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Intellektueller Mitbegründer der Bundesrepublik

Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich war ein wortgewaltiger und einflussreicher Publizist. Auf ihn gehen so markante Stichworte wie "Die vaterlose Gesellschaft" und "Die Unfähigkeit zu trauern" zurück, die in den 60er Jahren für anhaltende öffentliche Debatten sorgten. Mitscherlich gilt als intellektueller Mitbegründer der Bundesrepublik.

Von Hans-Martin Lohmann | 20.09.2008
    Alexander Mitscherlich, am 20. September 1908 in München geboren, entstammt einer Familie bekannter Naturwissenschaftler. Sein Urgroßvater Eilhard Mitscherlich gilt als Begründer des Fachs Chemie in Deutschland. Sein Großvater Alexander Mitscherlich, benannt nach dem berühmten Naturforscher Alexander von Humboldt, machte sich einen Namen auf dem Feld der Zellstoffforschung und gründete einen eigenen Betrieb. Mitscherlichs Vater Harbord, ebenfalls Chemiker, erbte die Firma im fränkischen Hof, die bis in die 50er Jahre in Familienbesitz blieb.

    In seiner Autobiografie "Ein Leben für die Psychoanalyse" hat Mitscherlich seine Kindheit und Jugend im Schatten eines von ihm als hart und uneinfühlsam charakterisierten Vaters mit bitteren Worten nachgezeichnet:

    "Ich empfand ihn und seine Einschätzung meiner Person als brutal und erniedrigend. Sein Einfluss überschattete alle anderen Beziehungen. In der Retrospektive erscheint er vor meinem inneren Auge als die große Angstquelle meiner Kindheit."

    Vielleicht ist der Gedanke nicht ganz abwegig, dass Mitscherlichs Bestseller von 1963 über die "vaterlose Gesellschaft" auch eine späte Auseinandersetzung mit der eigenen, als traumatisch erlebten emotionalen Vaterlosigkeit ist.

    Am wenigstens konnte es dem autoritären Vater gefallen, dass der Sohn nach dem Abitur die naturwissenschaftliche Familientradition ignorierte und sich schöngeistigen Themen zuwandte - Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie. Nach einer Phase geistiger Orientierungslosigkeit und einem gescheiterten Promotionsvorhaben im Fach Geschichte wechselte Mitscherlich Anfang der 30er Jahre von München nach Berlin, wo er weniger sein Studium forcierte als vielmehr eine Karriere als Buchhändler und Verleger.

    In diese Phase fällt auch die bedeutsame Begegnung mit dem nationalistisch und antirepublikanisch gesinnten Schriftsteller Ernst Jünger, die Mitscherlich nachhaltiger prägen sollte, als er es selber im autobiografischen Rückblick sah. Es dauerte Jahre, bis er dem Bannkreis dessen, was als "Konservative Revolution" in die Geschichtsbücher Eingang fand, zu entrinnen vermochte.

    Die Zeit des Nationalsozialismus erlebte Mitscherlich in verschiedenen Rollen und Situationen: als Angehöriger des "nationalbolschewistischen" Widerstandskreises um Ernst Niekisch, wofür er nach dessen Festnahme mit einigen Monaten Gestapohaft zu büßen hatte; als vorübergehender Emigrant in der Schweiz; als Student der Medizin; dann in Heidelberg schließlich als Meisterschüler des Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker, der ihn zum Facharzt für Neurologie und innere Medizin ausbildete.

    Nach dem Krieg schlug Mitscherlichs große Stunde als Arzt, Psychoanalytiker und Publizist. Mit seinem Bericht über den Nürnberger Prozess gegen eine Reihe von Nazi-Ärzten - bekannt geworden unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" - erwarb sich Mitscherlich einerseits öffentliche Zustimmung, andererseits aber auch Vorbehalte bei seiner eigenen Zunft gegenüber einem vermeintlichen "Nestbeschmutzer".

    Zu den großen Leistungen Mitscherlichs zählt sein enormes verlegerisches und organisatorisches Engagement für die Wiedereinbürgerung der von den Nazis geächteten Psychoanalyse in Deutschland - gipfelnd in der Gründung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts Anfang der 60er Jahre.

    Die größte öffentliche Resonanz gewann er allerdings als Publizist und Buchautor, mit ausgeprägtem Gespür für publikumswirksame Themen. So griff er in dem Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" als erster die städteplanerischen und -baulichen Fehlentwicklungen nach dem Krieg auf und plädierte für ein urbanes Wohnen, das den neuen Lebensbedingungen der Menschen gerecht wird.

    "Es steht also überhaupt nicht mehr in Frage, dass wir alte Städte, Gebilde, von denen wir wie von einer Vorzeit getrennt sind, neu schaffen, wiederbeleben, uns als Richtmaß vorhalten könnten. Unsere Aufgabe liegt bei einer neuen Selbstdarstellung. Sie muss von einer geschichtlichen Veränderung des Menschen selbst in einer von ihm geschaffenen neuen Umwelt Kenntnis nehmen."

    Neben seinem Buch über die "vaterlose Gesellschaft" war es vor allem die gemeinsam mit Margarete Mitscherlich 1967 veröffentlichte Studie über "Die Unfähigkeit zu trauern", die Mitscherlichs Ruf als Aufklärer und pädagogisches Gewissen der Deutschen befestigte. Für seine Lebensleistung, nicht zuletzt im Sinne einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, wurde er 1969 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

    In seiner Dankrede erinnerte er, an Freuds illusionslose Haltung anschließend, an die Rolle, welche der Aggressionstrieb im Zusammenleben der Individuen spielt und wie er kontrolliert werden könne:

    "Die Feindseligkeit des Menschen kann mit Hilfe der Analyse ihrer Motive gedämpft werden. Wir bedürfen der konstruktiven Seiten, der sublimierten Formen der Aggression (…). Aggression ist eine Grundmacht des Lebens."

    Das Urteil von Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich habe die geistigen Orientierungen der Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wesentlich mitgeprägt, dürfte auch heute noch haltbar sein.