Freitag, 19. April 2024

Archiv

Inszenierung der "Blechtrommel"
Nur Schauspielkunst und Licht

Oliver Reese inszeniert am Schauspiel in Frankfurt die Blechtrommel, das vielleicht bekannteste Werk von Günter Grass. Reese spürt dabei einer Problematik nach, die in Inklusionsdebatten kaum wahrgenommen wird: die mögliche Dominanz des Außenseiters. Die damit verbundene Lächerlichkeit zeigt er alleine mit den genuinen Mitteln des Theaters, Schauspiel und Licht.

Von Cornelie Ueding | 12.01.2015
    Nico Holonics, hier bei einer Hörspielproduktion von Deutschlandradio Kultur, spielt den Oskar Matzerath.
    Nico Holonics, hier bei einer Hörspielproduktion von Deutschlandradio Kultur, spielt den Oskar Matzerath. (Deutschlandradio - Sandro Most )
    Wie dieses vielstimmige Labyrinth aus Familiengeschichte und politischer Geschichte mit Dutzenden von Figuren auf eine gerade mal zweistündige Theaterfassung herunterbrechen? Reduktion ist der Schlüssel zu Oliver Reeses theatralischer Übersetzung des Romans. Die Verwandlung von Grass' überbordendem kaleidoskopartigen Werk in eine Art Monodram. Statt auch nur zu versuchen, die Opulenz des Originals nachzuahmen – ein kühner Schnitt: eine Figur, ein Darsteller, eine Perspektive. Oskar Matzerath ist kein Erzähler, sondern in einer rasanten Stationen-Folge ebenso Nach-Spieler wie auch Opfer seiner eigenen Lebensgeschichte. In einem dramatischen Hochseilakt zwischen Identifikation und Distanz, bedrängender Vergegenwärtigungswut und leiser Andeutung gelingt Nico Holonics in einem Atemzug die Entwicklung vom rebellischen Kleinkind und greinenden Balg zum tückischen Strategen.
    "Da hatte ich also - und die Ärzte haben es immer wieder bestätigt - mit einem einzigen, zwar nicht harmlosen, aber von mir wohldosierten Sturz nicht nur den Grund für mein ausbleibendes Wachstum geliefert, sondern ganz nebenbei den armen alten Matzerath zu einem schuldigen Matzerath gemacht."
    Kaum ein Moment, in dem der Trommeln zerstörende, Glas zersingende Virtuose eindimensional bliebe. Ich – ein anderer: nicht durch Kostüm und Maske, sondern allein durch jähen Wechsel zwischen ganz unterschiedlichen schauspielerischen Registern. Anfangs plärrt der große Kleine in seinen halblangen Stoffhosen einfach nach Kinderart los, um seinen Willen durchzusetzen. Doch schon bald, eigentlich ganz kurz nach seiner Geburt entdeckt er die Besonderheit seiner Art zu schreien, schreiend die zerbrechliche Welt in Stücke zu singen und sie trommelnd aus dem Takt zu bringen. Ein, zwei Schritte, und aus dem greinenden Balg wird ein nicht unarroganter Artist. Eine Drehung, und der naive Junge mutiert zum durchtriebenen Strategen. Noch ein Hopser, und aus dem Mops wird ein gefährlicher Giftzwerg, der seine Familie, seine Gegner in den Tod treibt, sich umdreht, den Spieß umdreht und die Schuld abstreitet – um sich gleich darauf schuldig zu bekennen. Ein Zerrspiegel seiner Umgebung und der Welt, in der er aufwächst. Die historische politische Dimension, was Nationalsozialismus und Krieg für einen kleinwüchsigen, aus der arischen Art schlagenden Menschen bedeuteten, kommt dabei zu kurz. Aber Oliver Reese spürt in diesem ins Körpersprachliche übersetzten Psychogramm eines halb exhibitionistischen, halb introvertierten Außenseiters eine in der heutigen Inklusionsdebatte selten wahrgenommene Problematik auf: die der möglichen Dominanz des Außenseiters.
    Oskar agiert auf einem in den Saal hineingebauten Spiel-Podest, in einer Art Niemandsland zwischen Bühne und Zuschauerraum. Er stampft und stolziert durch braunen Dreck; ein Egomane ohne Einfühlungsvermögen und ohne jede Bereitschaft, sich anderen weiter als bis zur Rampe zu nähern. "Jemand wie wir", flüstert ihm sein gleichfalls von Holonics virtuos mitgespieltes alter ego, der Impresario Bebra, vertraulich ins Ohr, "jemand wie wir gehört auf oder unter die Bühne, nicht vor die Bühne", und inspiriert damit die artistische Dimension Oskars, der sich immer mehr als Künstler, in böser Distanz zur Menge um ihn und vor ihm begreift. Das Gegenteil eines Opfers, geprägt vom festen Willen, nicht wachsen zu wollen, schon gar nicht in das normale Leben der anderen "hineinzuwachsen".
    Die Aufführung endet mit Oskars von starken Selbstzweifeln begleitetem Entschluss, von nun an wohl doch wachsen zu müssen – weil seine bisherigen Möglichkeiten des Widerstands erschöpft sind und alle tot, auf die sie zugeschnitten waren. Auf diesen Aspekt sind Reeses für seine Textfassung ausgewählten Episoden fokussiert: die vier Röcke der Großmutter, der Trommler, der selbst Naziversammlungen zu seinem Rhythmus verführt, Ekel-Aale und der Vater, der am listig verabreichten Parteiabzeichen erstickt. Im Zeitraffer und dabei zugleich in Zeitlupe wird dem Zuschauer die Strategie des Widerstands und die Lächerlichkeit von Inklusions- und Beziehungsversuchen vorgeführt. Und das mit den genuinen Mitteln des Theaters: Schauspielkunst und Lichtwechseln. Keine Projektionen, keine Videoeinspielungen, keine platten Vergegenwärtigungen. Nur manchmal leider ein paar gestische Illustrationen zuviel. Dabei ist es viel packender, wenn Oskar seine Selbstbefragungen und Fragen, selbst in der Kirche antwortlos ins Leere ruft, als wenn er aufs Stichwort 'Stechschritt' – im Stechschritt die Bühne queren muss.