Donnerstag, 25. April 2024

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Insel Naxos im Ägäischen Meer
Offen für Sonne, Wind und Freunde

Naxos lässt diejenigen, die hinkommen, oft nicht mehr los. Die größte Insel der Kykladen im Ägäischen Meer ist äußerst vielfältig: Sie hat Gebirge, beeindruckende Strände und eine enorme Vegetation. Mehr als drei Jahrhunderte regierten die Venezianer auf Naxos - was der örtlichen Architektur noch immer anzusehen ist.

Von Cristiana Coletti | 08.02.2015
    Eine typische Naxos-Windmühle
    Eine typische Naxos-Windmühle (Cristiana Coletti)
    Die riesige Stadt scheint noch im Dunst der Morgendämmerung zu schlafen, als das Schiff langsam den Hafen von Piräus verlässt und am Küstensaum des Peloponnes vorbei zieht. Eine fast irreale Kulisse. Wie in einem Traum. Ringsherum nur tiefblaues Wasser.
    Bereits zum zweiten Mal unternehme ich diese fünfstündige Schiffsreise im Ägäischen Meer von Athen nach Naxos, der größten Insel der Kykladen. Woher kam mein starker Wunsch, dorthin zurückzukehren?
    "Jedes Mal, wenn die Fähre die letzte Station vor Naxos verlässt,
    die Inselspitze umschifft, und dann der Hafen von Naxos erscheint, mit dem Tor des Apollo-Tempels links, bin ich bewegt. Nach so vielen Jahren ist diese Ankunft zur Gewohnheit geworden, aber trotzdem berührt es mich immer wieder."
    Antonio Cortese, Professor aus Rom und Autor des Buches "Conoscere Naxos" (Naxos kennenlernen) - eine liebevolle Hommage an die Insel, die vor 40 Jahren zu seiner zweiten Heimat wurde. "Mein Gesprächspartner ist der Reisende, der neugierig ist, und nicht der oberflächliche Tourist", schreibt Cortese auf dem Umschlag. Sein Haus hat er auf einem Berghang in Form einer Windmühle gebaut, wie sie auf Naxos typisch ist: Ein zylindrischer, weißer Bau aus Bruchsteinen mit Windrad und einem ganz besonderem Blick.
    "Von hier aus sieht man einen großen Teil der Westküste, die schönsten Strände, sogar die Nachbarinsel Paros mit dem fünf Kilometer breiten Kanal dazwischen. Es gibt viele kleine Hotels, Pensionen, Restaurants, und nachts ist die ganze Küste beleuchtet. Das war aber nicht immer so. Erst in den 90er-Jahren hat sich der Tourismus auf Naxos entwickelt. Die Insel hat Wasser und ist fruchtbar. Hier lebte ein Volk von Bauern fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Früher lehnten die Einwohner den Tourismus fast ab."
    Jagd auf Nudisten
    Wie Antonio mir erklärt, lief bis vor einigen Jahrzehnten auch der Verkauf von Marmor und Schmirgel noch ganz gut. Keiner erwartete also Touristen auf Naxos. Dennoch landeten schon in den 70er-Jahren einige Hippies und Backpackers auf der Insel. Die kulturelle Spaltung zwischen Einheimischen und Fremden war damals sehr stark.
    "Was mich vor 40 Jahren sehr beeindruckte, waren die bis zu den Füßen schwarz gekleideten Frauen aus dem Inneren der Insel. Sie kamen zum Strand und trafen dort auf einige wenige Ausländer. Manchmal handelte es sich sogar um Nudisten. Das war ein riesiger Skandal! Sofort wurde die Polizei gerufen. Die Nackten flüchteten ins Wasser. Ich erinnere mich, wie Polizisten am Strand warteten, bis die unbekleideten Ausländer herauskamen. Sie wurden festgehalten, aber natürlich bald wieder freigelassen."
    Antonio Cortese oder Tonino, wie er auf Naxos genannt wird, ist längst kein Fremder mehr. Der Italiener spricht fließend Griechisch und hat hier sehr viele Freunde.
    "Dieses Haus ist offen für Sonne, Freunde und Wind", steht auf dem Schild an seiner Eingangstür. Einen Freund von Tonino Cortese lerne ich im Herzen des Hauptortes Chora kennen. Wie an fast jedem Abend präsentiert Nikos Karavias ein Konzert im Innenhof seines Palazzo, einem der ältesten und schönsten Bauten der "Kastro" genannten venezianischen Burg.
    "Ich spreche Italienisch unter anderem, weil wir an die Herkunft unserer Familie anknüpfen wollten. Zu Hause redeten wir nicht Griechisch miteinander, sondern Französisch, aber auch Italienisch."
    Mit vollem Namen heißt er in der Tat: Nikolaos Michel Laurent Karavias Della Rocca-Barozzi.
    "Mein Großvater mütterlicherseits stammte von der französischen Adelsfamilie De la Roche ab, die Großmutter von den venezianischen Herzögen der Barozzi. Unmittelbar nach der Rückkehr vom 4. Kreuzzug in den Jahren 1202 bis 1204 setzten sich die Barozzi in der Ägäis fest und eroberten die Insel Santorini. Gleichzeitig fiel Naxos unter die Herrschaft einer der ältesten Familien Venedigs, der Sanudo, die sich nach und nach das ganze Archipel der Kykladen unterwarfen."
    Mehr als drei Jahrhunderte regierten die Venezianer auf Naxos. Sie bauten Burgen und Wohntürme, sogenannte Pyrgos, als Schutz vor Piraten, einige Kirchen und sogar eine katholische Kathedrale. Auch während der späteren türkischen Besatzung blieben sie weiter auf der Insel und hielten an der eigenen Kultur und Religion fest. Heute, 800 Jahre später, erzählt einer ihrer Nachfahren so lebendig von jener Zeit, als hätte er sie selbst miterlebt.
    "Marco Sanudo hatte präzise Herrschaftspläne. Deswegen ließ er seinen vermeintlichen Konkurrenten Barozzi ins Gefängnis einsperren, wurde aber auf Befehl Venedigs gezwungen, Barozzi wieder freizulassen und sich öffentlich bei ihm zu entschuldigen. Was er am Anfang nicht machen wollte – 'mich entschuldigen? Niemals! Das wäre ein Schlag für meinen Stolz!' – tat er schließlich doch: Er küsste Barozzi zur Versöhnung und bat ihn auf dem Platz vor der Kirche um Verzeihung."
    Tanz am Demeter-Tempel
    Die Geschichte von Naxos reicht aber noch weiter zurück, in eine jahrtausendealte Vergangenheit, als die Inselbewohner zu Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit, und zu Dionysos beteten. Tagelang dauerten die Feste für den Gott des Weins, der Freude und Ekstase.
    Eine unerwartete Versammlung vor den Ruinen des Demeter-Tempels, der in einem fruchtbaren Tal der Tragéa-Hochebene fern vom betriebsamen Küstenverkehr liegt. Plötzlich wird die mythische Vergangenheit wieder lebendig, wenn beim Sonnenuntergang die durchdringenden Töne der Dudelsäcke erklingen und Frauen und Männer am Demeter-Tempel tanzen.
    Kein Ereignis für neugierige Touristen – außer mir ist kein Fremder dabei. Das Fest gehört den Griechen und Griechinnen, die sich von den Klängen der traditionellen Kykladen-Musik in eine besondere Stimmung versetzen lassen.
    "Diese Musik ist für mich alles", sagt der Dudelsackspieler Lefteri, "ich kann an nichts Anderes denken." Früher hat er Heavy Metal, Hardrock und Rembetiko gespielt, aber diese Musik liebt er ganz besonders. Sie begleitet ihn seit 20 Jahren. Sehr poetisch sind auch die Texte der Lieder, die er singt und spielt.
    "Es wird Nacht und ich möchte zu meiner Insel zurückkehren, damit meine Sorgen, mein Leiden und Seufzen aufhören. Mensch feiere dein Leben! Sei nicht habgierig! Du bist nur ein Gast auf Erden", lautet das Lieblingslied von Lefteri.
    Wer weiß, ob sich auch Ariadne, die Tochter des Königs Minos von Kreta, nach ihrer Insel sehnte, als Theseus sie hier auf Naxos verließ. Wie die Sage erzählt, hatte sich Ariadne in Theseus verliebt, als der junge Grieche nach Kreta gekommen war, um den Minotauros zu besiegen.
    Theseus tötete das Ungeheuer und konnte dank des roten Fadens der Ariadne dem Labyrinth entkommen. In Begleitung der Geliebten flüchtete Theseus übers Meer Richtung Athen, ließ aber Ariadne auf Naxos zurück.
    An einem Strand der Insel fand der Gott Dionysos die Schöne schlafend und verlassen und verliebte sich in sie. Eines Nachts brachte er Ariadne auf den Berg Drion. Von dort stiegen sie beide in den Olymp auf, wo Zeus Ariadne unsterblich machte.
    Antonio Cortese bringt mich zu zwei deutschen Freunden.
    "Das Besondere an der Insel ist, dass sie zwar nicht sehr groß ist, aber unheimlich vielfältig: Sie hat Gebirge, sie hat wunderschöne Strände. Sie hat eine wahnsinnige Vegetation. Jetzt, wo es geregnet hat und dann im Winter, wo alles grün ist, und nachher im Frühling, wo es unheimlich blüht. Es ist sehr inspirierend für mich."
    "Im Herbst ist die Insel traumhaft schön"
    Katharina Bolesch war schon als Kind auf Naxos, als sie mit der Familie einen Onkel besuchte, der hier als Geologe arbeitete. Nun ist sie Keramikerin und lebt mit ihrem Mann, dem Designer Alexander Reichardt, in Chalkì, dem ehemaligen Hauptort von Naxos. Dank der Aktivitäten ihrer Galerie und dem Axia-Festival, das sie alle zwei Jahre veranstalten, haben Kathi und Alex neues Leben in die kleine Stadt gebracht. Auch wenn sie sich über ihren Erfolg und über die vielen Besucher im Sommer freuen, finden sie Ruhe und Inspiration für ihre kreative Arbeit in anderen Jahreszeiten. Alexander Reichardt.
    "Ich würde sagen: 20 Tage im August ist es wirklich sehr voll. Das darf ich gar nicht erzählen, sonst schlagen sie mich hier. Im Sommer sehe ich diese Schönheit nicht. Im Frühjahr, im Herbst ist die Insel traumhaft schön, im Winter auch. Und man kann nur kreativ sein, wenn man schöne Dinge um sich herum hat. Ich kannte einen Dramaturgen, einen ganz bekannten in Deutschland, der konnte nur arbeiten, wenn er eine Depression gehabt und gelitten hat. Aber ich brauche Schönheit und muss mich freuen, um schöne Sachen zu kreieren."
    Von dieser besonders inspirierenden Stimmung erzählt mir auch Maria Manolà, eine Freundin aus Naxos. "Liebe Cristiana" – so fängt ihr Brief an – "im Winter, wenn alle Touristen weg sind, habe ich wieder Zeit für mich. Ich besuche Freunde und tue Dinge, für die es im Sommer keine Zeit gibt."
    "Oft scheint die Sonne und ich mache jeden Tag lange Spaziergänge am St. Georgios-Strand. Ich sammle Muscheln, das ist beruhigend. Im Winter feiern wir auch den Karneval, ein Fest, das sich aus dem alten Dionysos-Kult entwickelt hat. Alle in der Chora und in den Dörfern ziehen traditionelle Trachten an. Damit halten wir unsere Bräuche lebendig. Aber Naxos ist für mich im ganzen Jahr schön."
    Vor meiner Abreise aus Naxos möchte ich noch einen besonderen Ort besuchen: Eine kleine, entlegene Kapelle oberhalb des Hauptortes Chora, die für Antonio Cortese von außergewöhnlicher Bedeutung ist.
    Die Felsenkapelle Àgios Ioánnis Theológos
    Die Felsenkapelle Àgios Ioánnis Theológos (Cristiana Coletti)
    "Es ist eine Felsenkapelle, die ich sehr liebe, weil meine Frau und ich sie immer wieder aufsuchten. Es war vor 40 Jahren. Ich hatte meine Frau, eine Griechin, in Rom kennengelernt und mich auf den ersten Blick in sie verliebt. Ich kam nach Naxos, um sie zu heiraten. Kurze Zeit danach starb sie. Zur Erinnerung an sie beauftragte ich einen Künstler, auf der Holzwand, die wie in allen orthodoxen Kirchen den Altarraum abtrennt, einen Engel zu malen – mit einer Widmung an meine Frau. Diese Kapelle besuche ich immer wieder, weil sie mich an unsere gemeinsamen Spaziergänge erinnert."
    Ágios Ioánnis Theológos ist der Name der kleinen Felsenkapelle, die auf den Hafen und das Meer blickt. Neben vielen Blumenkränzen und Kerzen entdecke ich an der Trennwand zum Altar diesen farbenfrohen Engel, mit der für mich unentzifferbaren Widmung von Antonio. Nach ihrer Bedeutung möchte ich jedoch nicht fragen. Schließlich kann nicht alles erklärt werden, was einen berührt.