Donnerstag, 28. März 2024

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Inhaftierter Menschrechtsaktivist
"Die Türkei betreibt eine Politik der Geiselnahmen"

Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen hat der Türkei vorgeworfen, eine Außenpolitik nach Mafia-Art zu betreiben. Wenn deutsche Staatsbürger - wie etwa der Menschrechtler Peter Steudtner - inhaftiert würden, um dadurch politischen Druck auszuüben, käme dies einer Geiselnahme gleich, so Dagdelen im Dlf.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 09.10.2017
    Sevim Dagdelen (Linke) spricht am 09.03.2017 im Bundestag in Berlin. Die Bundeskanzlerin gab in der Sitzung eine Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel ab.
    "Wer meint, deutsche Staatsbürger als Geiseln halten zu müssen, der darf kein Partner sein", so Sevim Dagdelen im Deutschlandfunk-Interview (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Münchenberg: Der türkische Außenminister streckt jetzt die Hand per Interview aus. Er sagt wörtlich: Wenn Deutschland auf die Türkei zugehe, dann werde man zwei Schritte auf Deutschland zugehen. Ist das Angebot aus Ihrer Sicht glaubhaft?
    Dagdelen: Nein. Ich finde, die Türkei betreibt keine ernst zu nehmende Außenpolitik, sondern geht nach Mafia-Art vor, weil an einem Tag kündigt der türkische Außenminister Cavusoglu verbale Abrüstung an, aber am nächsten Tag schlägt die regierungshörige Staatsanwaltschaft gegen Menschenrechtsaktivisten, Menschenrechtler wie Peter Steudtner zu und will diesen im Gefängnis lebendig begraben.
    Und wer meint, deutsche Staatsbürger als Geiseln halten zu müssen, der darf und kann auch kein Partner sein, und ich finde, das ist auch ein Gebot der Selbstachtung. Deshalb erwarte ich, dass von der Bundesregierung jetzt natürlich auch eine Reaktion erfolgt.
    Münchenberg: Cavusoglu hat jetzt in einem Interview mit dem "Spiegel" gesagt, man habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Justiz. Insofern seien auch Forderungen zum Beispiel nach der Freilassung des Journalisten Deniz Yücel vollkommen unangebracht.
    Dagdelen: Nein, das stimmt natürlich nicht. Es gibt Dutzende Beispiele, wo es eine ganz offene Intervention des türkischen Staatspräsidenten in die Gerichtsverhandlungen gab. Ein Fall ist der Fall meines Freundes Can Dündar, dem Journalisten und Ex-Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", und es gibt noch viele andere Beispiele. Und wir wissen auch, dass die Justiz in keinster Weise tatsächlich rechtsstaatlich agiert in der Türkei, weil die Anwälte beispielsweise dürfen sich bei den Treffen mit ihren Mandanten keine Notizen machen.
    Die Gespräche werden mit Videokameras aufgezeichnet. Es gibt kein Anwaltsgeheimnis, und das ist natürlich nicht rechtsstaatlich. Unter diesen Bedingungen ist eine Anwaltsbetreuung auch schwer möglich, beispielsweise auch der inhaftierten Deutschen in der Türkei, und das sind autoritäre Strukturen. Es gibt auch keine Unschuldsvermutung mehr und keine effektive Verteidigung. Deshalb denke ich auch, dass es keine unabhängige Justiz gibt, neben der Tatsache, dass es klare, ganz direkte Interventionen auch des Regierungsapparats auf die Justiz in der Türkei gibt.
    "Die Bundesregierung hat sich wie ein Tanzbär durch die Manege führen lassen"
    Münchenberg: Frau Dagdelen, Sie haben gesagt, die Bundesregierung müsse jetzt reagieren auf die Haftforderung der türkischen Staatsanwaltschaft. Nun hat ja Außenminister Gabriel sich schon gestern ziemlich kritisch geäußert in Richtung Türkei.
    Dagdelen: Nun ja. Die Bundesregierung hat sich meiner Meinung nach in den letzten Jahren wie ein Tanzbär durch die Manege führen lassen durch den Staatspräsidenten Erdogan. Statt dort klare Kante zu zeigen, hat Kanzlerin Merkel immer weiter auf Kuschelkurs gesetzt, und Außenminister Gabriel beispielsweise warnt als Privatmann vor Reisen in die Türkei, will aber als Minister keine offizielle Reisewarnung für die Türkei aussprechen. Ich finde das alles sehr widersprüchlich und die groß angekündigte Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik hat konkret nur eins bisher erbracht, nämlich dass man gesagt hat, man aktualisiert die Reisehinweise.
    Aber weder eine Reisewarnung, noch Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen, noch Stopp der deutschen Waffenexporte geschweige denn der Abzug der Bundeswehr, all das ist nicht passiert, und ich finde, das müsste man auf der politischen Ebene zumindest machen, und auf der anderen Ebene zur Freilassung der deutschen Geiseln muss man auch aktiv werden, beispielsweise durch einen Sonderbeauftragten der Bundesregierung, der die Befreiung der Geiseln in der Türkei zur Chefsache macht, nach dem Modell beispielsweise von Hans-Jürgen Wischnewski.
    "Die türkische Regierung agiert wie ein gemeiner Geiselnehmer"
    Münchenberg: Frau Dagdelen, trotzdem: Die Türkei ist ja ein wichtiger Partner, auch für Deutschland, ist NATO-Mitglied, in der Flüchtlingspolitik ist Deutschland auf die Unterstützung der Türkei angewiesen, auch die gesamte EU. Ist es da nicht trotzdem angebracht, weiter den Dialog zu suchen und eben nicht die Konfrontation?
    Dagdelen: Selbstverständlich ist der Dialog wichtig. Ich finde, man muss auch mit Diktaturen Dialoge führen. Das heißt aber nicht, dass ich sie tatkräftig unterstützen muss, mit Waffen, mit Soldaten und auch mit finanzieller sowie wirtschaftlicher Hilfe. Und man muss doch eins sehen: Die türkische Regierung agiert wie ein gemeiner Geiselnehmer. Das haben sie auch in den letzten zwei, drei Wochen noch mal bewiesen, indem sie deutlich gemacht haben, beispielsweise den US-Amerikanern, dass die Übergabe des seit einem Jahr inhaftierten amerikanischen Pastors Andrew Brunson im Austausch gegen die Auslieferung des Predigers Fethullah Gülen in Aussicht gestellt wurde. Oder beispielsweise hat man im August ein Dekret erlassen, das dem Präsidenten erlaubt, inhaftierte Ausländer in der Türkei gegen bestimmte Türken im Ausland auszutauschen.
    Das heißt, dass diese Türkei meint, Diplomatie mit Geiselnahmen betreiben zu müssen, und zu einer Plattform des islamistischen Terrors in der Region geworden ist. Da muss man natürlich auch wissen: Das hat einen Preis, und diesen Preis muss die Bundesregierung natürlich auch in den Dialog, in die diplomatischen Verhandlungen reinbringen. Aber wie gesagt, zur Freilassung der deutschen Geiseln, denke ich, ist es an der Zeit, nicht mehr nur abzuwarten, dass die Türkei ihre Politik der Geiselnahme ändert, sondern ich denke, wir brauchen tatsächlich einen Sonderbeauftragten, der das zur Chefsache macht, und dabei geht es nicht nur um eine Strategie der Verhandlungen mit dem Regime Erdogan, sondern auch um Gespräche beispielsweise mit Washington oder Moskau sowie den Anrainerstaaten im Mittleren Osten, um die türkische Führung, sollte sie weiter auf Geiselnahmen setzen, international zu isolieren und zu ächten.
    Münchenberg: … sagt die außenpolitische Expertin der Linkspartei im Bundestag, Sevim Dagdelen. Frau Dagdelen, vielen Dank für das Gespräch.
    Dagdelen: Ich danke auch, Herr Münchenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.