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Inklusives Bildungssystem erfordert zusätzliches Personal

Hauptkostenfaktor bei Schulen, in denen Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden, sei das zusätzlich benötigte Lehrpersonal pro Klasse, sagt der Bildungsforscher Professor Klaus Klemm. Dafür würde aber die Förderschule dadurch obsolet.

Klaus Klemm im Gespräch mit Ulrike Burgwinkel | 23.03.2012
    Ulrike Burgwinkel: Am Montag jährt sich zum dritten Mal das Inkrafttreten der UN-Behinderten-Konvention. Gefordert wird die inklusive Beschulung, das heißt, Kinder mit und ohne Förderbedarf sollen gemeinsam unterrichtet werden. Über das pädagogische Konzept wollen wir jetzt hier in "Campus und Karriere" nicht diskutieren – Inklusion war mehrfach schon Thema in unserer Sendung PISAplus. Jetzt und hier soll es um die Kosten gehen, denn heute wurde eine von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie veröffentlicht, darin werden die Ausgaben für die Integration behinderter Kinder dezidiert aufgeführt. Der Verfasser der Studie ist der pisastudienerprobte Bildungsforscher Professor Klaus Klemm. Guten Tag, Herr Klemm!

    Klaus Klemm: Guten Tag!

    Burgwinkel: Große Überschrift der Studie könnte ja sein: Inklusion gibt es nicht umsonst. Was würde denn ein inklusives Bildungssystem im Ganzen kosten?

    Klemm: Das hängt natürlich sehr davon ab, welche Bedingungen man den inklusiven Schulen bietet. In der von Ihnen angesprochenen Studie habe ich zwei Varianten durchgerechnet, und ich sage jetzt erst mal die Hausnummer der aufwendigeren Variante: Das liegt bei 0,66 Milliarden Euro – diese Variante umfasst, wir werden alle Kinder, die aus der Förderschule in die allgemeine Schule kommen, in der allgemeinen Schule personell so betreuen, wie die Kinder dort heute schon betreut werden, und wir lassen die zusätzlich die Unterrichtsstunden mitbringen, die sie als Förderschüler in der Förderschule bisher haben. Wir würden sie also gleichsam zweimal zählen. Und wenn wir das bundesweit machen würden und wenn wir davon ausgehen, dass in den großen Bereichen der Förderung, also im Lernen, in Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, dass in diesen Bereichen alle 100 Prozent im Jahre 2020 inklusiv zur Schule gehen, dann kostet das knapp 0,7 Milliarden Euro – mehr als das, was wir heute aufwenden.

    Burgwinkel: Man muss aber doch sagen, dass die Förderung in der Regelschule dann genauso gut funktionieren muss, wie sie bisher in der Förderschule funktioniert.

    Klemm: An personellen Ressourcen würde dann sogar noch mehr je Kind aufgewendet werden. Ob sie und wie weit sie genau so, oder was sie auch eigentlich erwarten können, besser funktioniert, das hängt dann natürlich von dem ab, was die Leute ausklammern sollten, nämlich von der pädagogischen Umsetzung: Wie gehen die Lehrer damit um, wie gut werden Lehrer vorbereitet? Das gehört ja alles dann noch dazu. Ich habe jetzt hier wirklich nur ausgerechnet, was ein bestimmtes Konzept kosten würde. Jedes Kind mit Förderbedarf wird zweimal gezählt.

    Burgwinkel: Gäbe es denn, wie Sie gerade selber andeuteten, noch ein Sparmodell, einen anderen Vorschlag, wie es zu realisieren sei?

    Klemm: Es gibt in meiner Modellrechnung, eine zweite Variante, in der ich vorschlage, alles das, was in den Jahren bis 2020 im Förderschulbereich eingespart wird, weil es weniger Schüler sind, weil wir uns in diese sogenannte demografische Rendite haben – die Schülerzahlen gehen zurück, damit frei werdende Lehrerstellen kann man abziehen oder man kann sie für die sonderpädagogische Förderung weiter benutzen –, wenn man dies machen würde, würde in den dann entstehenden Kosten sich eigentlich gegenüber heute nichts ändern, aber man würde eben auch nicht – was jetzt die Finanzminister gerne hätten – man würde auch nicht sparen, weil jetzt weniger Schüler da sind.

    Burgwinkel: Es wurde ja sogar mal davon ausgegangen, wenn man die Förderschulen und Sonderschulen alle abschafft, dann spart man doch eine Menge Geld, und das ...

    Klemm: Das ist rein rechnerisch sicher so, wenn man sagt, wir schicken die Kinder in die allgemeine Schule und behandeln sie so, mit dem gleichen Personalaufwand, mit dem ein Grundschüler, der nicht besonders förderbedürftig ist oder unterrichtet wird, oder ein Hauptschüler, oder ein Gesamtschüler, oder ein Gymnasiast, dann wäre es ein Sparmodell, aber da können wir mit einiger Sicherheit sagen, oder mit Sicherheit sagen, dass das zulasten sowohl der Schüler und Schülerinnen ohne Förderbedarf wie auch der Schüler mit Förderbedarf ist.

    Burgwinkel: Herr Klemm, haben Sie denn auch Hauptkostentreiber ausfindig machen können in Ihrer Studie?

    Klemm: Na, der Hauptkostenfaktor, der wirklich mehr Ausgaben nach sich zieht, ist die Tatsache, dass wir in der inklusiven Schule zum Teil mehr als eine Lehrperson in der Klasse haben werden oder die Möglichkeit haben müssen, einen Schüler für begrenzte Zeit auch einmal aus der inklusiven Gruppe rauszunehmen und individuell oder in einer kleinen Gruppe zusätzlich zu fördern. Also die Förderung, die dann in der allgemeinen Gruppe geschieht, die erfordert zusätzliches Personal, zusätzliche Lehrerstunden, und die kosten Geld. Dazu kommen einige andere Faktoren, man muss, wenn man jetzt mal die Gruppe der körperlich-motorisch behinderten Kinder nimmt, man muss die Schulen barrierefrei machen, man muss Aufzüge installieren und so weiter – das ist aber nicht der große Kostenfaktor, zumal es auch Entlastungen gibt. Im Bereich des Schülertransports würde mit einiger Sicherheit bei den lernbehinderten Schülern, wenn die direkt in die benachbarte Grundschule gingen und nicht einmal quer durch die Stadt zur Förderschule müssen, würde Schülertransport auch reduziert werden, man könnte einzelne Schulstandorte auflösen. Da gibt es Ersparnisse, denen aber auch Kostensteigerungen gegenüberstehen, der eigentliche Kostentreiber ist das Personal für Individualisierung in der Schule.

    Burgwinkel: Wagen Sie denn eine Prognose, was die Umsetzung Ihres favorisierten Modells angeht?

    Klemm: Das favorisierte Modell wird sicher in den wenigsten Bundesländern umgesetzt werden, fürchte ich. Ich habe Grund zu der Annahme, dass eine Reihe Länder auf den Weg gehen, zumindest das, was an Ressourcen in den nächsten Jahren demografisch bedingt frei wird, das im System zu lassen. Das ist ein Weg, auf den sich einzelne Länder machen, das ist aus meiner Sicht aber die Untergrenze.

    Burgwinkel: Ja, und der Bund, der darf sich nicht einschalten.

    Klemm: Wie immer und immer wieder, der Bundestag und der Bundesrat haben zwar auf Bundesebene die UN-Konventionen verabschiedet, haben sie gleichsam zum Bundesgesetz gemacht, aber umsetzen müssen das die Länder und die Kommunen, weil der Bund sich da raus katapultiert hat über die Föderalismusreform.
    Burgwinkel: Professor Klaus Klemm informierte über die heute veröffentlichte Studie zu den Kosten der Inklusion.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.