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Inszenierung der Demokratie

Rufins Erzählung richtet sich eng an den heutigen sozialen und politischen Verhältnissen aus. Der Weltstaat "Globalia" ist eine Hochrechung auf unsere westliche Gegenwart - und eine perfekt inszenierte demokratische Kulisse.

Von Christoph Vormweg | 23.08.2005
    Gallimard-Autoren, die regelmäßig die Bestseller-Listen erstürmen, müssen ihre Interviews nicht mehr in Hinterzimmern oder Cafés geben. Wie vor einigen Jahren der Romancier Daniel Pennac führt mich auch Jean-Christophe Rufin in einen der feudalen Salons des Verlagshauses. Nicht nur die über zehn Meter hohen Stuckdecken wissen zu imponieren, auch der stille, idyllische Hinterhofgarten mitten im lärmenden Paris. Die Szenerie erinnert an eine Passage aus Jean-Christoph Rufins Roman "Globalia". Die junge Kate sucht einen entfernt verwandten Politiker auf, weil ihr vom "Gesellschaftsschutz" zum Staatsfeind erkorener Geliebter Baikal verschollen ist. Das Viertel, in dem der hohe Staatsbeamte wohnt, gleicht einem "Geschichtsmuseum". Auch das Interieur ist beeindruckend:

    "Kate durchquerte den Salon und bewunderte den Luxus der Einrichtung. Das Geheimnis lag in einem Wort: Leere. Diese Villa zeigte, was überall sonst zum seltensten Gut geworden war: Raum. Die übergroße Mehrheit der Globalier drängte sich in winzigen, teuren Wohnungen. Immer mehr Menschen, vor allem unter den ärmeren Schichten, und damit in erster Linie natürlich die Jugend, waren in Gemeinschaftswohnungen untergebracht. Kate zählte in Gedanken, wie viele Menschen in diesem Salon hätten leben können. 25 wäre bestimmt nicht übertrieben."

    Schon dieses Zitat zeigt, wie eng sich Jean-Christophe Rufins utopischer Roman an den heutigen politischen und sozialen Verhältnissen ausrichtet. Der Weltstaat "Globalia" ist eine in vielen Punkten nahe liegende Hochrechnung auf unsere westliche Gegenwart. So repräsentiert - wie sich herausstellt - der Politiker, den Kate um Hilfe bittet, nur noch das System, ohne faktische Macht zu besitzen. Die liegt - wie wir am Ende erfahren - in den Händen einiger weniger betagter Wirtschaftsbosse, die den Weltmarkt unter sich aufgeteilt haben. "Globalia" ist also nur eine perfekt inszenierte demokratische Kulisse. Nicht einmal von der Jugend gibt es mehr etwas zu befürchten: Geburtenkontrolle und regelmäßiger Organ-Austausch haben aus ihr eine Minderheit gemacht. Jean-Christophe Rufin:

    "Wir leben heute, wie ich finde, in einer Gesellschaft, die nicht Verbote praktiziert, sondern Freiheiten, die nicht die Beschränkung kennt, sondern den Überfluss, die nicht auf Autorität gründet, sondern auf Individualismus. Für mich lag das Interesse darin, auf diesen Begebenheiten eine Utopie aufzubauen, die zeigt, wie sich eine freiheitliche, individualistische Überfluss-Gesellschaft gegen den Menschen wenden kann, wie sie zu einem gefährlichen Unterdrückungssystem werden kann, in dem die Freiheit letztendlich bedroht ist."

    Nicht nur der nackte Faschismus, wie ihn George Orwell in seinem Roman "1984" beschreibt, kann demnach totalitäre Verhältnisse schaffen, sondern auch eine libertär-demokratische Ideologie des scheinbaren "anything goes". Von einer Tyrannei der Mehrheit hat bereits der Historiker Alexis de Tocqueville gewarnt, als er 1840 den 2. Teil seiner Studie über die Demokratie in Amerika veröffentlichte. Von seinen Überlegungen ausgehend, hat Jean-Christophe Rufin seine persönlichen Erfahrungen als Mitbegründer der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" und als Präsident des Vereins "Aktion gegen den Hunger" verarbeitet. Denn Rufin pendelt regelmäßig zwischen erster und dritter Welt.

    In seinem Roman "Globalia" nennt er die dritte Welt "Non-Zone". Sie liegt jenseits der großen Glaskuppel, unter der Globalia - dank Schönwetter-Kanonen - selbst das Klimaproblem gelöst hat. In der "Non-Zone" herrscht Anarchie. Dorthin werden die Kriege gegen die hausgemachten Terroristen exportiert, um die "Globalia"-Bevölkerung per Live-Schaltung bei Laune zu halten. Zum Beispiel gegen Kates Geliebten Baikal. Sein einziges Vergehen: er hatte die Glaskuppel illegal verlassen, um das Abenteuer und damit die Freiheit kennen zu lernen. Einer der Erfinder des Globalia-Systems sieht in ihm deshalb ein ideales Feindbild für die gleichgeschalteten Medien. Kurzum, bei soviel Anti-Bush-Funk kann es nicht verwundern, dass Jean-Christophe Rufin - anders als zuvor mit seinen preisgekrönten historischen Romanen - auf dem amerikanischen Buchmarkt für "Globalia" immer noch keinen Verleger gefunden hat:

    "Sehen Sie, es gibt da zwei verschiedene Probleme. Zum einen haben die USA eine sehr große Science-Fiction-Produktion, so dass die Nachfrage nach Übersetzungen gering ist - das ist der offizielle Vorwand. Aber es gibt noch eine andere Dimension: Eine Kritik am globalen und mehr noch am amerikanischen System, die aus Frankreich kommt, stößt dort im Moment auf Ablehnung. Man darf die derzeitige tiefe Krise der französisch-amerikanischen Beziehungen nicht unterschätzen: im politischen Alltag, aber vor allem im Bereich der Ideen."

    Jean-Christophe Rufin hat schon etliche politische Essays verfasst. In diesem Sinne benutzt er den Abenteuerroman - den historischen genauso wie den utopischen - als Ideentransporter. Nun frage ich mich aber, warum mich die Abenteuer von Baikal in der Non-Zone und von seiner Geliebten Kate bei ihren Recherchen in Globalia nicht sonderlich gefesselt haben? Liegt es an der sprachlichen Überraschungslosigkeit von Rufins grundsolider Bestseller-Schreibe? Liegt es daran, dass einem seine Zukunftsängste bei einer halbwegs kritischen Presse-Lektüre alle schon durch den Kopf gegangen sind? Oder daran, dass mich meine jugendlichen Science-Fiction-Lektüren in den 70er Jahren - vor allem Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" - in viel fernere Welten als Rufins "Globalia" entführt haben? Gerne hätte ich meinen 13-jährigen Sohn als Gegenleser angeheuert. Aber der hat´s natürlich "im Moment" nicht mit Büchern und wartet lieber auf die Verfilmung. So kann ich Jean-Christophe Rufin nur ein gesundes Gespür für die politischen Gefahren im demokratischen System attestieren, für die Ungerechtigkeiten im Nord-Süd-Konflikt, für den politischen Zynismus der Machthabenden - womit wir wieder beim alten Problem der sogenannten engagierten Literatur wären.

    Jean Christoph Rufin: Globalia.
    Verlag Kiepenheuer & Witsch