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Inkarnation der wechselvollen Geschichte der Deutschen

Am 15. April wird Richard von Weizsäcker 90 Jahre alt. Im Vorfeld dieses Geburtstages sind zwei Lebensbeschreibungen veröffentlicht worden: Die eine von Gunter Hofmann, der lange Jahre Chefkorrespondent der Wochenzeitung die Zeit war, die andere von Hermann Rudolph, dem Herausgeber des Berliner Tagesspiegels.

Von Rainer Burchardt | 22.02.2010
    Ja, so ist es wohl. Richard von Weizsäcker kann wirklich als die Inkarnation der wechselvollen Geschichte der Deutschen, vor allem des vergangenen Jahrhunderts gelten. Eine historische Figur allemal, die die tiefsten Abgründe politischer Verwicklungen hautnah mit erlebt und mit erlitten hat, ebenso wie die Überwindung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte der Neuzeit durch öffentliche Sühne und Bekenntnis zur historischen Schuld und Verantwortung.

    Dieser Tenor jedenfalls findet sich in beiden von erkennbarem Bemühen um kritische und größtmögliche Objektivität geprägten Biografien Richard von Weizsäckers wieder. Er selbst würde wohl fragen, geht es nicht eine Nummer kleiner, schließlich sei er, so steht es zum Beispiel bei Gunter Hofmann ganz zu Anfang, doch nichts anderes als ein Zeitungsleser gewesen. In Sachen Selbstbeschreibung seines Sujets findet der Biograf Hermann Rudolph das Bekenntnis von Weizsäckers, er sei "ein Kind der Aufklärung".

    Tatsächlich lassen beide Bücher, die alles andere als Hagiographien sind, nie die kritische Distanz vermissen. Zum Nachkriegskapitel, als der junge Jurist und Noch-Student Richard von Weizsäcker seinen Vater in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen verteidigte, heißt es bei Rudolph:

    Dass Weizsäcker sich dieser Aufgabe unterzieht, versteht sich nicht von selbst. Bringt er ein Opfer auf dem Altar der Familie? Er selbst beharrt darauf - zuletzt 1986 in einer spektakulären Kontroverse mit Spiegel-Herausgeber Rudolph Augstein -, dass er seinen Vater 'aus tiefer innerer Überzeugung' verteidigt hat. Aber das Motiv ist kaum zu übersehen, die ganze Familie schart sich um ihr Oberhaupt und versucht, die Vorwürfe abzuwehren, die die Anklage gegen Ernst von Weizsäcker erhebt – am Anfang steht immerhin die Drohung der Todesstrafe.
    Im sogenannten Wilhelmstraßenprozess wurde der ehemalige NS-Diplomat von den Alliierten angeklagt, als Staatssekretär im Auswärtigen Amt an der Vorbereitung des deutschen Angriffskriegs und an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen zu sein.

    Gunter Hofmann bewertet diese ambivalente Episode im Leben des Richard von Weizsäcker mit Hinweis auf dessen Forderung, diese Prozesse in deutsche Regie zu legen, so:

    Ein erschütterndes Ausmaß von Verbrechen habe diese Material- und Zeugenschlacht ans Licht gebracht, bilanzierte Weizsäcker seine eineinhalb Jahre als Hilfsverteidiger ... sie seien für ihn sowohl im menschlichen Sinne "meinem Vater gegenüber wie auch im zeitgeschichtlichen Sinne vielleicht die größte und intensivste Lehrzeit, die ich im Leben überhaupt erlebt habe".
    In seinem ganzen Weltbild, so Biograf Hofmann weiter, habe es Vater Weizsäcker an der Vorstellungskraft gefehlt, "die Dämonie des Bösen zu begreifen, wie sie bereits am Werk war", wie der Sohn später den Vater habe verständlich machen wollen.

    Natürlich finden sich in beiden Biografien ausführliche Schilderungen und Bewertungen vor allem der politischen Karrieresprünge des Richard von Weizsäcker. So etwa der erste vergebliche Anlauf zum Präsidentenamt, als er schon im Vorfeld parteiintern an seinem CDU-Konkurrenten, dem damaligen Verteidigungsminister Gerhard Schröder scheitert, dann seine Niederlage gegen Walter Scheel anno 1974, das Berliner Intermezzo als Regierender Bürgermeister von 1981 bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten im Mai 1984.

    Dieses Amt hat er zehn Jahre lang ausgeübt und, da sind sich beide Autoren einig, in dieser Zeit auf eine ganz hervorragende Weise zur Mehrung des Ansehens Deutschlands in der Welt beigetragen. Dies ganz besonders schon in seinem ersten Amtsjahr, als er am 8. Mai 1985 eine, man kann ohne Übertreibung sagen, historische Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt.

    Gunter Hofmann zieht einen Vergleich zum historischen Kniefall in Warschau, mit dem am 7. Dezember 1970 der damalige Bundeskanzler Willy Brandt sichtbar die Polen um Verzeihung für die Kriegsverbrechen der Deutschen gebeten hatte.

    Willy Brandts Wortlosigkeit vor dem Warschauer Ghetto-Mahnmal kann man lesen als Gegenbild zu dem ausgefeilten Text von Richard von Weizsäcker im Bonner Parlament. Brandts "wir nehmen die Verantwortung an ohne von kollektiver Schuld zu sprechen", und Weizsäckers Appell, sich durch genaues Erinnern ehrlich zu machen – im Rückblick gewinnt das eine innere Logik, als hätte nicht nur der Zufall Regie geführt. Beides hat beigetragen zum nationalen Konsens über das, was konstitutiv für die Bundesrepublik sein soll. Brandts wortlose Geste war unhintergehbar und irreversibel, die Resonanz weltweit, aber sie wirkte besonders nach innen. Weizsäckers Rede fand vermutlich sogar breitere Zustimmung, das Echo war einmalig, auch in der DDR, aber sie wirkte vermutlich nach außen.
    Für den Biografen Hermann Rudolph steht die von Weizsäcker ganz bewusst geprägte Formel vom 8. Mai als "Tag der Befreiung" im Mittelpunkt seiner Würdigung dieser historischen Rede:

    Die Dreiviertelstunde, in der Richard von Weizsäcker die Rede vorträgt, wird zu einem historischen Datum in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. In gedrängten, zu Maximen verdichteten Sätzen – ein Beispiel großer Rhetorik – vermittelt er an ihrem Anfang die Botschaft, die die legendäre Wirkung auslöst: die Neudefinition des 8. Mai als "Tag der Befreiung", der "uns alle" befreit hat, von dem "menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". Die Exegese der Ambivalenz dieses Datums, an dem die Deutschen keinen Grund haben, sich an Siegesfeiern zu beteiligen, gab allen Grund, ihn als Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg. Schließlich Weizsäckers Credo: "Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit".
    Natürlich wird dieses Herausstreichen zweier sicherlich zentraler Ereignisse im Leben des Richard von Weizsäckers den vielfältigen, gleichfalls interessanten und bemerkenswerten Stationen der Vita dieses großen Deutschen nicht gerecht. Sie sind aber stellvertretend für den geraden Charakter und den politischen Mut von Weizsäckers, der es auch keineswegs vermied, sich mit den damaligen Granden der Christenunion, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß, anzulegen. Letzterer verspottete ihn irgendwann einmal als "polit-ökumenischen Bischof". Der Protestant von Weizsäcker hatte sich bekanntlich in Gremien des Evangelischen Kirchentags stark engagiert.

    Keine Frage: Beide Biografien, die aus Anlass des 90. Geburtstags Richard von Weizsäckers am 15. April erscheinen, sind eine spannende Lektüre eines ungewöhnlichen Lebenslaufes. Sowohl Hofmann als auch Rudolph ist es gelungen, bei aller Ambivalenz der politischen Lebensleistung eine kritisch faire und durchaus von emphatischem Abstand geprägte Würdigung dieses großen deutschen Nachkriegspolitikers vorzulegen.

    Gunter Hofmann: "Richard von Weizsäcker – Ein deutsches Leben". Erschienen bei C.H. Beck, 295 Seiten für 19 Euro 95 (ISBN: 978-3-406-59809-8). Und: Hermann Rudolph: "Richard von Weizsäcker: Eine Biografie". Die 288 Seiten kommen aus dem Hause Rowohlt und kosten 19 Euro 95 (ISBN: 978-3-87134-667-5).