Donnerstag, 25. April 2024

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Integrative Bildung
"Noch besteht Handlungsbedarf"

Eine Studie zur Inklusion an deutschen Schulen, in Auftrag gegeben von der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, hat Defizite aufgezeigt. Der Leiter der Monitoring-Stelle, Valentin Aichele, forderte im Deutschlandfunk, dass der Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention ernst genommen und umgesetzt werden sollte. Dabei sei keine andere Entwicklung denkbar, als dass Sonderschulen auslaufen.

Valentin Aichele im Gespräch mit Kate Maleike | 19.01.2015
    In einer Grundschul-Klasse sitzt ein Junge im Rollstuhl
    In dieser Klasse lernen Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam (dpa picture-alliance / Armin Weigel)
    Kate Maleike: Mangelnde Anstrengung, stiefmütterliche Behandlung, Deutschland weit entfernt von einer inklusiven Bildung. Im Bundestag wurden bei der Debatte des Nationalen Bildungsberichtes am letzten Freitag klare Worte der Kritik gesprochen, und das wird man in der Monitoring-Stelle zur Behindertenrechtskonvention in den Bundesländern sicher mit großem Interesse verfolgt haben, denn auch hier hat man aktuell Defizite ausgemacht. Es gibt eine Studie, die besagt, dass dringend mehr passieren muss. Was genau, das wollen wir jetzt besprechen mit Doktor Valentin Aichele. Er leitet die Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Guten Tag, Herr Aichele!
    Valentin Aichele: Guten Tag, Frau Maleike!
    Maleike: Es fehlt an Geld und neuen Maßnahmen, wurde gesagt im Bundestag, die Länder und Gemeinden bräuchten deutlich mehr Unterstützung als bislang. Können Sie das unterstützen?
    Aichele: Das können wir unterstützen. Wir haben ja in der Studie untersucht, was die Bundesländer auf der rechtlichen Ebene gemacht haben in den letzten sechs Jahren, um inklusive Bildung gut einzurahmen. Und unser Ergebnis ist, dass also dort, klar erkennbar, noch Handlungsbedarf besteht. Die Studie selbst untersucht den rechtlichen Rahmen anhand von zwölf Kriterien, beispielsweise, ob es einen Rechtsanspruch auf inklusive Bildung gibt, ob es einen Anspruch gibt auf angemessene Vorkehrungen, einen Schulentwicklungsplan; ob es einen Anspruch gibt auf zieldifferenzierten Unterricht. Und das ist so in der Breite erkennbar, dass keines der Bundesländer in allen Punkten eben den Anforderungen dieser Art entspricht.
    Maleike: Wie erklären Sie sich das?
    Aichele: Die Konvention trat ja 2009 in Kraft. In Deutschland gab es damals sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der Integration, mit der integrativen Bildung, sie war eben in manchen Bundesländern stärker entwickelt als in anderen. Insgesamt traf sozusagen die Forderung nach der inklusiven Bildung auf eine Struktur, die unterscheidet eben zwischen der Regelschule und der Sonderschule. Und aufgrund dieser hohen segregativen Struktur ist die Herausforderung für Deutschland und die Länder besonders groß, hier etwas zu verändern. Und insofern ist zuzugestehen, dass das ein Entwicklungsprozess sein muss, der auch in Teilen in die richtige Richtung läuft. Beispielsweise haben wir in der frühkindlichen Bildung jetzt also gemeinsame Bildungsstätten, wo eben 67 Prozent der Kinder mit Behinderung auch eben voll integriert sind. In Grundschulen sind es im Durchschnitt bundesweit 44 Prozent. Das ist eine positive Tendenz, aber es bestehen eben große Herausforderungen im Sekundarbereich, und erklären kann man sich das einfach mit der großen Aufgabenstellung, dass wir ja aus zwei Systemen ein inklusives Bildungssystem machen müssen. Und von dieser Zielstellung, die die Konvention ja vorgibt verbindlich, sind nicht alle Länder in gleichem Umfange sozusagen überzeugt und folgen ihr nach.
    "Systeme sind darauf eben noch nicht hinreichend vorbereitet"
    Maleike: Sie sagen jetzt also, wir haben im frühkindlichen Bereich Bewegung reinbekommen, wir haben aber ansonsten noch relativ viele verschlossene Türen, vor allem im Sekundarbereich. Da hatten wir den Fall Henri im Kopf aus dem letzten Jahr, den Fall eines Jungen mit Down-Syndrom, der gern eine weiterführende Schule besuchen wollte und wo die Gymnasien und auch die Realschulen, das machen wir nicht. Sagen Sie uns zur Lage der Sekundarschulen noch mal was - wie ist da die Lage im Moment?
    Aichele: Die Lage ist eben, dass wir bundesweit aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedliche Herausforderungen für den Sekundarbereich sehen. Es gibt eben jetzt aufgrund der auch gewachsenen Zahlen in den Grundschulen natürlich mehr Kinder, die eben dann im Regelschulunterricht weitermachen wollen mit dem Aufstieg in die Sekundarstufe. Und das System und die Systeme sind darauf eben noch nicht hinreichend vorbereitet.
    Maleike: Das heißt, es gibt mehr Fälle Henri in Deutschland?
    Aichele: Es wird, das ist vielleicht eine natürliche Entwicklung, mehr Fälle geben, wo Eltern eben die positiven Seiten der gelungenen integrativen Beschulung erkennen und damit eben mit ihrem Kind den Schritt gehen wollen, das weiterzuführen eben in den allgemeinen Schulen. Ich sehe jetzt noch mal mich veranlasst, kurz Stellung zu nehmen, weil der Bund ist natürlich für die Bildungsfragen nicht zuständig. Und er kann sich nicht überlegen, den Ländern etwas aufzuoktroyieren. Was wir eben sehen müssen, ist, dass wir kein inklusives Bildungssystem in keinem der Länder haben, sondern wir haben im Wesentlichen zwei Systeme. Diese Strukturen sind so stark etabliert und nur in wenigen Ländern jetzt auch in die Transformation gekommen. Das heißt, einige Länder haben die Aufgabe erkannt und Konsequenzen daraus gezogen, das Sonderschulwesen sozusagen schrittweise abzubauen und eben zu überführen die Kompetenzen und Anforderungen in die allgemeine Schule. Und damit haben sie begonnen, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen.
    "Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention ernst nehmen und umsetzen"
    Maleike: Was sind also Ihre Hauptforderungen an wen?
    Aichele: Wir fordern von den Ländern, dass sie den Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention ernst nehmen und umsetzen. Dabei ist eben keine andere Entwicklung praktisch denkbar, dass eben Sonderschulen auch auslaufen, weil es dazu gehört, die Ressourcen und Kompetenzen, die wir jetzt in der Sonderschule haben, in die allgemeine Schule überführen. In dem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der UN-Fachausschuss in Genf nun Deutschland prüft hin auf seine Umsetzungserfolge. Dieser Termin findet im März statt. Das Staatenprüfverfahren findet statt, und dort ist zu erwarten, dass eben das Thema inklusive Bildung ebenfalls behandelt wird und Deutschland eine Empfehlung bekommt vor dem Hintergrund, der Stand der Entwicklung, eben die inklusive Bildung weiter zu betreiben.
    Maleike: Das sagt Doktor Valentin Aichele. Er leitet die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention in den Bundesländern, und wir haben gesprochen über Maßnahmen, die die inklusive Bildung in Deutschland fördern können. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Aichele!
    Aichele: Ich danke Ihnen, Frau Maleike!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.