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Ins kalte Wasser oder vom Hochhaus

Das Thema der Identitätsfindung zieht sich durch den ganzen Roman. Die Autorin wollte über Deutschland schreiben und hat dann die Ferne gesucht, um Probleme aus der Distanz näher beobachten zu können. Es geht darum, sich dem Leben zu stellen, ob man ins kalte Wasser oder vom Hochhaus springt.

Von Shirin Sojitrawalla | 19.08.2005
    Ricarda Junge gehört zu jenen jungen deutschen Schriftstellerinnen, die am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ihr Handwerk gelernt haben und mit Erzählungsbänden auf sich aufmerksam machen. Ricarda Junges im Jahr 2002 erschienenes Debüt hieß "Silberfaden" und versammelte Geschichten rund um Leben, Liebe, Leidenschaft. Für den Band wurde ihr der Grimmelshausen-Förderpreis zuerkannt.

    Im Mai ist sie in ihrer Heimatstadt Wiesbaden, wo sie auch heute wieder lebt, zudem mit dem George-Konell-Preis ausgezeichnet worden. Der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst hielt die Laudatio und kam darin auch auf den Umstand zu sprechen, dass nicht nur viele Erzählungen der Autorin, sondern auch ihr erster Roman "Kein fremdes Land" in den Vereinigten Staaten spielt. Er sagte: "Wenn Ricarda Junge von Amerika spricht, dann geht es letztlich um Deutschland." Sieht sie das selbst auch so?

    "Das stimmt, zumindest im Fall dieses Romans. Der Roman spielt in den USA, sollte aber eigentlich in Deutschland spielen. Ich wollte über Deutschland schreiben und hab‘ dann die Distanz gesucht, um näher auf die Probleme eingehen zu können, um sie aus der Distanz näher beobachten zu können. Insofern ist es in dem Fall richtig. In den USA ein Buch über Deutschland."

    Genauer gesagt spielt der Roman in Philadelphia, wo der Ich-Erzähler Tom bei einer Zeitung arbeitet, für die er über eine Reihe von seltsamen Selbstmorden berichten muss. Derweil plagt sich seine Freundin Teresa als Lehrerin mit gewaltbereiten Schülern an einer Highschool herum.
    Dazwischen gibt es immer wieder Rückblenden ins Leben von Tom in Deutschland, seine Mutter ist Amerikanerin, sein Vater Deutscher.

    Erinnerungen an damals sowie deutsche Freunde, die bei ihm zu Besuch sind, veranlassen ihn immer wieder, in das Land seiner Schulzeit abzuschweifen. Wie schon in ihren Erzählungen schreibt Ricarda Junge dabei von Menschen, die auf der Suche sind, sich nach einem Leben mit Bodenhaftung sehnen, was sich nicht selten auch in einem verstärktem Bedürfnis nach religiöser Sinnhaftigkeit ausdrückt.

    "Also Religion spielt keine so große Rolle, aber Gott spielt eine große Rolle. Herkunft, Schöpfung und die Vergewisserung, wo wir hingehen nach dem Tod und was unser Leben zu bedeuten hat, welchen Sinn dieses Leben hat. Das spielt sowohl in dem Roman eine große Rolle als auch in meinem eigenen Leben. Also ich bin gläubig, und Alban Nikolai Herbst hat ja gesagt, dass mir das auch die Kraft gibt, über bestimmte Sachen politisch unkorrekt zu schreiben oder mich Dingen zu nähern, mit denen man sich auf ein gefährliches Terrain begibt. Das mag sicher sein, ja."

    Ricarda Junge ist Pfarrerstochter, was sie nicht besonders gerne hört, stimmen tut es freilich trotzdem. Ihre Hinwendung zur Religion ist aber keine Regieanweisung ihres Elternhauses, sondern hat sich erst mit den Jahren und eigenen Erfahrungen ergeben. In Frankfurt am Main hat sie nach ihrem Studium in Leipzig begonnen, evangelische Theologie zu studieren, was sie aber wegen der anfallenden Studiengebühren erst einmal wieder aufgeben musste.

    Ihr selbst scheint die Religion auch Ausweg, der Hoffnung gibt oder das zumindest verspricht. Und gerade die Hoffnungslosigkeit ist es, die ihre Figuren so oft am Abgrund entlang spazieren lässt. "Ich will nichts ertragen", schreit eine der Figuren an einer Stelle, was nicht bloß symptomatisch für eine bestimmte Generation ist, sondern sich auch als zeitgemäße Formel unserer Gesellschaft lesen lässt. Mit dem Vorwurf, einer orientierungslosen Generation anzugehören, möchte sich die Autorin erst gar nicht anfreunden.

    "Es wird immer behauptet, ich gehöre einer orientierungslosen Generation an, es gebe so viele Punkte, über die wir uns nicht klar sind und dagegen anzuschreiben, also Welt zu beobachten, Menschen zu beobachten, die zwar auf der Suche sind, aber nicht orientierungslos, die viele Fragen haben und genau wissen, was sie erfahren möchten. Ihnen fehlen noch Antworten, was aber nicht gleichbedeutend mit Orientierungslosigkeit ist. Das war für mich wichtig in diesem Roman."

    Vielmehr als um die Hoffnung auf eine besseres Leben geht es in ihrem Roman aber ohnehin um den Mut, sich dem Leben zu stellen, ob man nun ins kalte Wasser oder nicht vom Hochhaus springt. Dabei versteht es Junge geschickt, moderne Ausbuchtungen und Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft in ihren Roman zu träufeln, sei es Gewalt an der Schule oder Borderline-Syndrom. Immer wieder verzögert sie den Erzählfluss mit retardierenden Einschüben und Parallelhandlungen. Mit ihren mitunter recht spannenden Szenarien entwickelt sie einen Plot, der zwar nicht hält, was er verspricht, aber mit seinem kriminalistischen Aufbau den Leser dennoch bei der Stange hält. Bewusst mit den Elementen des Genres Kriminalroman hat sie aber nicht gespielt, wie sie sagt.

    "Ich glaube, dass in jedem Leben Elemente des Kriminalromans stecken, also unbeantwortete Fragen, Gefahren, Bedrohungen und die sind ganz natürlich in diesem Roman mit eingeflossen."

    Für ihren Roman hat Junge, die im Teenageralter auch eine zeitlang in Amerika zur Schule ging, auch in einer Zeitungsredaktion in Philadelphia gearbeitet. Eine Methode der Vorbereitung, die man auch von Filmschauspielern kennt, die sich davon mehr Sicherheit versprechen, weil sie sich danach besser in ihre Rolle einfühlen können. Hat es ihr denn auch mehr Sicherheit beim Schreiben gegeben, sich den Arbeitsalltag ihres Ich-Erzählers selbst anzutun?

    "Beim Schreiben direkt nicht, aber bei der Überarbeitung des Buches, also ich war schon sehr weit mit dem Manuskript fortgeschritten, als ich mich entschieden habe, jetzt auf jeden Fall noch einmal rüber zu fahren und mir das noch einmal ganz genau anzugucken, ganz genau den Redaktionsalltag anzugucken, noch mal die Straßenzüge anzugucken und auf mich wirken zu lassen. Und viele der Details, die ich da erfahren habe und viele der auch schrecklichen Geschichten, die im Redaktionsalltag passiert sind, sind gar nicht in das Buch eingegangen, aber es gibt mir einfach noch mal ne Sicherheit, was die Atmosphäre angeht."

    Dabei ist es schön, dass sich ein Roman einer jungen deutschen Autorin, und hat sie auch am Literaturinstitut Leipzig studiert, einmal nicht nur um die eigene Befindlichkeit dehnt und den eigenen kleinen Bauchnabel umkreist. Erzählungen und Romane, die Beziehungen und Trennungen, also Liebe, Schmerz und Herzversagen prosaisch verarbeiten, liest man heutzutage viel zu oft. Ricarda Junge indes versucht einen eigenen Weg zu finden, der sich gesellschaftlichen Themen zuwendet. Dabei beschreibt sie die löchrige Idylle amerikanischer Vorstädte ebenso wie der Liebe als Größenwahn und Trost. Das Thema der Identitätsfindung, das sich durch ihren Roman zieht, ist dabei aber mehr als bloß auch jugendbuchtaugliches Sujet. Vielmehr findet sie einen Ton für die Verlorenheit und Ohnmacht derjenigen Menschen, die allein schon deswegen nicht wissen, ob sie auf der richtigen Seite stehen, weil sie erst noch herausfinden müssen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen.

    Ricarda Junge: Kein fremdes Land.
    Verlag S. Fischer