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Inspirierend wie ein vollgestopfter Werkzeugkasten

In seinem Buch befasst sich der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit mit altgriechischer und amerikanischer Mythenbildung. Dabei entdeckt er einige Muster. Eines davon: Wenn es in den wilden alten Geschichten besonders bösartig wird, ist eine Frau zur Furie geworden.

Von Sabine Peters | 15.11.2013
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents. In Theweleits Buch geht es um die Entstehung von Mythen und Sagen.
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents. In Theweleits Buch geht es um die Entstehung von Mythen und Sagen. (picture alliance / dpa)
    Am Anfang war das Wandern. Die ersten Menschen zogen vor etwa 70.000 Jahren von Afrika aus über die arabische Halbinsel in den Rest der Welt hinaus. Ein kleiner Zeitsprung: Um 2000 vor Christus erreichten größere Gruppen indogermanischer Einwanderer die Gebiete, die heute "Griechenland" heißen; ein Land, das gern als die "Wiege abendländischer Kultur" bezeichnet wird. In vor-homerischer Zeit wurden dort wunderliche Geschichten über Götter, Ungeheuer, Helden und Normalmenschen von Generation zu Generation weitererzählt; dann wurden sie von diversen antiken Dichtern in verschiedenen Varianten aufgeschrieben. Allmählich bildete sich ein Kanon heraus, und bis heute sind die alten Mythen präsent in Literatur, Kunst, Musik und Werbung. So zum Beispiel die Geschichte, wie der göttliche Zeus sich in die Königstochter Europa verliebte; er verwandelte sich in einen geschmückten ansehnlichen Stier, entführte sie und zeugte ein Kind mit ihr.
    Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit, der mit seinen 1977 erschienenen "Männerfantasien", einer Analyse des soldatischen Mannes bekannt wurde, befasst sich in seiner neuen Arbeit "Buch der Königstöchter, Pocahontas Band II" mit altgriechischer und danach mit amerikanischer Mythenbildung, genauer: mit der Zeit, als die Engländer und Spanier die "neue Welt" eroberten. Theweleit untersucht, was hinter solch schönen Wörtern wie "Götter, Königstöchter, sich-verlieben, Kinderzeugen" steckt, und er entdeckt reale historische Konflikte um Territorien, die mehr oder weniger gewalttätig ausgetragen wurden. Mythen sind eine Form von verdeckter, verwandelter und/oder geschönter Geschichtsschreibung, das ist bekannt. Auch die Sprache selbst kann beschönigen, schon ein einziges Wort enthält verschiedene Bedeutungen. Das Lateinische "colere" meint "bebauen, pflegen, bearbeiten, bewohnen", doch der Colonus, der Bauer, ist eben oft ein Neuansiedler, der mit seinen Leuten in die Fremde loswandert. Er vollzieht eine brutale Landnahme, eine Eroberung; er gründet Kolonien, baut ein Imperium auf und löscht dabei die vorherige Kultur mehr oder weniger aus.

    Ob Europa und Zeus, Medea und Jason, ob Götter oder halbwegs menschliche Heroen, fast immer geht es in den Mythen um die Ablösung einer Herrschaft und Religion durch eine andere; es geht um die "Zivilisierung" von Barbaren. Weil es schöner ist, so etwas in wilde love stories zu verpacken, als von technisch unterlegenen, massenhaft abgeschlachteten Ureinwohnern zu berichten, wird das Konstrukt "Liebe des fahrenden Helden zur schönen fremden Königstochter" zur Begründung einer je neuen Herrscherdynastie.

    Theweleit zeigt, dass auch in Amerika, in der neuen Welt, so etwas funktionierte: Der Legende zufolge landete der Engländer John Smith 1607 im späteren Virginia, wurde von der indianischen Häuptlingstochter Pocahontas vor ihren eigenen Leuten gerettet, und die Hochzeit der beiden war das Sinnbild dafür, dass Amerika aus freien Stücken geboren wurde, aus Liebe. Die tatsächlichen Fakten - Smith beging Verrat an dem Bündnis mit dem indianischen Clan, Pocahontas war bereits mit einem Mann verbunden, sie wurde entführt und als Geisel benutzt, zwangsweise getauft und vermutlich umgebracht, als sie nicht mehr nützlich war - diese Fakten wurden verwischt.

    Männer machen Politik mit Frauen/Töchtern: Die werden als Garant der Verbundenheit verschenkt oder sie werden geraubt und vergewaltigt, und doch: Wenn es in all den wilden alten Geschichten ganz besonders bösartig wird, dann ist eine Frau zur Furie geworden: Medea, die zauberkundige Tochter des Königs von Kolchis verliebte sich in Jason, half ihm bei der Suche nach dem goldenen Vlies, floh mit ihm und den Argonauten, und als Jason sich in Korinth in eine andere Frau verliebte, beging Medea zahlreiche Morde, unter anderen erstach sie ihre Söhne. Diese Geschichte wird von Autoren bis heute ganz unterschiedlich akzentuiert. Über den römischen Dichter Ovid und seine Version der Medea schreibt Theweleit:

    "Er liefert zudem den bis dahin genausten Abriss der Struktur des welterobernden, Frauen verlassenden, Waffen tragenden und technologiebesessenen, die hohen Töchter der 'Eingeborenen' eifrig schwängernden Supermannes, dessen Emanationen uns seit dem frühesten 'Griechenland' über alle folgenden Sorten der Conquistas nicht aus ihren Fängen lassen. (… )Bei den Frauen war es jeweils Liebe. Und bei den Männern nicht; bei denen ist es Dank (am Anfang) für Wohltaten und Zuneigung seitens der Frauen; oder für erhaltende Hilfen; entscheidende Hilfen und in vielen Fällen lebensrettende. Aber dann, nach dem Verfliegen erster Dankgefühle, wird Kalkül daraus, bis hin zur absichtsvollen Täuschung; eben weil es nicht Liebe ist bei den (geretteten) Männern. Dies führt dazu, dass der Mann, der Held, seine Versprechen nicht hält; anderen Frauen, ebenfalls Königstöchtern, neue Versprechungen macht. (… )Das Messer in Medeas Hand, das zwei Knaben das Leben nimmt, verdeckt die Rede, die in diesem Bild an erster Stelle steckt: Mann (Held) hört nicht auf, sich helfen zu lassen, zu schwängern, zu verlassen, zu stehlen, zu betrügen und die resultierenden Untaten anderen anzuhängen bzw. diese anderen sie ausführen zu lassen – um allerdings dafür von Frauen (denselben oder anderen) dennoch (immer wieder) geliebt zu werden."

    Ein typisches Theweleit-Zitat: Auch das neue Pocahontas-Buch ist voller Redundanzen, es lebt von lustvollen Abschweifungen und kühnen Assoziationen, und bei der Lektüre wird man hin- und hergerissen: Man seufzt über die vielen Wiederholungen, die allerdings auch immer wieder neue, überraschende Bezüge offenlegen. Man ist erfreut von den vielen Bildern – Theweleits Bücher sind immer auch Bilderbücher, und die Bilder sind mehr als Illustrationen, viele bilden Reihenfolgen, die durchaus ihr Eigenleben haben. Weiter: Man wollte hier und da widersprechen oder etwas ergänzen, ahnt aber schon, dass der Autor selbst entweder 100 Seiten weiter oder aber im nächsten geplanten Pocahontas-Band seine Argumentation noch weiter auffaltet. Man regt sich auf über unendlich viel Heraushebungen im Schriftbild durch Klammern, Auslassungspunkte, Gedankenstriche, Kursivschreibung und Fußnoten, die aufs Seitenende bzw. auf einen umfangreichen Anhang verweisen. Gleichzeitig entsteht bei diesem Schriftbild und bei der ungezwungenen, nonchalanten Sprache ein Sound, der berühmte Theweleit-Sound. Keine distanzierte Wissenschaftssprache, keine Lauheit, sondern im besten Sinne suchende, heiße oder kalte Rede.

    Der Autor sammelt alles auf, was ihm einfällt
    Die Bücher von Klaus Theweleit sind für den Leser so inspirierend wie ein vollgestopfter Werkzeugkasten; dieser Autor sammelt einfach alles auf, was ihm auf- und später einfällt. Und so kommt er bis ins digitale Zeitalter, zu James Cameron´s Film "Avatar", einem Anti-Kolonialmärchen, in dem auf dem fernen Mond Pandora die Ureinwohner, edle blaue Naturmenschen, allen voran die schöne Königstochter Na´vi, den Sieg über amerikanische Invasoren davontragen. Eine thematische Variation der Pocahontas-Legende, laut Theweleit eine Anti-Technologie-Orgie, allerdings mithilfe modernster Computertechnologie:

    "Was Cameron also faktisch tut: Er steckt die gesamte moderne Kriegselektronik in Avatar ins Gewand von Greenpeace. 'Botschaft': Der böse Rohstoff raubende heutige Amerikaner wird vom Erdboden verschwinden, wenn die Unterdrückten und Unterentwickelten dieser Erde sich weiterentwickelt haben zum Ur-Indianer, in dessen Seele allerdings die neusten Computer ticken; eine queer-sophisticated Form von 'Transhumanismus'. (… )Wir, die Menschheit der modernen Technowelt, sind so weit, Tod und Teufel zu akzeptieren (in 3 D), wenn sie zu uns kommen in Gestalt elektronischer Friedensengel aus der Steinzeit. (…) Stories für Leute, die an den Indianer im Menschen glauben … an die Ökologie in der Drohne … an Aufklärung in der Überwachung … so lange all das nur kommt als eben Unterhaltung…"

    Ob es die alten Mythen sind oder eine verdächtig politisch korrekte 3 D-Science-Fiction, der sogenannte "Zivilisationsprozess" ist ambivalent; angesiedelt zwischen Ackerbau und Totschlag. Seit den ruhmreichen Heldentaten des Herakles enthalten alle Zivilisationsakte Gewaltkerne. Und Kunst, wenn sie gelingt, weiß davon ein Lied zu singen. Die europäischen Maler der Renaissance wurden frei von der Verpflichtung, ständig die Jungfrau Maria und ihren leidenden Sohn am Kreuz darzustellen; sie hatten ihre Freude daran, die alten Mythen spannend und "schön" auszugestalten: heroische Mannsbilder und lustvoll ausgestreckte Königstöchter, die, etwa für den spanischen König Philipp II, durchaus so etwas wie das eroberte Neuland in Mexiko symbolisierten. Die Gewalt der überseeischen Eroberungen hing also als "Schönheit" in den europäischen Palästen, sagt Theweleit, und: "gute" Kunst verleugnet den Gewaltkern in der Zivilisation nicht.

    Aber was hat es mit dem Helden Herakles auf sich, der alle seine Aufgaben so glänzend löst? Er hat doch nicht nur Abenteuer bestanden, sondern auch gearbeitet, etwa den Augiasstall ausgemistet. Nur, dieser Vorgang des unkriegerischen Arbeitens wird im Unterschied zum Vorgang des heroischen Kämpfens und Siegens in der europäischen Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung fast ganz unsichtbar. "Zivilisierung" bedeutet aber immer beides: Städtebau und Bomberkommando. Von dieser an den Religionsphilosophen Klaus Heinrich angelehnten Argumentation aus kommt einer der schönen, wilden Gedankensprünge von Klaus Theweleit, die in die Gegenwart führen:

    "Ja, die Sümpfe sind trockengelegt (= ein Drittel der Weltbevölkerung hat zu wenig Wasser, dafür Mobiltelefone); die siebenköpfigen Hydras sind geköpft, allesamt (= die emanzipierten Frauen domestiziert; umgewandelt in Thatchers und Merkels) (…) Nachgewachsen dafür sind Raketenköpfe, mit & ohne Nuclear. Erymanthische Eber? Wie schön, wenn irgendwo in der württembergischen Pampa noch ein Wildschwein nachts aus dem (gelichteten) Unterholz bricht (…) Problem: wem oder was in der Welt der ökonomisch-technologisch Zurückgebliebenen (in Afrika, Afghanistan, America-Süd, Antarktis) wollen wir unsere herakleischen Errungenschaften denn verkaufen als Zivilisationserfolg? Verkaufen als Beglückung oder Evolutionierung der 'Gattung Mensch'? Da lachen doch (nicht mal mehr) die Hühner. Dass die dem Herakles aufgebürdeten Aufgaben allesamt als unlösbar erscheinen mussten, (… ) ist Strukturelement dieser Taten, ist eurasiatische Heldenart. Die Helden unserer Kultur lösen – bis heute – nur unlösbare Aufgaben. (Flug zum Jupiter in zwei Tagen hin und zurück.) Die lösbaren Aufgaben, etwa: ausreichend billige Kitaplätze (…) oder die weltweite CO2 –Reduktion lösen sie nicht. (… ) Das 'mächtigste Land der Erde' hat sich einen (bis dato unmöglichen) Herakles an die Spitze gewählt, einen schwarzen Aussätzigen, der jeden Tag demonstriert, dass er Alles kann – Yes we can – bloß keine lösbaren Probleme lösen. Er löst nur das unlösbare, nämlich 24 Stunden am Tag als Schwarzer ein ziemlich weißer Präsident-wie-Alle zu sein."

    Unlösbares lösen, Heldentaten vollbringen: Die unheilvolle Logik, die in dem antiken Menschenbild gründet, liegt, und hier bezieht sich Theweleit noch einmal auf Klaus Heinrich, in dem Unwillen bzw. der Unfähigkeit, einen Herakles zu denken, dessen "Zivilisationsakte" eben nicht nur im Kämpfen bestehen. Wäre ein Herakles vorstellbar, der seine Arbeits- und Liebesfähigkeit im emphatischen Sinn entwickelt? Für Sigmund Freud hing die Fähigkeit zu lustvoll konzentrierter Arbeit und zu kontrolliertem Umgang mit der eigenen Aggressivität an der Organisation der Sexualität, die als Selbstzweck und als Mittel zu anderen Zwecken gedacht wurde. Wenn aber die Sexualität in narzisstischen Gesellschaften auf den "Selbsterlebnisgenuss", auf den reinen Selbstzweck schrumpft, welche psychische Instanz würde unser Verhalten dann positiv humanisieren?

    Solche großen Fragen, die sich bei Theweleit manchmal im Anhang verstecken, können natürlich nicht bündig beantwortet werden. Wer diesen Autor liest, bekommt kein Fertigfutter vorgesetzt, er nimmt an dem Prozess des Fragens und Entdeckens teil. Die Mitarbeit des Lesers wird gefordert, und genau deshalb macht man auch bei der Lektüre des Pocahontas-Buchs die Erfahrung: Arbeit und Freude müssen keine Gegensätze sein, sie können sich gegenseitig bedingen.

    Klaus Theweleit: Buch der Königstöchter. Pocahontas Band II. Von Göttermännern und Menschenfrauen
    Strömfeld/ Roter Stern-Verlag, 736 Seiten, 38 Euro