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Interdisziplinäre Schau "Globale"
Prozess gegen das 20. Jahrhundert

Im Karlsruher ZKM wird das massenmörderische 20. Jahrhundert angeklagt: künstlerisch und wissenschaftlich. Chefankläger ZKM-Direktor Peter Weibel lässt eine Reihe illustrer Sachverständiger auftreten, die das vergangene Säkulum überführen sollen. Mitunter fällt die Anklage etwas allgemein aus.

Von Christian Gampert | 20.06.2015
    Blick auf das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe
    Das ZKM, dieses Karlsruher Zentralgestirn, veranstaltet zum 300-jährigen Stadtjubiläum einen 300tägigen Ausstellungs-Marathon mit insgesamt 22 Ausstellungen, mit Konferenzen, Symposien, Konzerten und Performances. (picture alliance / dpa / Uli Deck)
    Im zentralen Lichthof 7 des ZKM ist ein Gerichtssaal aufgebaut, darüber schwebt, als große Projektion, der Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Drei Tage lang wird hier ein "Prozess gegen die Verfehlungen des 20. Jahrhunderts" geführt, Chefankläger: ZKM-Direktor Peter Weibel. Der historischen Bedeutung dieses Ereignisses gemäß treten lauter alte Bekannte als Sachverständige auf, von Bazon Brock bis Peter Sloterdijk.
    Wer aber hat das hohe Gericht legitimiert? Verwerfliche Frage. Seit der Schweizer Theatermacher Milo Rau als Weltenrichter durch die Lande zieht, darf fast jeder über fast alles zu Gericht sitzen. Im Prinzip ist das ja auch okay: dass Intellektuelle sich ein Forum verschaffen. Und im Prinzip ist auch die Methodik dieser Prozesse in Ordnung: Beweismaterial vorzulegen, das sonst unter den Tisch gekehrt wird. Im Fall des ZKM-Projekts klingt die Anklage allerdings oft sehr allgemein. Für Peter Weibel ist das 20.Jahrhundert...
    "...ein Jahrhundert der Massenmorde, der totalen Entwertung individuellen Lebens, der Genozide, der Gewalttaten, und, was am schlimmsten ist: zum ersten Mal die Errichtung von Massenvernichtungs-Waffen."
    Allgemeine Anklagepunkte
    Das ist alles richtig, aber wer soll verurteilt werden von diesem kleinen Russell-Tribunal? Und wohin steuert das ZKM, dieses Karlsruher Zentralgestirn, das zum 300-jährigen Stadtjubiläum einen 300tägigen Ausstellungs-Marathon veranstaltet, mit insgesamt 22 Ausstellungen, mit Konferenzen, Symposien, Konzerten, Performances?
    Weibels These lautet: im globalisierten 21.Jahrhundert ("Globale" heißt das Gesamt-Projekt) wird vieles besser. Und zwar, weil die Künstler sich nun, ähnlich wie Wissenschaftler, digitaler Technologie bedienen können. Kühne These. Bereits auf der Pressekonferenz hielt Weibel eine kleine Vorlesung über die Wende „von der Schriftkultur zur Werkzeugkultur", die nichts mehr bezeichne oder repräsentiere, sondern direkte Realität sei. Vereinfacht gesagt: "Aus Landschaftsmalerei wird Land Art, aus Aktmalerei Body Art.
    Auch das Digitale ist ambivalent
    Und das Internet ist einfach da, auch zur künstlerischen Benutzung freigegeben.
    Aber auch das Digitale ist ambivalent, es dient der netzbasierten Organisation von Aufständen (wie in Ägypten) ebenso wie der weltweiten Kontrolle von Politik und Einzelpersonen durch die Geheimdienste. Selbst der Fortschritts-Enthusiast Weibel sieht die digitale Welt mittlerweile als rechtsfreien Raum, in den Ordnung gebracht werden müsse.
    "In der Bibel steht: Du sollst nicht begehren deines Nachbars Weib. Das heißt, auf heute übertragen: Du sollst nicht begehren deines Nachbars Daten."
    Am Eröffnungswochenende werden von ZKM, in einer Aktion masochistischer Selbstüberforderung, vier große Themenfelder beackert: Umweltzerstörung, Digitalisierung, Migration; und: der Stadtraum als künstlerische Spielwiese. In einer Open-Air-Projektion wird das Karlsruher Schloss in immer neue Farben getaucht. Der argentinische Künstler Leandro Erlich hängt ein ganzes nachgebautes Haus an einen Kran und lässt es über den Marktplatz schweben - wobei unter dem Haus Massen von Wurzeln sichtbar werden. Das wiederum hat, etwas plakativ, mit der Ent-Wurzelung von Migranten und Bürgerkriegsflüchtlingen zu tun. Im ZKM wird eine künstliche Wolke aus Aerosolpartikeln in die Lichthöfe geblasen, was technisch ziemlich schwierig ist - weil man die Luft im Erdgeschoss kühlen, unter dem Dach aber stark erhitzen muss. Wer will, mag dabei an die zunehmende Zerstörung der Biosphäre, aber vielleicht auch an Caspar David Friedrich denken. Oder auch an die Verunklarung globaler Probleme durch ZKM-Aktionen: Man stochert im Nebel.
    Am beeindruckendsten ist die Riesen-Installation des japanischen Künstlers Ryoji Ikeda, der, ausgehend von Daten der experimentellen Kernforschung, auf der Wand und dem Boden von zwei Lichthöfen eine Symphonie aus Datenströmen und der Abbildung kleinster physikalischer Teilchen veranstaltet. Ein dumpfes Grollen und computerhaftes Zirpen liegt über den abgedunkelten Projektionsflächen, über die die Datenbahnen rasen. Man kann über diese digitalen Bühnen wandern, und kurz stand dort sehr allein Peter Weibel: ein kleiner Mensch im Datenstrom, der alte Mann und das Meer.