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Integrität
Heilige und Verrückte

Integre Persönlichkeiten leben so, dass sich ihre persönlichen Wertvorstellungen jederzeit in ihrem Verhalten wiederfinden. Nicht selten sind sie Vorbilder - und manchmal Fanatiker.

Von Andreas Beckmann | 12.06.2014
    Aufnahme von Edward Snowden, die aus einem Video-Interview mit dem britischen "Guardian" vom Juni 2013 stammt
    Ist Edward Snowden integer? (picture alliance / dpa )
    Leicht zu finden sind integere Menschen nicht, aber Edward Snowden könnte so einer sein. Schließlich hat er seine gesamte bürgerliche Existenz aufs Spiel gesetzt, um zu tun, was er für nötig hielt.
    "Die Öffentlichkeit ist immer noch fasziniert von Menschen, die Integrität vorleben. Die zu ihren Idealen stehen und bei denen man sich darauf verlassen kann, dass sie tun, was sie sagen. Und die für die Konsequenzen einstehen, die sich daraus ergeben. Eine solche Einheit von Wort und Tat ist etwas, was Aufmerksamkeit erregt."
    Denn solche Menschen scheinen in der modernen Welt zu fehlen, bemerkt die Philosophin Amber Carpenter von der University of York. In einer Zeit, in der jeder seine Arbeitskraft zu Markte tragen muss, werde alles zur Ware und damit austauschbar - auch ethische oder politische Haltungen. Gerade in der Politik vermissen viele Zeitgenossen daher Charaktere, die einen klaren und unverrückbaren Standpunkt vertreten und diesen nicht bei nächster Gelegenheit durch einen Kompromiss aufweichen.
    "Das kann nicht funktionieren, wenn man Verantwortung für die Welt übernimmt. Sie können nicht für sich bleiben, sie können nicht in ihrer privaten Reinheit verharren, sondern sie müssen auf andere zugehen, sie müssen sich Macht aussetzen und da sind sie mittendrin in Interessengegensätzen, in auch Intrigen, in Schwierigkeiten."
    Für die Politologin Gesine Schwan ist nicht derjenige ein integerer Politiker, der unbeweglich auf seinem Standpunkt verharrt, sondern der, der spürt, wann er nachgeben kann, ohne seine Wähler oder sich selbst zu verraten, und wann nicht. Dass aber gerade kompromissbereite Politiker schnell als schwach oder unzuverlässig gelten, habe einen simplen Grund: Gerade im Wahlkampf glaubten viele von ihnen, ihre Vorhaben schon wie Ankündigungen präsentieren zu müssen.
    "Wenn sie an ihre Versprechen erinnert werden und sie hinterher nicht halten, kriegen sie Dresche, wenn sie gar keine Versprechen geben und gar nicht sagen, wohin sie eigentlich selbst wollen, kriegen sie auch Dresche, also die logischen Möglichkeiten sind ziemlich begrenzt."
    Standhaftigkeit oder Sturheit?
    Die Alternative wäre der Rückzug auf unverhandelbare Überzeugungen, nach dem berühmten Motto: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Was bei Luther Standhaftigkeit signalisierte, drückt bei anderen allerdings oft nur Sturheit und Erstarrung aus.
    Amber Carpenter: "So kann Integrität ein Mittel sein, um sich in der Welt bequem einzurichten. Man entscheidet sich für eine Perspektive, eine Ideologie, einen Glauben und folgt stur den Regeln dieser Weltsicht. Das heißt aber noch lange nicht, dass man dann Gutes tut für die Menschheit. Es heißt nur, dass man seinem eigenen Leben einen Sinn gibt und das tut erst mal nur einem selbst gut."
    Solch eine Einstellung kann einsam machen und demjenigen, der ihr treu bleibt, nur noch das Leben eines Eremiten erlauben. Sie kann einen aber auch zu einem Star werden lassen und ihm Gefolgschaft einbringen. In beiden Fällen halten ihn andere schnell für ein bisschen schräg oder gar verrückt. Ebenso gut könnten sie in ihm einen Heiligen oder Erlöser sehen, meint Amber Carpenter.
    "Es ist gar nicht so einfach, zwischen integeren Menschen und Fanatikern zu unterscheiden. Immer wenn wir nach Integeren suchen, stoßen wir auch auf Eiferer. Das zeigt die Lebenserfahrung."
    Heilige und Monster
    "Es gibt offensichtlich eine große Nähe von Heiligen und Monstern, vielleicht besitzt jeder Mensch die Veranlagung für beides. Und gerade derjenige, der alles hundertprozentig richtig machen will, der an sich selbst den Anspruch stellt, ein Engel sein zu sollen, der ist besonders gefährdet, am Ende zum Ungeheuer zu werden."
    Für den Historiker Matthew Maguire von der DePaul University in Chicago ist die Geschichte der Menschheit voll von Männern, die das Beste wollte und Verheerendes anrichteten. Doch gerade diese Menschen galten ihren Zeitgenossen oft als besonders integer. Das galt für religiöse Führer ebenso wie für Vertreter der Aufklärung.
    "Nehmen Sie Maximilien Robespierre. Der erscheint in Darstellungen seiner Zeit als absoluter Überzeugungstäter, der sich rückhaltlos dem Glauben an die menschliche Vernunft verschrieben hatte. Sein Spitzname war: Robespierre, der Unbestechliche. Mehr Integrität geht doch kaum. Aber heute wissen wir: es war eine fatale Reinheit."
    Denn Robespierre setzte im Verlauf der Französischen Revolution den sogenannten Großen Terror ins Werk, der die Tugend der Vernunft durchsetzen sollte und dem Tausende zum Opfer fielen. Robespierre konnte seinen Terror entfalten in einem geistigen Umfeld, das der Idee anhing, man müsse die Menschheit zum Guten erziehen, notfalls mit Gewalt. Erst vor diesem Hintergrund erschien seine Gnadenlosigkeit als Integrität. Als der revolutionäre Überschwang erlosch, änderte sich diese Bewertung. Integrität wird also immer auch historisch und gesellschaftlich geformt. Das gilt auch für heutige Gesellschaften und ihr politisches Führungspersonal, betont Gesine Schwan.
    "Zunächst mal ist es eine individual-ethische Frage, wie ich mich verhalte, aber es gibt systemische Situationen, und ich glaube, die organisierte Zivilgesellschaft muss da helfen. Das muss zusätzlich kommen, muss auch die Regierung gleichsam unter Druck setzen. Ich würde sagen, manche müssen gezwungen werden, anderen muss wenigstens die Möglichkeit vorbereitet werden, dass sie integere Politik machen. Es gibt ja auch viele, die das wollen. Je mehr wir als Bürger uns daran beteiligen, solche guten Voraussetzungen zu schaffen, desto leichter fällt es der Politik und desto mehr kann man dann auch die Politik zu recht kritisieren, wenn sie es nicht tut."
    Notwendige Diskussion mit Andersdenkenden
    Amber Carpenter: "Ein Mensch, der integer bleiben will, braucht die Diskussion mit Andersdenkenden, die Auseinandersetzung mit Zweifeln. Ob er wirklich integer ist oder nur verschroben oder vielleicht verrückt, erfährt er erst durch Bestätigung von Menschen in seiner Umgebung, die ihn kritisch sehen."
    Insofern ist noch offen, ob Edward Snowden schließlich Integrität zugebilligt werden wird. Nach aktuellen Umfragen unterstützen 24 Prozent der Amerikaner sein Handeln, 34 Prozent lehnen es ab und 40 Prozent haben keine Meinung. Vielleicht werden erst später Historiker klären können, ob er ein Vaterlandsverräter oder ein Freiheitsheld ist. Integrität liegt offenbar ebenso sehr im Auge des Betrachters wie im Charakter der Persönlichkeit.