Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Informationsgewinnung
Wozu noch Bibliotheken?

Das Informationsmonopol, das wissenschaftliche Bibliotheken jahrhundertelang hatten, ist gekippt. Wer heute rasch eine Information braucht, geht nicht mehr in eine Bibliothek, sondern benutzt eine Suchmaschine im Internet.

Von Michael Knoche | 17.12.2017
    Blick in die Bibliothek mit Büchern auf Borden, stuckverzierten Wänden, Durchgängen und einer Empore
    Blick in die restaurierte Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar (imago / Jürgen Ritter)
    Welche Bilder hat Leonardo da Vinci gemalt? Die Antwort lässt sich in Windeseile ermitteln, sobald man mit dem Eintippen der Frage fertig ist. Kommerzielle Suchmaschinenanbieter sind die besseren Infomationsvermittler. Bibliotheken funktionieren zwar auch wie Suchmaschinen, aber ihre schönste Aufgabe besteht darin, Orte zu sein, wo Nutzer etwas finden, was sie nicht gesucht haben.
    Michael Knoche - bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar - schreibt in seinem umfassenden Essay über die Herausforderungen des Internets, unvorstellbare Kosten von wissenschaftlichen Publikationen, den Mehrwert durch Verlage und über Sinn und Grenzen von Open-Access-Systemen.

    Das Manuskript zum Nachlesen:
    Das Informationsmonopol, das Bibliotheken jahrhundertelang innehatten, ist gekippt. Wer heute rasch eine Information braucht, geht nicht mehr in eine Bibliothek, sondern benutzt eine Suchmaschine im Internet. Wer etwa wissen will, welche Bilder Leonardo da Vinci gemalt hat, findet die Antwort in Windeseile, sobald er mit der Eingabe der Frage fertig ist.
    Will man einer Frage tiefer nachgehen, wer zum Beispiel die historische Person hinter der Mona Lisa auf dem Gemälde Leonardos war, liefert das Internet eine Vielzahl von Antworten, darunter wertvolles Wissen und unbewiesene Behauptungen. In manchen Ländern zeigen die Suchmaschinen die Debatte um die mögliche homosexuelle Orientierung des Malers und seines Modells nur lückenhaft an. Den neuesten Stand der Forschung aber wird man verlässlich nur unter Einbeziehung von gedruckten kunsthistorischen Büchern ermitteln können, wie sie in einer spezialisierten Bibliothek verfügbar sind. Denn die kunsthistorische Forschung ist nur zum Teil über das Internet zugänglich und zum größeren Teil ausschließlich gedruckt publiziert.
    Sollte sich dieser Befund in einigen Jahren umkehren und mehr kunsthistorische Erkenntnisse in digitaler als analoger Form verfügbar sein, wird man trotzdem gut daran tun, den Forschungsstand in einer Bibliothek zu recherchieren. Denn so wie gedruckte kunsthistorische Bücher Geld kosten, kosten auch kunsthistorische E‑Books, Zeitschriften und Datenbanken Geld. Diesen finanziellen Aufwand bringen Bibliotheken auf und verwandeln so das private Gut der Urheber von Erkenntnissen in ein öffentliches Gut, das allgemein zugänglich ist. Sie halten auch Publikationen vor, die selten genutzt werden oder in der Beschaffung und Aufbereitung besonders teuer waren. Eine einzelne Person wäre organisatorisch und finanziell wohl überfordert, wollte sie sich auch nur die relevante Literatur zur Mona Lisa zusammenkaufen.
    Etwas finden, nachdem man nicht gesucht hat
    Die Sammlungen der Bibliotheken dokumentieren den Stand des Wissens auf bestimmten Gebieten und schaffen so einen Mehrwert über die Einzeldokumente hinaus. Ein Bibliotheksbestand kann Informationen und Anregungen bieten - vorausgesetzt, er ist reich, einladend, zugänglich und begünstigt Entdeckungen. Es ist ein Missverständnis zu glauben, Wissenschaftler würden Bibliotheken nur aufsuchen, wenn sie eine bestimmte Frage hätten. Bibliotheken funktionieren zwar auch wie Suchmaschinen. Aber ihre schönste Aufgabe besteht darin, Orte zu sein, wo Nutzer etwas finden, was sie nicht gesucht haben. Gute Bibliotheken sind für Überraschungen gut. Auch im Netz kann man Überraschungen erleben. Aber bibliothekarische Sammlungen eröffnen Zugänge jenseits der eingespielten Suchalgorithmen und Trampelpfade des Wissens.
    Wenn Wissenschaftler selbstbewusst verkünden: Ich brauche keine Bibliothek, ich habe alles im Netz. Dann hört sich das an wie der Kalauer aus den 1980er-Jahren: Wieso Atomstrom? Bei mir kommt der Strom aus der Steckdose. Wie aber kommen wissenschaftliche Publikationen ins Internet? Zum wesentlichen Teil durch Bibliotheken! Der Wissenschaftler mag darauf verzichten, sich selber in das Gebäude der Bibliothek zu begeben, tatsächlich aber nutzt er Dienstleistungen der Bibliothek, wenn er über seinen Computer auf hochwertige elektronische Ressourcen seines Fachgebiets zurückgreift. Bibliotheken haben sie nach definierten Prinzipien aus einer Riesenmenge an Material ausgewählt, gekauft und in Katalogen angezeigt, das heißt zugänglich gemacht. Außerdem reichern sie das "Netz" selber mit riesigen Mengen an Büchern und Zeitschriften an, indem sie die Bestände konvertieren, die urheberrechtsfrei sind. Bibliotheken fallen im Internet nicht besonders auf und bleiben weitgehend unsichtbar.
    Das Internetangebot weist nach wie vor riesige weiße Flächen auf. In den Geistes- und Kulturwissenschaften erscheinen wissenschaftlich relevante Publikationen, darunter die klassische geisteswissenschaftliche Monographie oder relevante Primärtexte (zum Beispiel in Literatur, Philosophie oder Musik) immer noch ausschließlich auf Papier. Die deutschen Verlage bringen pro Jahr 73.000 gedruckte neue Bücher heraus. Von den Zeitschriften, die die Bayerische Staatsbibliothek abonniert, liegt nur ein gutes Drittel auch in elektronischem Format vor. Weiterhin fehlt im Netz der größte Teil der urheberrechtlich geschützten Publikationen des 20. Jahrhunderts. Daher ist die Annahme, "ein Großteil" der Literatur sei bereits digital vorhanden, nur vertretbar, wenn man sie strikt auf die aktuelle Literatur der Naturwissenschaften, Technik und Medizin eingrenzt. Für die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ist sie falsch und fahrlässig.
    Kommerzielle Suchmaschinenbetreiber als Informationsvermittler
    Das Informationsmonopol der Bibliotheken ist tatsächlich gekippt. Kommerzielle Suchmaschinenbetreiber sind die besseren Informationsvermittler. Trotzdem ist niemandem zu raten, sich bei komplexen Fragen mit Antworten zu begnügen, die von den personalisierten und auf Gewinn ausgerichteten Ranking-Mechanismen der Suchmaschinen vorgeschlagen werden. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass Suchmaschinen gar nicht alle Dokumente in der Tiefe des Netzes erreichen. Die nichterfassten Bereiche des Internets sind weitaus umfangreicher als die indizierbaren Informationen.
    In dieser Situation bleiben Bibliotheken unverzichtbar in ihrer Funktion als neutrale, verlässliche und kostenfrei zugängliche Orte, an denen man sich über den Stand des Wissens an Hand von ausgewählten Publikationen umfassend unterrichten kann. Die Idee der Bibliothek ist nach wie vor stark und notwendig.
    Auch wenn das Angebot unentgeltlich zugänglicher Publikationen im Netz wächst, die Wissenschaft ist in erster Linie auf die kostenpflichtigen neuesten Forschungsergebnisse angewiesen, die von Verlagen in Form von Zeitschriftenartikeln, E-Books und Datenbanken angeboten werden. Aber es ist für wissenschaftliche Bibliotheken eine große Herausforderung, die elektronischen Publikationen in ihrer ganzen Vielfalt und dauerhaft stabil bereitzustellen.
    Die fünf größten internationalen Verlage - Elsevier, Springer Nature, Wiley-Blackwell, Taylor & Francis, Sage Publications beziehungsweise American Chemical Society - veröffentlichen in ihren Organen mehr als 50 Prozent aller wissenschaftlichen Artikel - und zwar mit steigender Tendenz. Das gilt für die Wissenschaft insgesamt. In einzelnen Fächern ist die Machtkonzentration dieser Verlage noch viel höher. In den Geisteswissenschaften ist sie vergleichsweise gering.
    Die Produkte der kleineren Verlage oder solche, die außerhalb des Buchhandels erscheinen, sind heute in den Bibliotheken oft noch unterrepräsentiert, weil der Bibliotheksetat eher für die großen Paketkäufe immer derselben großen Verlage reserviert wird und der Arbeitsaufwand für die vielen Verträge mit kleinem Volumen zu groß ist. Auch der Zusammenschluss von Bibliotheken zu Einkaufskonsortien trägt zu einem konformen Angebot bei. Daher sieht es in vielen Bibliotheken so aus wie in den 1a-Lagen unserer Großstädte: von Kiel bis Konstanz überall dieselben Handelsketten.
    Will eine Bibliothek nicht einseitig nur die Produkte der großen Verlagshäuser anbieten, muss sie sich mit einer großen Menge von Verträgen der mittleren und kleineren Verlage auseinandersetzen. Unterschiedliche Nutzungsbedingungen, Lizenzzeiträume, Anzahl von simultanen Zugriffsrechten, Bezahlwege, Berichtspflichten, Statistiken, Gewährleistungsregelungen und viele andere Parameter sind minutiös zu beachten, bevor die Bestände ins eigene System eingespielt und freigegeben werden können. Die Bestimmungen sind extrem unterschiedlich. Die Kosten sind abhängig davon, wie viele Publikationen in dem Paket enthalten sind und wie viele Nutzer gleichzeitig darauf zugreifen dürfen.
    Solche überkomplexen Regelungen machen das Alltagsgeschäft in den Bibliotheken teuer und langsam. Bisher haben sich nur ansatzweise allgemein verbreitete Geschäftspraktiken herausgebildet. Das merken auch die Nutzer von Bibliotheken: Sie können gar nicht verstehen, dass sie Teile des einen E-Books herunterladen und ausdrucken können, ein anderes aber nur lesen dürfen.
    Krisenanfällige Lizenzmodelle
    Die Bücher und Zeitschriften bleiben auf den Verlagsservern und werden entweder befristet lizenziert oder dauerhaft zugänglich gemacht. Amazon‑Kunden kennen das Modell. Kein E-Book auf ihrem Kindle gehört ihnen wirklich. Ein Eigentumswechsel ist nicht möglich, die Nutzungsfunktionalitäten und Archivrechte existieren nur eingeschränkt. Bloße Zugriffsrechte haben den Nachteil, auch wieder entzogen werden zu können. Im Jahr 2009 hat Amazon die Romane 1984 und Animal Farm des britischen Schriftstellers George Orwell von den Kindle-Geräten ihrer Kunden einfach gelöscht. Die Firma hatte zu spät bemerkt, dass sie die Rechte an den beiden Werken nicht besaß. Einigen Lesern entschwand der Text während des Lesens vom Bildschirm. Die kleine Rückerstattung, die ihnen zustand, konnte ihren Ärger über den plötzlichen Entzug nicht abmildern.
    Dieses Beispiel macht deutlich, wie krisenanfällig das Lizenzmodell generell ist. Die kommerziellen Anbieter wollen sich die Verfügungsgewalt über ihre digitalen Produkte nicht aus der Hand nehmen lassen. Die Bibliotheken aber müssen mit aller Macht versuchen, wenigstens eine Kopie dauerhaft und zentral archivieren zu dürfen. Sonst bewegt sich die wissenschaftliche Kommunikation weiter auf dünnem Eis. Es gehört aber zum Kern des Verständnisses von Wissenschaft, die Vorarbeiten anderer zitieren und das Geschriebene im Zweifel nachprüfen zu können. Früher haben Bibliotheken es geschafft, diesen Kokon von aufeinander verweisenden gedruckten Texten zu sichern und verfügbar zu halten. Heute stehen sie vor einer viel größeren Herausforderung.
    Digitale Objekte sind leicht zu verändern, permanent zu aktualisieren, ja geradezu fluid. Manchmal handelt es sich um laufend aktualisierte Textkonglomerate, die gar keine lineare Struktur mehr haben. Hinzu kommt: Wissenschaftliche Texte im Netz stammen häufig von zahlreichen Urhebern oder sind sogar nach dem Wiki-Prinzip hergestellt. Das macht die traditionelle Sammelaufgabe der Bibliotheken, die sich auf elektronische Publikationen erweitert hat, zu einem Kunststück, wie den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Der Medienmix, dem Bibliotheken gerecht werden müssen, wird immer vielfältiger.
    Auf einem anderen Blatt steht, wie "dauerhaft" elektronische Dateien überliefert werden können. Es geht nicht darum, einfach Daten zu duplizieren und sie an einem zweiten Ort zu speichern. Vielmehr müssen Dateiinhalte in ihrer originalen Nutzungsumgebung authentisch verfügbar gehalten werden. Das ist eine vertrackte Sache, weil die Betriebssysteme ebenso veralten wie die Hard- und Software. Die Langzeitarchivierung ist nicht nur ein technisches, sondern auch ein organisatorisches und finanzielles Problem. Die entsprechenden Geschäftsgänge müssen in die Abläufe der Bibliotheken integriert werden, und irgendwer muss die Folgekosten bezahlen. Der amerikanische Experte für Langzeiterhaltung Jeff Rothenberg charakterisiert die Lage mit einem Scherz: "Digital documents last forever - or five years, whichever comes first." - "digitale Dokumente bleiben für immer - oder für fünf Jahre, je nachdem, was zuerst kommt"
    Die gedruckten Medien garantieren die Überlieferung vorläufig noch besser als die digitalen. Papier lässt sich im Zweifel kostengünstiger und einfacher restaurieren, als sich bits and bytes haltbar machen lassen. Aber an dem Versuch und entsprechenden Pilotprojekten führt kein Weg vorbei. Das ungelöste Thema brennt den Bibliothekaren auf den Nägeln und wird sie in den nächsten Jahren immer stärker beschäftigen. Noch völlig offen ist derzeit, welche Instanz die dafür nötigen finanziellen Mittel bereitstellt, jenseits befristeter Projekte.
    Oder halten die Bibliotheken Flüchtigkeit, Nichtverortbarkeit und Fragilität des neuen Mediums nur irrtümlich für Riesen und kämpfen wie Don Quijote tatsächlich gegen Windmühlen? Vielleicht empfindet die digitale Wissensgesellschaft die Probleme, die die Bibliothekare sehen, gar nicht als kritisch und legt auf eindeutige Referenz keinen Wert mehr. Vielleicht verzichtet sie auf Konkretheit und Eindeutigkeit, wenn sie dafür situative Brauchbarkeit bekommt. Dann allerdings wäre der Auftrag der Bibliotheken auf diesem Feld ein Anachronismus.
    Verlust der Nachhaltigkeit
    So fragt etwa auch der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst: "Ist das Konzept der Nachhaltigkeit nicht längst schon Symptom einer nicht mehr auf Gedächtnis fixierten gesellschaftlichen Akzeptanz?
    Die Nutzer des Internets nehmen den raschen Verfall von Webseiten und damit Gedächtnisverlust in Kauf - für den gegenüber den bibliothekarischen Traditionen des Abendlands dramatisch eskalierten Vorteil, den dieses System als unverzüglicher Zugriff auf ungeheure Wissensmengen bietet. Für den Genuss der nahezu unverzüglichen Verfügbarkeit von Online‑Wissen im Web wird der Verlust seiner Nachhaltigkeit in Kauf genommen."
    Vielleicht haben wir nicht genug Fantasie, uns eine Gesellschaft vorzustellen, die ohne die bindende Kraft des Gedächtnisses auskommt? Das kann sich der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar überhaupt nicht vorstellen und hat seine Antwort auf das Gedankenexperiment, das kulturelle Gedächtnis zu verlieren, in seinem Buch Nächste Ausfahrt Zukunft in ein prägnantes Bild gefasst: "Der kulturelle Blackout wäre subtiler als der plötzliche Ausfall von Elektrizität, doch in seinen Konsequenzen würde unsere Gesellschaft den Halt verlieren. Diese eminent wichtigen Brücken in die Vergangenheit halten die Gesellschaft zusammen. Die lebendige Vergangenheit gleicht dem Schwert und den schweren Ballasttanks eines großen Segelschiffs. Versteckt unter der Meeresoberfläche verleihen sie dem Boot Stabilität, wenn der Wind in die Segel greift. Eine vergangenheitsblinde Kultur wäre den Stürmen schutzlos ausgeliefert. Bei Flaute merkt man vielleicht nichts davon, doch sobald der Wind sich erhebt, erwirken die Naturkräfte das Kentern."
    Vorerst lassen sich die Bibliotheken nicht darin beirren, die Probleme der im Netz bereitgestellten Publikationen pragmatisch anzugehen. Sie tragen entscheidend dazu bei, den freien Zugang zu Informationen herzustellen und möglichst langfristig zu sichern. Auf ihren eigenen Servern bieten sie Plattformen für unendlich viele Netzpublikationen. Anders gesagt, sie bauen große Sammlungen auf, zu denen analoge und digitale, gekaufte und freizugängliche Dokumente gleichermaßen gehören. Und wenn Sammlungen ihr Eigentum sind, können sie versuchen, sie dauerhaft zur Verfügung zu stellen.
    Mit Auswahl und Speicherung wäre jedoch eine einzelne Bibliothek, auf sich gestellt, überfordert, weil die Aufgabe viel zu groß ist. Die Fokussierung auf die eigene Sammlung reicht heute nicht mehr aus. Die eigene Sammlung muss als Teil eines Netzwerks begriffen werden. Bibliotheken müssen heute viel arbeitsteiliger vorgehen und viel mehr miteinander kooperieren, als dies in der Welt der gedruckten Literatur notwendig war. Bibliotheken müssen Bestand halten, aber sie funktionieren nur noch als System.
    Viele neue Bibliotheksbauten
    Auch wenn man zugesteht, dass es Bibliothekare geben sollte, die sich um die Auswahl, Finanzierung, Erschließung und Vermittlung von Publikationen kümmern, ist die Frage berechtigt, ob nicht irgendwann Bibliotheken als reale Räume überflüssig werden. Wenn es vollkommen egal ist, wo die Server für die digitalen Dienste stehen, braucht es vielleicht gar keine stationären Bibliotheken mehr?
    In offensichtlichem Widerspruch zur zunehmenden Bedeutung der digitalen Dienste entstehen auch in der Gegenwart großartige neue Bibliotheksbauten. Die besten Architekten auf der ganzen Welt wetteifern in Entwurf und Gestaltung von Bibliotheksgebäuden. Vielleicht ist es für sie gerade deshalb eine so schöne Herausforderung, weil neue Arbeitsformen in das traditionelle Gefüge einer Bibliothek integriert werden müssen. Oder können sich Architekten für diese öffentliche Bauaufgabe einfach begeistern, weil sie an die Bibliothek glauben? Erinnert sei nur an wenige herausragende Beispiele von deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken neueren Datums:
    • Bibliothek der Technischen Universität Cottbus (Architekten: Herzog & de Meuron)
    • Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar (Hilde Barz-Malfatti, Karl-Heinz Schmitz)
    • Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin (Norman Foster)
    • Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte (Max Dudler)
    Dabei wandelt sich das Aussehen von Bibliotheken erheblich. Keine erinnert mehr an die Ehrfurcht gebietenden Büchertempel des 19. Jahrhunderts mit ihren riesigen Magazinen. Viele sind äußerlich gar nicht mehr als Bibliotheken erkennbar. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar verwahrt den größten Teil ihres Buchbestands weder im Rokokosaal noch im modernen Studienzentrum, sondern verborgen in einem Tiefmagazin. Es liegt unmittelbar vor dem Historischen Bibliotheksgebäude und ist von außen nicht erkennbar. Die Besucher laufen ahnungslos über eine Million Bücher hinweg, wenn sie sich zum Eingang am Platz der Demokratie begeben.
    Neue Bedürfnisse
    Die Leser in Bibliotheken kommen heute mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen ins Haus: Von Studenten, die nur einen W-LAN-Anschluss brauchen oder sich mit Kommilitonen ein Thema erarbeiten wollen, bis hin zu Forschern, die vor Ort mit Sondersammlungen arbeiten. Längst gibt es nicht mehr nur Leihstelle und Lesesaal, sondern unterschiedliche Aktivitätszonen:
    • Lounges mit bequemen Sitzmöbeln
    • Plätze im Bibliothekscafé
    • Veranstaltungs- und Schulungsräume
    • Räume zum Ausprobieren von Technik
    • Bereiche für Gruppenarbeit
    • Arbeitsplätze für Eltern mit Kind
    • schallgeschützte Abteile zum Telefonieren
    • Studios für audiovisuelle Medien
    • Plätze für Information, Kurzrecherche und zum Anlesen
    • Stillarbeitszonen für konzentriertes Lesen und Schreiben inmitten
    • fachlich geordneter Freihandbestände
    Selbst der schon häufig totgesagte klassische Lesesaal bildet oft wieder das Herzstück der neuen Bibliotheken, weil seine Arbeitsatmosphäre so beliebt ist.
    Die Bibliotheksräume erhalten auch durch neue Möblierungskonzepte Aufenthaltsqualität und Eigenart - sofern sie nicht schon so überlaufen sind, dass die Nutzer doch gerne schnell wieder nach Hause streben. An den Nutzerbereichen entscheidet sich, ob eine moderne Bibliothek "funktioniert".
    Es ist kaum vorstellbar, dass Bibliothekare künftig wie Energieberater in schwer lokalisierbaren Büros sitzen und Auskünfte nur noch über Skype erteilen. Die physischen Räume der Bibliothek sind essenziell, selbst wenn Bibliotheken auf Fächer wie Naturwissenschaften, Technik und Medizin ausgerichtet sind, in denen schon vieles online zur Verfügung steht. Bibliotheken bieten die Möglichkeit zur Beratung, zur Präsentation von Medien und zu sozialer Interaktion.
    Bisher hat sich die räumliche Anordnung des Wissens, wie sie in den systematisch nach Fachgebieten aufgestellten Büchern zum Ausdruck kam, als äußerst nützlich erwiesen. Das einzelne Objekt wird in einem geordneten Kontext präsentiert. Der Nutzer muss seinen eigenen Körper in Bewegung setzen, muss suchen und zugreifen, um an das Dokument zu gelangen. Dadurch wird der Ort des Wissens mitsamt seiner Umgebung unbewusst gespeichert und bestenfalls mit der Erkenntnis bei der Lektüre verknüpft. Der Nutzer kann in seiner Erinnerung darauf zurückgreifen, so wie er nach dem Lesen eines Buches oft noch angeben kann, auf welchem Teil einer Seite ein besonders eindrucksvoller Gedanke gestanden hat. Funktioniert die Erinnerung genauso gut, wenn auf dem Display des immer gleichen technischen Gerätes bloße Zeichen registriert werden?
    Die vibrierende Stille konzentriert arbeitenden Menschen
    Der Medienwissenschaftler Markus Krajewski sieht den physischen Ort der Bibliothek nicht in Frage gestellt: "Als intellektuelle Infrastruktur für geistige Arbeit, zumindest im kulturwissenschaftlichen Kontext, kann man auf die Abundanz der Texte, die Reizüberflutung und das Zuviel an Informationen, wie es in ihrer Gesamtschau nur die große Büchersammlung bietet, nicht verzichten. Vom Reiz des Haptischen, dem Blättern im Vergilbten und dem Finden des Verstellten ganz zu schweigen."
    Der nach Fachgebieten geordnete und gut gepflegte freizugängliche Bestand an Büchern bietet zumindest in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften nach wie vor den besten Anregungsfaktor.
    In den Bibliotheken geht es nicht nur um einen Rezeptionsvorgang, sondern auch um produktives Verarbeiten des Gelesenen in der Form des Schreibens. Es ist eine ganz eigenartige Erfahrung, wenn dieses Verarbeiten inmitten einer Gesellschaft vieler anderer Kopfarbeiter geschieht. Wer beispielsweise einmal im Main Reading Room der New York Public Library an einem der Tische aus weißer Eiche gesessen hat, wird die vibrierende Stille von 600 anderen konzentriert arbeitenden Menschen als stimulierend empfunden haben. Man befindet sich in einem öffentlichen Raum und doch in einer intimen Situation. Es ist ein Ort, an dem ein vielstimmiges stummes Gespräch stattfindet, ein Denkraum. Das alles würde nicht so gut gelingen ohne die großartige Architektur. Der Leser an seinem Platz unter der Kassettendecke mit den riesigen Kronleuchtern empfindet sich als Teil einer kulturellen Gemeinschaft, die diesen Raum deshalb so prächtig ausgestaltet hat, weil sie das Bemühen um Erkenntnis wertschätzt.
    Bibliotheken sind Orte der geistigen Auseinandersetzung. Diese Funktion sinnlich zu erleben, versuchen sogar die flüchtigen Besucher, die nur einen Blick in den Lesesaal werfen dürfen und doch viel zu sehen haben. Weshalb sonst erleben die Bibliotheken auch einen touristischen Boom? Das gilt für die New York Public Library, die Klosterbibliothek Ottobeuren, das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität Berlin wie für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Der dortige Rokokosaal zum Beispiel wird jedes Jahr von 90.000 Personen besucht. Wenn die räumlichen Kapazitäten ausreichten und das historische Gebäude nicht so fragil wäre, wären es vielleicht drei- oder fünfmal so viele. So gehen viele Menschen enttäuscht am Haus vorbei, weil sie keine Eintrittskarte mehr bekommen können. Das große Interesse an dieser Bibliothek spricht für das Bedürfnis nach einem Ort, an dem man die historische Dimension der kulturellen Überlieferung spüren und sich selber als Teil einer République des Lettres imaginieren kann. Im Gegensatz zu den austauschbaren Räumen, die sonst unseren Alltag bestimmen, den Einkaufszentren, Verkehrszonen, Fernsehstudios oder Computerwelten, ist der Aufenthalt an einem solchen authentischen Ort nicht belanglos.
    Der Soziologe Ray Oldenburg hat die Bedeutung von "Dritten Orten" herausgearbeitet. Neben dem ersten Ort Wohnung und dem zweiten Ort Arbeitsplatz oder Ausbildungsstätte fänden sich Menschen auch an Dritten Orten zusammen, wo sie verweilen und miteinander kommunizieren könnten. Eine solche Funktion hätten etwa Cafés, Friseursalons oder Buchläden. Dritte Orte seien wichtig, um dem schwindenden Gemeinsinn in den modernen Gesellschaften entgegenzuarbeiten. Aber Oldenburgs Dritte Orte sind alles Orte des Konsums. Dabei läge es nahe, der Bibliothek die Rolle eines Dritten Ortes zuzuschreiben und viele Bibliothekare postulieren dies inzwischen mit guten Gründen. Denn die Bibliothek besitzt den besonderen Vorteil, dass in ihren Räumen die kommerziellen Interessen außer Kraft gesetzt sind. An welchen öffentlichen Orten ist das sonst der Fall? Die Bibliothek ist also nicht nur weltanschaulich "neutral", sondern neutral auch in dem Sinne, dass sie jenseits des ökonomischen Kalküls angesiedelt ist.
    Die gesellschaftlich integrative Rolle von Bibliotheken
    In wieder anderer Perspektive gilt die Bibliothek als "Treffpunkt mit schwacher Intensität", weil hier die Begegnungen nicht so formalisiert wie im Arbeitsleben und nicht so intensiv wie im privaten Bereich seien. Dadurch entstehe eine Offenheit für Kontakte und Gespräche, die es anderswo nur selten noch gäbe. Auch das "soziale Kapital" der Bibliothek wird herausgearbeitet. Die Bibliothek zeichne sich als eine Arena aus, in der gesellschaftlicher Pluralismus erfahren und die Einübung von Respekt vor Andersheit eingeübt werden könne. Der Bibliothek kommt in allen Konzepten eine gesellschaftlich integrative Rolle zu. Es sind Versuche, ihre ausgeprägt soziale Funktion genauer zu beschreiben.
    Die Menschen kommen heute aus anderen Gründen in die Bibliothek als früher, weil ein großer Teil ihrer Informationsbedürfnisse durch das Web und die Mobilgeräte erfüllt werden kann. Aber die Welt des Wissens lässt sich nicht ausschließlich auf einem Tablet organisieren. Sie hat noch andere Dimensionen, auch kognitive und soziale Komponenten. Selbst wenn alle Texte maschinenlesbar gemacht sind, werden die Leser nicht wie Maschinen funktionieren. Der reale Ort Bibliothek bleibt, unabhängig von den Medien, die er zugänglich, und jenseits der Begegnungen, die er möglich macht, bedeutungsvoll als ein öffentlicher Ort des Denkens.
    Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Idee der Bibliothek besteht in der Verantwortung für die Verfügbarkeit von Veröffentlichungen. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Ihr Mittel zum Zweck sind vernetzte Sammlungen mit analogen und digitalen Publikationen. Die Sammlungen müssen in ihr Eigentum übergehen, damit sie dauerhaft zur Verfügung gestellt werden können. Im Unterschied zu früher kann die Idee der Bibliothek nur noch durch Spezialisierung und Zusammenarbeit, also im System der Bibliotheken realisiert werden.
    Die Idee der Bibliothek wird mit den Chancen, die die elektronischen Medien bieten, noch machtvoller werden. Wichtig ist jetzt, dass in Deutschland die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die für das Gedeihen der Bibliotheken nötig sind.
    Die Merkmale des Internets sind Flüchtigkeit, Nicht-Hierarchie, Ubiquität und Vernetzbarkeit von allem und jedem. Die Merkmale von Bibliotheken sind Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration.
    Gepriesen sei die Zeit, die über beides verfügt und es kombinieren kann. Das Signet des berühmten venezianischen Druckers Aldus Manutius aus dem Jahr 1502 zeigt einen Anker, um den sich ein Delphin windet. Das Bild passt gut in unsere Zeit: Der Delphin steht für die Geschmeidigkeit des Internets, der Anker für die Beständigkeit der Bibliothek.