Mittwoch, 24. April 2024

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Insel der Götter

Das Mittelmeer, Taufbecken unseres Kontinents, Schauplatz großer Dichtung aus Gegenwart und Vergangenheit: Aphrodite, Göttin der Liebe, entstieg dem Mythos nach auf Zypern der schäumenden Brandung; Homer, Urvater aller europäischen Poeten, soll angeblich dort geboren worden sein. Sicher ist allerdings nur, dass der Urstoff der "Ilias", die "Zyprischen Epen", von der Insel im östlichen Mittelmeer stammt, wo heute griechisch- und türkischsprachige Autoren das Erbe ihres antiken Vorfahren antreten. Gespenstert doch Homers Held Achilleus noch immer durch die Literatur der Insel.

von Elke Heinemann | 21.04.2004
    Passierschiff "Rethymno". "Rethymno" war jahrelang unterwegs. Sommers wie winters, Tag und Nacht; die Motoren liefen unablässig. Das Schiff ist nun ein Wrack. "Rethymno" sank vor vielen Jahren, vor der Küste von Paphos; eine türkische Bombe schleuderte das Schiff in den Schlund der tiefen See. Nachts schlüpfen aus den in der Tiefe verborgenen Kabinen Hunderte von Passagieren, halb zerfressen von Salz und Wasser: Achilleus, bekleidet mit kurzen Hosen und einem bunten Hemd, unrasierte Männer, die Zigaretten suchen und gedämpft miteinander sprechen, als wären sie Teil einer Verschwörung, als wollten sie nicht gehört werden, als lauerten überall Spione und Feinde. "Wann werden wir Zypern erreichen?"

    Nikos Orfanidis, griechisch-zyprischer Romancier, Dichter, Essayist. 1949 in der damaligen britischen Kron-Kolonie Zypern geboren, studierte er, wie viele seiner Kollegen, an der Universität von Athen. Heute lebt er als Schriftsteller und Herausgeber eines Literaturmagazins in Nikosia, der letzten geteilten Stadt Europas. Er ist Staats-preisträger für Essayistik und Lyrik, Träger des Kostas-Mondis-Preises für Prosa, ein Urenkel der antiken zyprischen Dichter Ermias, Sopatros, Kleon, ein poeta doctus, der die Literaturgeschichte seiner Heimat erforscht.

    Die Literatur, die auf Zypern verfasst wird, ist Teil der griechischen Literatur, wobei sich die zyprischen Dichter mit den schmerzhaften Ereignissen befassen, die die Geschichte ihrer Insel ausmachen. Auf der anderen Seite gibt es die türkisch-zyprischen Schriftsteller, die ihre Erfahrungen mit der gegenwärtigen Besatzungsmacht zum Ausdruck bringen. Die griechischsprachige Literatur Zyperns hat eine Jahrhunderte alte Geschichte. Sie beginnt mit den Homerischen Epen, dann folgt die mittelalterliche Literatur, dann die zeitgenössische Dichtung, die sich parallel zur Literatur Griechenlands entwickelt. Die türkisch-zyprischen Schriftsteller, die Nachfahren jener osmanischen Muslime, die 1571 auf die Insel kamen, also während der ersten türkischen Kolonisierung und Islamisierung, haben nicht Teil an der Literaturtradition ihrer griechisch-zyprischen Kollegen. Damit will ich sagen, dass die türkischen Zyprer erst sehr spät ihre nationale Identität entwickelt haben, und daher entwickeln sie auch jetzt erst allmählich ihre eigene Literatur.

    Zypern, 65 Kilometer von der kleinasiatischen Küste entfernt, zehnmal größer als Sylt, ist geprägt durch die Kulturen wechselnder Besatzungsmächte aus Orient und Okzident: Im ausgehenden Mittelalter fällt das Land an das Osmanische Reich, das 20000 moslemische Kolonisten entsendet, die friedlich an der Seite hundertausender griechisch-orthodoxer Altanrainer siedeln. Die Balladen und Epen der Zeit sind im griechischen Dialekt der Insel verfasst, der noch im 19. Jahrhundert, während der panhellenischen Freiheitskämpfe, die zyprische Literatursprache ist. Heute schreibt man auf Zypern in der griechischen Hochsprache oder auf Türkisch. Denn auch die Urenkel der osmanischen Siedler melden sich seit der Invasion der türkischen Armee, die seit drei Jahrzehnten den Nordteil der Insel besetzt hält, zu Wort. Die Atmosphäre anhaltender Bedrohung beeinflusst alle Autoren Zyperns.

    Ich will nicht, dass mein Name bekannt wird, deshalb werde ich d i r berichten, was mir widerfahren ist. Du magst es vielleicht aufschreiben. Ich werde mich hinter den Worten verbergen. Niemand wird mich erkennen. Ich arbeite in der Stadt L. Mein Vater starb vor zwei Jahren, ohne diese Stadt je gesehen zu haben. Das hatten wir einst gemein. Denn ich sah die Stadt L. zum ersten Mal, als ich dorthin versetzt wurde. Und doch erschien sie mir von Anfang an vertraut – wie ein böses Traumbild. Die staubigen Straßen, der menschenleere Park, die ausdruckslosen Augen der Frauen, ihre auffällige Selbstgewissheit.

    Christos Chatzipapas, Jahrgang 1947, griechisch-zyprischer Erzähler und Romancier, ausgezeichnet mit dem Staatspreis für Prosa. Der Vorsitzende des gesamt-zyprischen Schriftstellerverbands spricht auf internationalen Autorenkongressen über die Missachtung der Menschenrechte, über die Zerstörung der Kulturschätze im besetzten Teil Zyperns. Zudem versucht er, die Zusammenarbeit von Autoren der nördlichen Besatzungszone und der freien Gebiete zu fördern.

    Wir haben es immer geschafft, uns zu sehen, uns gegenseitig zu übersetzen und gemeinsame Veranstaltungen für ein breites Publikum auszurichten. Das Denktasch-Regime hat allerdings eine Menge Schwierigkeiten gemacht. Einmal hatten wir beispielsweise im freien Gebiet eine Veranstaltung geplant, aber die Kollegen aus dem Nordteil der Insel mussten im letzten Moment absagen, weil sie von den türkischen Behörden keine Reisegenehmigung bekommen konnten. Das alles hat uns aber nicht daran gehindert, auch gemeinsame Anthologien zu veröffentlichen. Eine hieß: "Unter demselben Himmel". Sie beweist, dass türkisch- und griechisch-zyprische Schriftsteller auf vergleichbare Weise über die schmerzhaften Erfahrungen schreiben, die sie in ihrer Heimat machen.

    Autorin als Zitatorin:
    Mein Vater sagt,
    Dass jeder Mensch
    Sein Land lieben muss.
    Mein Land ist
    Geteilt in zwei Hälften.
    Welchen der beiden Teile
    Soll ich nun lieben?


    Ein kleines Gedicht der türkisch-zyprischen Autorin Nese Yaçin, gesungen in allen Strassen der zyprischen Hauptstadt Nikosia, die seit dem Einsatz der UN-Friedenstruppe im Jahr 1964 geteilt ist. Im Kölner Romiosini-Verlag findet man Lyrik, Prosa und Dramen aus Zypern, verfasst von griechisch- und türkischstämmigen Autoren der Insel, die sich, wie Nikos Orfanidis, in diesem Jahr auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt haben.

    Kythrea
    "Die Explosion, die man um 10 Uhr abends in Nikosia gehört hatte, kam aus dem besetzten Kythrea." (Polizeimeldung, 6. August 1984)
    Das Haus, in dem ich geboren wurde,
    zerbarst heute nacht
    im Gefecht.
    Das Feuer unserer Kindheit
    färbt den Himmel,
    die glühenden Körper der Toten
    versengen unsere Hände,
    Strassen flattern auf Halbmast,
    vergessene Kinder in den Gassen,
    Erinnerungen, versunken im Schlund einer mondlosen Nacht.
    Während die verstümmelte Liebe nach Atem ringt
    gehst du sorglos
    durch die Schützengräben:
    Frische Myrte in den gefrorenen Fingern,
    Zweige, die bei Tag kräftig ausschlagen, in
    Wassern, die weit gereist sind
    auf dem Rücken der See -
    der Tod fließt aus vergessenen Brunnen.
    Wie kann ich dich finden?
    Ich versinke in Polizeimeldungen,
    in Vermisstenlisten.
    Die Nacht einer trostlosen Stadt
    zerstört unsere Erinnerung.
    Frauen verharren gebückt
    über den Gräbern der Bäume,
    grünes Laubwerk der Berge
    bedeckt dein Gesicht,
    mattes Schattenspiel
    auf den Wänden eines ausgemerzten Tages.
    Dann die andere Nacht,
    die Nacht, die das Stöhnen barg,
    das Stöhnen deines verwundeten Körpers.


    Ab dem 1. Mai wird Zypern dem Europäischen Staatenbund angehören. Ideale Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft wäre die Zyprische Gemeinschaft, für die auf dem P.E.N.-Kongreß im Februar 2004 in Nikosia geworben wurde. Dichter wie Nikos Orfanidis sind den Politikern offenbar einen Schritt voraus auf dem europäischen Weg.

    Ich bin der Ansicht, dass jedes Volk seine eigene Identität hat, und ich erwarte weder von den Türken, sich wie Griechen zu fühlen, noch von den Griechen, sich nicht mehr wie Griechen zu fühlen. Aber wir können herausfinden, was uns miteinander verbindet: Alltägliche Sorgen, unsere Heimat. Die gemeinsamen Themen bestimmen unsere Literatur, natürlich in den beiden verschiedenen Sprachen. Sprache, das Material des Schriftstellers, ist das Hauptmerkmal jeder Literatur. Und daher wird es meiner Auffassung nach weiterhin, wie seit Jahr-hunderten, griechische Literatur auf Zypern geben, und zudem werden zyprische Schriftsteller türkische Literatur hervorbringen. Und wir werden weiterhin zusammen arbeiten, auf Zypern und in der Europäischen Gemeinschaft.