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Innenansichten einer Höllenfahrt

Bill Clegg war Mitinhaber einer New Yorker Literaturagentur, als er mit 30 sein Leben aufs Spiel setzte und zum Crack griff. In seinem "Porträt eines Süchtigen als junger Mann" schildert er eindrucksvoll den Teufelskreis aus Beschaffung der Droge, Verfolgungswahn, Vereinsamung und Todeswunsch.

Von Alain Claude Sulzer | 25.05.2012
    Crack besteht aus Kokainsalz und Natron (also Backpulver), ist demnach gestrecktes Kokain. Es wird zu kleinen Klumpen verkocht und in Glaspfeifen geraucht. Es wirkt schneller als jede andere Droge, das heißt innerhalb von wenigen Sekunden. Es wirkt schnell, doch die Wirkung hält nicht lange an.

    Keine andere Droge besitzt ein ähnlich hohes Abhängigkeitspotenzial. Mit anderen Worten: Der erste Konsum dieser im Gegensatz zu Kokain relativ billigen Droge kann unter Umständen genügen, um einen Menschen in die Abhängigkeit zu treiben. Eine der Voraussetzungen, um ihn nach dieser Droge greifen zu lassen, dürfte das unbewusste, unkontrollierbare, nur tiefenpsychologisch erklärbare Verlangen nach Selbstzerstörung sein. Die Vorstellung, die Einnahme der Droge bewirke eine wirkliche Veränderung, in der Unerfüllbares erfüllt, Übermenschliches menschlich und das Unmögliche möglich wird, hält genau so lange an, bis evident wird, dass dies alles Chimären sind. Ihre Quelle ist die Droge, von der der Süchtige nicht loskommt, nicht dessen "erweitertes Bewusstsein".

    Dem kurzen Augenblick des Kicks folgt eine Phase der Depression, die mit Angstpsychosen und paranoiden Wahnvorstellungen einhergeht. Diese zu durchbrechen gibt es nur ein Mittel: Der erneute Konsum von Crack, das heißt von immer mehr Crack; der Körper ist bald unersättlicher als die Psyche, die beide auf eine Art und Weise befriedigt werden wollen, die nur in den Ruin führen kann. Sobald der Teufelskreis geschlossen ist, lässt er sich nicht mehr oder dann nur durch äußerste Anstrengung durchbrechen. Aus ihm herauszutreten benötigt der Abhängige eine Energie, die ihm in diesem Augenblick meist nicht mehr zur Verfügung steht.

    Bill Clegg ist es nach mehreren Anläufen schließlich gelungen. Inwiefern die Niederschrift des Buchs, das er über die Zeit seiner Drogenabhängigkeit verfasst hat, zur Heilung mit beigetragen hat, wird darin nicht erörtert; dass sie ihm geholfen haben dürfte, sich über die möglichen Gründe für die Aufgabe sämtlicher gesellschaftlichen Bindungen klar zu werden, scheint jedoch auf der Hand zu liegen, auch wenn Clegg in seinem Buch nicht den einen und einzigen schlüssigen Grund für seine Sucht zu benennen versucht, den es vermutlich auch gar nicht gibt. Die mysteriöse kindliche Zwangsneurose, für die es keinen wissenschaftlichen Terminus gibt, ist nur ein mögliches Motiv: Weil der kleine Bill unfähig war, normal zu pinkeln, hielt er sich qualvolle Stunden lang auf der Toilette auf; davor stand wartend die Familie und setzte ihm zu. Erst eine Analyse bringt dem Erwachsenen die vollständig verdrängte Erinnerung zurück. Bis dahin ist "alles vergessen: jede verriegelte Tür, jede Stunde, die er sich auf Toiletten geplagt hat, jede Flucht in den Wald, wo ihn keiner sehen konnte. (...) Nie wird es eine Erklärung für das Leiden seiner Kindheit geben. Nichts als Theorien, eine Mischung aus Psychologie und kinderärztlicher Diagnose, nichts Konkretes oder Eindeutiges", wo man sich doch nichts so sehr wie Konkretes und Eindeutiges wünscht.

    Bill Clegg war der frisch gebackene Mitinhaber einer aufstrebenden New Yorker Literaturagentur, als er in seinem dreißigsten Jahr – regelrecht aus heiterem Himmel - sein Leben aufs Spiel setzte: Scheinbar leichtfertig begab er sich in eines jener künstlichen Paradiese, über deren Gefährlichkeit er sich eigentlich hätte im Klaren sein müssen. Das Paradies sollte sich bald als unbeschreibliche Hölle herausstellen. Dass er aus ihr wieder herausfand, ja dass er sie überlebte und es ihm später gelang, Worte dafür zu finden, die uns nahebringen, wie diese Hölle aussah, kommt angesichts des von ihm geschilderten Abstiegs einem Wunder gleich. Verständlich also, dass er sein Buch all denen widmet, "die noch da draußen sind", wo eine Rückkehr kaum noch realistisch scheint.

    Schon früh – in der Schule, auf dem College - kommt Bill Clegg mit "konventionellen", salonfähigen oder zumindest geduldeten Drogen wie Alkohol und Hasch in Berührung; keine Ausnahme in einer Gesellschaft, in der der leichte Rausch am Ende eines Arbeitstags Normalität ist.

    Was als Annahme einer allerdings riskanten Herausforderung wider besseren Wissens beginnt – ein bisschen Crack kann ja nicht schaden -, wird zu einem individuellen Desaster. Den Rückfall nach einem, ersten, zunächst erfolgreichen Entzug, erlebt Clegg dann als "Wiederaufnahme des unglaublichsten Gesprächs", das er je geführt hat, als "der beste Sex, die köstlichste Mahlzeit, das fesselndste Buch – es ist, als kehrte man zu all diesen Dingen gleichzeitig zurück, als käme man nach Hause." Ein paar Wochen später aber bleibt nur die brennende Frage, "ob irgendwo in diesem Haufen der Krümel steckt, der den Infarkt, den Hirnschlag oder den Herzanfall herbeiführt", um all dem ein Ende zu machen. Kurz vor dem absehbaren völligen Zusammenbruch hat sich das Leben des süchtigen jungen Mannes, auf drei, vier Aspekte reduziert: Beschaffung der Droge, Verfolgungswahn, schnell voranschreitende Vereinsamung und Todeswunsch.

    Bill Clegg hat eine überzeugende literarische Form gefunden, die all dies bündelt und illustriert. Er geht nicht chronologisch vor, sondern hüpft in der Haut seines einst und vielleicht noch immer gefährdeten Ichs von einer Eisscholle zur anderen, von einem Abgrund zum nächsten, von der Gegenwart in die Vergangenheit, vom Nächsten zum Fremdesten, von den Freunden zu den Dealern, von den Einbildungen zu den immer seltener werdenden realistischen Einschätzungen.

    Dank dieses Verfahrens wirkt das Buch selbst wie eine Droge auf den Leser. Atemlos folgt dieser dem Autor auf dem abschüssigen Weg in das fast vollzogene frühe Ende. Er wird Zeuge, wie die Sucht alles frisst, am Ende auch die Wirklichkeit. Was bleibt, ist eine surreale, ausgedörrte, wüste Innenwelt, in der die Droge alles beherrscht und sämtliche Bezüge zur Außenwelt kappt.

    "Wo soll ich hin? Jede Richtung ist verkehrt." In diesen zwei Sätzen verbirgt sich das Ganze Dilemma, in das sich der Autor nach einigen Wochen Crack-Konsums manövriert hat. Er hat sich aus der Gesellschaft hinauskatapultiert, möchte lieber tot als lebendig, lieber verstoßen als aufgenommen, lieber verfemt als geliebt, lieber hungrig als satt sein. In der zuletzt aufflackernden Erkenntnis um dieses Dilemma steckt wohl auch die Antwort, wie man es löst. Dem Umstand, dass er schließlich doch noch begreift, wohin die Richtung gehen muss, wenn er nicht ganz verloren gehen will, verdankt sich dieses erstaunliche Debüt.

    Bill Clegg. Porträt eines Süchtigen als junger Mann.
    Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch
    S. Fischer Verlag, 270 Seiten, 19,95 Euro