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Integration
"Lassen wir Flüchtlinge eigene Städte nachbauen"

Die Integration der Flüchtlinge sorge faktisch für große Probleme und Unruhe, sagte die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot im Deutschlandfunk. Sie appelliert, Flüchtlinge als Weltgäste zu betrachten - und sie ihre eigenen Städte im Gastland bauen zu lassen. Dies sei angesichts der Konkurrenz um billigen Wohnraum und Jobs ein interessanter Lösungsansatz.

Ulrike Guérot im Gespräch mit Peter Kapern | 25.02.2016
    Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin von der Denkfabrik "Europeen Democracy Lab".
    Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin von der Denkfabrik "European Democracy Lab" (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Guérot blickt auf die Geschichte Europas: Meistens sei man grenzenlos in Europa gereist, der Schengen-Raum sei keine europäische Erfindung. Individuell wolle man möglichst grenzenlos leben, aber von den Staaten fordere man Grenzen: Das sei überholt. Sie zitiert den Philosophen Immanuel Kant, der allen Erdenbürgern ein Weltgastrecht zugestand. Was machen wir mit den Erdenbürgern, die zum Beispiel ihr Land aufgrund des Klimawandels verlieren, fragte Guérot im Interview mit dem Deutschlandfunk.
    Offensichtlich stresse es aber unsere Gesellschaften, die Flüchtlinge zu integrieren. Segregation sei hier eine Form von Toleranz unter dem Dach des gleichen Rechts, sagte sie. Und sie nennt das Beispiel der Auswanderung von Europäern in die USA: Dort hätten die Migranten ihre alten Städte nachgebaut. Man müsse das als Konzept erweitern, weil man heute besser und schneller reisen können.
    Ihr Vorschlag führe, so ihre Erlebnisse, zu einem Aha-Effekt: Lassen wir die Flüchtlinge Städte nachbauen. Aus der Erfahrung, dass man nicht innerhalb von drei Jahren jeden zum fließend Deutschsprachigen machen könne und es eben auch Konkurrenz um billigen Wohnraum und Jobs gäbe, sei dies ein interessanter Lösungsansatz.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Man hat ja als Moderator so seine Erfahrungswerte. Und meine Erfahrungswerte, die sagen mir, dass das Gespräch, das jetzt kommt, bestimmt einen Haufen Hörerpost nach sich ziehen wird. Aber dagegen ist ja nichts einzuwenden. Also los geht’s!
    Seit Monaten bemühen sich Europas Politiker, irgendwie die Grenzen des Kontinents, die inneren wie die äußeren, dicht zu bekommen. Der eine Regierungschef lässt Stacheldraht ausrollen, die andere will Abkommen mit der Türkei schließen. So oder so, beide verfolgen dasselbe Ziel: Grenzen müssen endlich wieder Grenzen sein. Und genau in dieser Situation setzen sich zwei Personen hin und schreiben einen Aufsatz, in dem all dies als grundfalsch bezeichnet wird. „Weg mit den Grenzen“ schreiben sie. „Her mit den Flüchtlingen, egal wie viele, egal wie viele, egal woher sie stammen.“ Die Autoren, das sind der österreichische Schriftsteller Robert Menasse und die deutsche Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Guten Morgen, Frau Guérot.
    Ulrike Guérot: Guten Morgen!
    Kapern: Frau Guérot, ein großer Teil der Zuhörer wird jetzt gleich, wenn Sie Ihre Thesen ausbreiten, über den Frühstückstisch rufen, die Frau ist doch nicht mehr zu retten, oder so was Ähnliches. Ich nehme an, das haben Sie einkalkuliert, oder?
    "Wir können Grenzen faktisch nicht dicht machen."
    Guérot: Die Frage ist natürlich, was realistisch ist. Ja natürlich wird uns - das sagen Sie ja jetzt auch schon - Irrealismus oder Träumerei vorgeworfen, dass das ja gar nicht möglich ist. Dagegen stellen wir einfach mal Tertium datur, das Dritte muss gesagt werden. Das was wir sehen, ist, dass die Integration so offensichtlich zumindest sehr große Probleme macht und natürlich auch soziale Unruhe schürt. Wir sehen aber zum anderen, dass wir die Grenzen ja faktisch nicht dicht machen können. Wir sehen ja in Griechenland, dass wir auf Stränden am Mittelmeer keinen Stacheldraht bauen können. Und da haben wir einfach gesagt, das machen wir. Wir erinnern uns an die Geschichte. Es ist ja auch nichts Neues in dem Vorschlag, sondern wir haben einfach daran erinnert, dass nationale Grenzen etwas sehr Neues sind. Das haben wir leider vergessen, weil wir im 20. Jahrhundert gelebt haben. Aber meistens hat man grenzenlos in Europa gereist.
    Kapern: Können Sie das noch ein bisschen untermauern? Das klingt ja wirklich für Ohren in der Gegenwart, die mit der Aufteilung des europäischen Kontinents in Staaten, mit der Aufteilung der Welt in Staaten groß geworden sind, überraschend, dass Sie sagen, na ja, es hat eigentlich nie Grenzen gegeben, oder wenn es welche gegeben hat, dann haben die eigentlich nie eine Rolle gespielt.
    "Grenzenlosigkeit vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit"
    Guérot: Na ja. Es hat jedenfalls zum Beispiel keine Pässe gegeben. Sie konnten damals mit der Postkutsche von Moskau bis Paris reisen. Sie hatten Zollgrenzen, Handelsgrenzen, wie Büchner zum Beispiel in seinen vielfältigen Stücken beschreibt. Aber Sie hatten keine Staatsgrenzen. Das heißt, auch das Passdokument, was damals von den Vereinten Nationen, vom Völkerbund damals eingeführt wurde, war im Grunde ein Dokument, das nur vorläufigen Charakter eigentlich haben sollte - das steht in der Präambel - und eigentlich abgeschafft werden sollte. Das heißt, wenn wir heute glauben, dass der Schengen-Raum eine wirklich zivilisatorische Leistung ist und eine Erfindung der Europäischen Union, dass wir jetzt seit Schengen einfach mal Grenzenlosigkeit haben, dann ist das geschichtlich so einfach nicht richtig, sondern wir hatten tatsächlich im staatlichen Sinne weitgehend Grenzenlosigkeit vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit, bis diese Nationalstaaten erst mal gemacht wurden, aber bis sie dann auch erst in jüngerer Zeit einfach mal Pässe eingeführt haben.
    Kapern: Aber auch damals gab es für die Europäer die Wahrnehmung von denen hier drinnen und denen da draußen. Ich erinnere nur mal an die Angst vor den Türken, vor den Osmanen oder vor den Raubzügen der Magyaren.
    Mit der Postkutsche von Moskau nach Paris
    Guérot: Das ist absolut richtig und insofern kann man natürlich auch die Geschichte mit der Zukunft nicht vergleichen. Das stimmt auch, dass wir heute natürlich ganz andere Wanderungsbewegungen haben. Wenn ich jetzt sage, früher ist man mit der Postkutsche von Moskau nach Paris gefahren ohne Grenzen, dann ist das natürlich was anderes, als wenn man jetzt von Aleppo nach Berlin kommt. Insofern haben wir da durchaus eine andere Zeit, einfach auch eine andere Globalisierung. Aber wir wollten das noch mal als Template in Erinnerung rufen, um einfach folgenden Punkt zu machen: Alles ist fluide. Wir leben in einer Welt, in der wir von Pipelines und von Breitbandkabeln und von Reisewegen unbedingt verlangen, dass sie grenzenlos sind. Wir wollen das für unser eigenes Leben. Wir wollen morgen nach Thailand fliegen können. Wir wollen das Gas aus Russland. Wir wollen da keine Grenzen mehr, auch nicht beim Breitbandkabel. Aber bei nationalen Staaten, da sagen wir, das muss staatlich sein. Und in diesem Artikel, wo wir ja so eine Art futurologisches Konzept gemacht haben, haben wir eigentlich nur mal ein Plädoyer dafür ausgesprochen, dass wir eine neue Welt denken. Und diese neue Welt denken heißt, dass wir eine bestehende Realität der Grenzenlosigkeit adaptieren in ein politisch institutionelles System, das wir uns tatsächlich ausdenken müssen. Insofern haben wir ja nur eine Skizze gemacht, wie das aussehen könnte. Wir haben dann von Transiträumen der Möglichkeiten gesprochen. Aber Idee war einfach dahinter, das was Realität ist, müsste die Politik und müssten die politisch institutionellen Systeme abbilden, und das tun sie nicht, wenn die Nationalstaaten die einzigen sind, die statische Grenzen haben wollen, wo der Rest fluide ist.
    Immanuel Kants Weltgastrecht
    Kapern: Frau Guérot, lassen Sie uns das noch mal versuchen, etwas konkreter zu fassen. Ich zitiere einen zentralen Satz aus Ihrem Aufsatz: „Jeder Mensch muss in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern, und sich dort niederlassen können wo er will.“ Ich würde mal sagen, der Untergang des Abendlandes ist die geringste Befürchtung, die viele unserer Hörer jetzt gerade angesichts dieses Satzes empfinden.
    Guérot: Ja, dem stelle ich Immanuel Kant gegenüber, ein deutscher Denker 1792, der den schönen Begriff des Weltgastrechts geprägt hat, der einfach auf der simplen Tatsache beruht, dass erst mal alle Menschen als Erdenbürger gleich sind und das gleiche Recht haben, auf jedem Platz der Erde zu wohnen. Und dieses Weltgastrecht sich noch mal in Erinnerung zu rufen und zu sagen, wie organisieren wir denn heute Weltgastrecht. Um mal ganz konkret zu werden, das haben wir in dem Artikel ja auch gesagt: Wenn wir demnächst über eine Klimakatastrophe reden, die vom Westen ja natürlich auch maßgeblich mit befördert wird, wenn hier jede Durchschnittsfamilie zwei Autos hat, wenn wir also diese Klimakatastrophe haben und demnächst irgendwo in den Seychellen ein paar Inseln wegschmelzen, was machen wir mit diesen Erdenbürgern? Werden wir denen sagen, weil Du zufällig in diesem Seychellen-Staat geboren wurdest, hast Du jetzt kein Recht, nach Europa zu kommen, oder nach Australien zu gehen, oder in die USA? Nein! Wir werden den Planeten Erde teilen müssen unter den Menschen, die auf dieser Erde leben, und das ist dieser Begriff des Weltgastrechtes. Ich glaube, die intelligente Frage wäre, darüber nachzudenken, wie organisieren wir das.
    Kapern: Wie viele Millionen Menschen würden denn wohl dieses Gastrecht in Europa in Anspruch nehmen?
    Guérot: Das wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass wir Zahlen haben, dass im Moment 60 Millionen Flüchtlinge unterwegs sind. Ich bin ja da nicht die Einzige oder wir sind nicht die Einzigen, sondern es gibt ja viele Leute, die gar nicht mehr von Flüchtlingen sprechen, sondern wir haben natürlich Weltwanderungsbewegungen oder Völkerwanderungen, wie wir das alle in den Geschichtsbüchern gelernt haben, damals im sechsten Jahrhundert nach Christus, wo die große Völkerwanderung war. Erinnern wir uns übrigens auch, dass der Europäer schlechthin natürlich aus Afrika kam. In Urzeiten der Menschheitsgeschichte ist es so: Jeder Europäer hat afrikanische Wurzeln. Das müssen wir schon immer noch mal mitdenken, dass die Welt immer mobil war für die Menschen.
    Leitkultur versus Segregation
    Kapern: Aber wie, Frau Guérot, organisieren Sie das? Miteinander, oder ist es ein Nebeneinander dieser Neuankömmlinge und jener, die schon hier sind?
    Guérot: Wir haben ja in dem Artikel vorgeschlagen. Wir haben erst mal eine Bestandsaufnahme gemacht und die Bestandsaufnahme war: Offensichtlich stresst es ja unsere Gesellschaften, diese Flüchtlinge zu integrieren. In dem Konzept der Integration steht natürlich auch immer der kulturelle Anspruch einer kulturellen Integration. Leitkultur ist das Stichwort. Die müssen sich da anpassen. Dem stellen wir entgegen, dass es ein Konzept der Soziologie ist, das da sagt, Segregation ist eine Form von tolerant, Du das Deine, ich das meine, unter dem Dach des gleichen Rechtes natürlich.
    Kapern: Also schafft ein, zwei, viele Parallelgesellschaften?
    Guérot: Das könnte man so behaupten. Aber wir haben einfach mal geguckt, was ist denn in der Geschichte passiert, wenn es um Flüchtlinge ging. Als zum Beispiel die Europäer geflohen sind im 18., 19. Jahrhundert nach Amerika, aus politischen Gründen oder auch wegen Hungersnöten, dann haben die ihre Städte nachgebaut. Städtenachbau heißt, es gibt dann New Hanover, New Hamburg, New Hampshire und so weiter und so fort, New York, um da mal anzufangen. Das heißt, da wurden Städte nachgebaut, die zum Teil ganz genau so sind wie das alte Hamburg gewesen ist. Das galt übrigens nicht nur für die Flüchtlinge Europas in die USA. Das galt übrigens für die Hugenotten, die im 17. Jahrhundert gekommen sind und die hier in Deutschland ihre Städte nachgebaut haben, Celle und Bayreuth zum Beispiel. Das galt auch für die Sudetendeutschen.
    Kapern: Jetzt haben Sie aber immer nur Migranten, die innerhalb ihres eigenen Kulturkreises geblieben sind, genannt.
    Guérot: Ja, das stimmt. Da habe ich auch keine Antwort darauf. Das ist einfach die Verschiebung, dass wir das, was wir früher als Konzept hatten, nämlich dass man Neuankömmlinge, die ihre Städte woanders nachbauen im gleichen Kulturkreis, dass wir das jetzt wahrscheinlich als Konzept erweitern müssen, einfach weil wir besser, schneller reisen können und die Welt einfach flacher geworden ist für alle.
    Kapern: Frau Guérot, Sie und Robert Menasse gehen ja mutmaßlich nicht davon aus, dass Ihr Konzept zur Handlungsanleitung unmittelbar der Europäischen Union wird. Gleichwohl die Frage: Wie fallen die Reaktionen auf diesen Aufsatz aus?
    "Die Menschen bilden die Soziokultur ihrer Stadt ab"
    Guérot: Es ist ganz interessant. Auf Twitter und überhaupt in diesen Social Networks habe ich wirklich, haben wir beide eine Flut von sehr positiven Reaktionen bemerken können, und ich hatte jetzt auch, sage ich mal, schon zwei Anrufe aus dem politischen oder parapolitischen Raum, die mich ernsthaft gefragt haben, meinen Sie das ernst, können wir darüber mal reden. Das heißt, es hat wohl offensichtlich so einen Aha-Effekt, dass das eine simple, gute Idee ist, die für beide Seiten, nämlich die Flüchtlinge, die dann einfach Neuankömmlinge wären, wie aber auch für uns selber es weniger stressfrei ist. Wir müssen uns doch mal klar machen, was wir in dem Artikel vorschlagen, ist zu sagen: Anstatt dass wir diese Familien trennen, Asylgeld bezahlen, die Leute auf verschiedene Stadtteile verteilen, lassen wir die Städte nachbauen. Wir bauen jetzt Neu Aleppo, wir bauen Neu Damaskus und so weiter, wie man damals Neu Hannover gebaut hat. Das ist die Idee. Und die Idee dahinter ist, dass wir Soziostrukturen wieder abbilden können aus der Erfahrung heraus, dass wir einfach nicht jeden innerhalb von drei Jahren zum fließend alphabetisierten Deutschen machen. Wenn ich jetzt nach Arabien gehen müsste und innerhalb von drei Jahren Arabisch lernen müsste, Schrift, Sprache und da arbeiten müsste, und dann würde man mir nach drei Jahren sagen, Du hast das jetzt aber nicht toll gelernt, Du fliegst wieder raus, was ja im Moment der Diskussionsstand ist, wenn die jetzt nicht innerhalb von drei Jahren sich integrieren, dann müssen die auch wieder gehen, dann kann man nur sagen, das ist ein Überforderungskonzept für die Flüchtlinge wahrscheinlich, aber auch ein Überforderungskonzept für viele hier am unteren Rand der Gesellschaft vor allem, die jetzt um Jobs und um Wohnungen, billigen Wohnraum mit den Flüchtlingen konkurrieren. Und um diesen Stress aus beiden Gruppen zu nehmen, haben wir dieses Konzept vorgeschlagen, ein bisschen als Tertium datur, das Dritte ist noch nicht gesagt, und in der Tat gibt es tatsächlich so einen kleinen Aha-Effekt. Ob das jetzt so Wirklichkeit wird, das kann man ja nicht sagen. Aber wenn viele anfangen zu denken, dann ja vielleicht.
    Ein letzter Satz: Der Deutsche Architektentag macht dieses Jahr seine Jahreskonferenz unter dem Motto „Städte für Flüchtlinge“. Und alle Stadtsoziologen sagen Ihnen: Wenn Sie ein Flüchtlingscamp bauen und die Leute darin alleine lassen, dann wandelt sich das innerhalb von sechs Monaten in ein Camp, und zwar von ganz alleine, weil die Menschen einfach wieder die Soziokultur ihrer Stadt abbilden.
    Kapern: Wir werden die Karriere Ihres Aufsatzes weiter verfolgen. Das war die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Guérot, vielen Dank für das Gespräch, einen schönen Tag noch.
    Guérot: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.