen natürlich der Staat und die Europäische Union besonders investieren.

    Heinemann: Extrem weiter gedacht hieße das, man müsste eigentlich den Handel einstellen.

    Lochbihler: Nein! Als Menschenrechtlerin habe ich einen besonderen Blick auf den Handel. Er darf nicht dazu führen, dass er Menschenrechtsverletzungen noch erweitert. Also ich fordere hier, dass die EU eine Handelspolitik macht, wo sie die einzelnen Abkommen, die sie verhandelt, einer Menschenrechtsprüfung unterzieht, die verpflichtend ist. Wir haben in einzelnen Handelsverträgen eine Menschenrechtsklausel drin, die dann heißt, man kann es aussetzen, wenn es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt. Die wird kaum angewandt. Und es darf nicht nur bei der Rhetorik bleiben, dass man Handelsliberalisierung fördert, die ja oft nicht im Sinne der ärmeren Bevölkerung ist, sondern man muss auch noch konsequent im Einzelnen nachschauen, wie wirkt sich das aus. Und das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht, genauso wie das Recht auf Gesundheit.

    Heinemann: Frau Lochbihler, Sie haben die Menschenrechte mehrfach angesprochen und die Armut in Indien. Taugt der Westminster-Parlamentarismus für ein Milliardenvolk?

    Lochbihler: Die Alternative wäre was? Also, was taugt? Eine autoritäre zentralistische Regierung taugt auch nichts im Sinne für die Menschenrechte. Das sehen wir ja in autoritären Regierungen.

    Heinemann: Darf ich kurz unterbrechen?

    Lochbihler: Es ist aber so, dass in offenen Gesellschaften – Entschuldigung! – die Zivilgesellschaft gut organisiert ist wie in Indien und Missstände leichter auf die Tagesordnung gesetzt werden.

    Heinemann: In China gilt der Hunger weitgehend als besiegt – weitgehend als besiegt. In Indien sind rund 225 Millionen Menschen unterernährt. Welches System ist für die Menschen besser?

    Lochbihler: In China ist für viele Menschen es nicht gut, dass der Staat extrem repressiv vorgeht, dass er diejenigen, die Missstände angeben, zum Beispiel wenn man Blutkonserven, die verseucht sind, wenn man darüber reden will, werden die Leute inhaftiert. Also, es ist kein Automatismus, dass es da besser ist. China war natürlich sehr gut und konsequent – und das war absolut notwendig -, den Hunger zu bekämpfen, und das muss man auch von der indischen Regierung fordern. Das liegt aber nicht an dem System der Demokratie, sondern am politischen Willen, das durchzusetzen.

    Heinemann: Barbara Lochbihler, Abgeordnete der Grünen im Europäischen Parlament. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lochbihler: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.