Freitag, 19. April 2024

Archiv

Ingeborg Syllm-Rapoport
77 Jahre warten auf den Doktor

Eigentlich hätte die Promotionsfeier schon vor 77 Jahren stattfinden können. Doch Ingeborg Syllm-Rapoport war jüdischer Abstammung und ihr Doktorvater weigerte sich deswegen, ihr den Titel zu vergeben. Heute nun wurde der 102-Jährigen im Festsaal des Universitätsklinikums in Hamburg-Eppendorf die Doktorwürde verliehen - dank eines alten Dokuments.

Von Axel Schröder | 09.06.2015
    Die Kinderärztin Ingeborg Syllm-Rapoport hat in Hamburg den Doktortitel verliehen bekommen - im Alter von 102 Jahren.
    Die Kinderärztin Ingeborg Syllm-Rapoport hat in Hamburg den Doktortitel verliehen bekommen - im Alter von 102 Jahren. (dpa / picture alliance / Bodo Marks)
    In der ersten Reihe hörte sich die 102-jährige Promovendin Ingeborg Syllm-Rapoport erst die Festmusik, dann die Reden zu ihren Ehren an. 200 Menschen waren heute Mittag in den Festsaal des Universitätsklinikums in Hamburg-Eppendorf gekommen, um die Verleihung des Doktortitels an die alte, weißhaarige Dame mit den wachen Augen zu feiern. Die erste Laudatorin war ihre Tochter:
    "Ihre wahrscheinlich vorstechendste Eigenschaft, nämlich ihre nie erlahmende Neugier und damit verbunden das starke Interesse an Menschen. Ihr Wunsch, jedem zu helfen und die ungebrochene Anteilnahme am Weltgeschehen machen sie auch heute noch, mit 102 Jahren, zu einem Anziehungspunkt für viele Menschen."
    Eigentlich hätte die Promotionsfeier schon vor 77 Jahren stattfinden können. Allein: Ingeborg Syllm-Rapoport war jüdischer Abstammung und damit verweigerte ihr ihr Doktorvater die Verleihung des Titels. Er bescheinigte ihr aber schriftlich, dass es nicht an ihrem Können, sondern nur an Abstammungsgesetzen der Nationalsozialisten liege. Ingeborg Syllm-Rapoport ließ sich nicht entmutigen und emigrierte 1938 in die USA. Ein College in Philadelphia ermöglichte ihr einen Neustart, eine zweite Promotion. Ihre Kariere startete sie am John Hopkins Hospital. Sie begann sich politisch zu engagieren. Und bekam es sofort mit den Zwängen der McCarthy-Ära, mit der Diskriminierung von Kommunisten in der USA der 50er-Jahren zu tun. 1952 kehrte sie mit ihrem Mann nach Deutschland zurück, zog nach Ost-Berlin und arbeitete dort bis zur Rente an der Charité. Ingeborg Syllm-Rapoport war maßgeblich an der Etablierung des Fachgebiets Neugeborenenheilkunde in der DDR beteiligt. Mit 61 Jahren habilitierte sie.
    Für ihren zweiten Doktortitel musste sie im letzten Mai ihre mündliche Prüfung ablegen. Drei Professoren des Uni-Klinikums setzte sie die Thesen ihrer einstigen Doktorarbeit brillant auseinander, so Dekan Uwe Koch-Gromusin seiner Laudatio:
    "Frau Professor Rapoport hat initial und mit großer Prägnanz und in freier Rede die Fragestellungen und Hypothesen und das komplexe methodische Geschehen des experimentellen Teils ihrer Arbeit vorgestellt. Danach hat sie sich entschuldigt, weil ihr drei Fachtermini nicht sofort eingefallen seien."
    Für Uwe Koch-Gromus ist die Verleihung der Doktorwürde an Ingeborg Syllm-Rapoport ein Mosaikstein bei der Aufarbeitung der Vergangenheit der Klinik. Ein großer Teil ihres Personals war schnell infiziert mit nationalsozialistischem Gedankengut, das Krankenhaus war Teil des Euthanasie-Programms der Nazis, viele ehemalige Patienten wurden deportiert und kamen in Konzentrationslagern ums Leben.
    Die Freude über ihren nunmehr zweiten Doktortitel war der alten Dame anzusehen. Mit feinem Lächeln nahm sie die Urkunde entgegen:
    "Ich sehe in diesem Ganzen ein hoffnungsvolles Zeichen eines neuen, anderen, humanistischen Geistes an einer deutschen Universität. Und ich freue, dass es besonders hier - in meiner alten Heimatstadt, in Hamburg - stattgefunden hat. Ich danke!"
    Anwesend war auch ihr Sohn Michael Rapoport, Mathematikprofessor aus Bonn. Er war nicht überrascht, als seine Mutter ihm von ihren Promotionsplänen erzählte. Davon, dass sie im Mai dieses Jahres Doktorarbeit von 1938 verteidigt, war er nicht überrascht:
    "Ich glaube, dass sie sich für alles interessiert! Es ist unglaublich, für was sie sich interessiert! Und meine Mutter ist, würde ich sagen, ein sehr ehrgeiziger Mensch. Sich selbst gegenüber und auch den anderen gegenüber.
    Dass Ingeborg Syllm-Rapoport heute in Hamburg die Doktorwürde verleihen werden konnte, ist einem Zufall zu verdanken. Bei der Erforschung der Geschichte des Hamburger Uni-Klinikums stießen Forscher auf ein altes vergilbtes Dokument: die Bescheinigung ihres einstigen Doktorvaters, dass nicht ihr Können, sondern nur die Rassegesetze des Deutschen Reichs einer Promotion entgegenstanden.