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Der Koran im digitalen Zeitalter

Es ist vor allem die große Vielfalt an Schriftarten, die den Koran mehr als alle anderen Bücher neben einem religiösen Buch zu einem Kunstwerk macht. Das führt jedoch auch zu Problemen, vor allem im Internet. Wer dort nach einer einem einheitlichen Schriftbild sucht, sucht bisher vergebens.

Von Christoph Burgmer | 22.04.2014
    Seit 1.400 Jahren erzeugt das kaligrafische Spiel mit der arabischen Schrift sowohl künstlerische als auch ästhetische Wertvorstellungen in islamischen Gesellschaften. Kein Wunder also, dass auch im Internet zahllose Korane zu finden sind. Es gibt Tausende von Webseiten, auf denen sich der Gläubige über Suchmaschinen zu eigenen Fragestellungen Textstellen im Koran heraussuchen lassen können.
    Ein Beweis dafür, dass der Koran von Malaysia bis Marokko, von den USA bis Südafrika anders als noch vor 100 Jahren, als er von Imamen vorgetragen wurde, heute von den Gläubigen selbst gelesen wird. Und das überall: auf dem Weg zur Arbeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Hause und in der Freizeit im Park liegend. Die digitale Darstellung ist auch hier dabei, die klassische Buchform abzulösen. Denn mit der Erweiterung der Netztechnologien ist der Koran auf unterschiedlichsten Endgeräten zu lesen, von PCs über Smartphones und Tablets, von Fernsehern über Laptops bis zu E-Book Readern. Aber ist es wirklich der eine Koran, auf den zunehmend mehr Muslime täglich im Internet zugreifen? Thomas Milo:
    "Der Koran ist ein sehr alter Text mit einer ungewöhnlichen Orthografie. Und das Arabische gibt es überall im Netz. Es gibt auch viele Korane. Aber das Verständnis der Orthografie gibt es in der Industrie nicht. Und deshalb kann man nur Korane mit Fehlern publizieren."
    Es existiert also kein korrekt geschriebener Koran im Internet?
    "Wenn man so ein perfektionistisches Kriterium benützt, kann es das nicht geben, weil die Industrie noch nicht fertig ist, alle Buchstaben darzustellen. Es gibt keine Codierung und es gibt keine Formen."
    "Koran ist ein Sonderfall"
    Um zu verstehen, was Thomas Milo, holländischer Linguist und Computertypograf aus Amsterdam, damit meint, muss man sich die Architektur von digitalen Schriftdarstellungen im Internet kurz vergegenwärtigen. Während der sogenannte Unicode das Protokoll ist, mit denen die Informationen zwischen verschiedenen Geräten ausgetauscht werden, quasi ihre gemeinsame Sprache, ist der Computertypograf dafür zuständig, wie die gewünschte Information auf den Bildschirmen der verschiedenen Endgeräte dargestellt wird. Thomas Milo:
    "Unicode ist eigentlich unsichtbar. Das ist ein internationales Protokoll für Informationsaustausch. Aber die Information soll auch dargestellt werden. Dafür hat man ein ganz neues Prinzip gemacht. Das ist Computertypografie. Aber die Computertypografie kann nur das umsetzen, was codiert ist. Und man codiert nur, was man weiß. Am Anfang war dies nur das Englisch-Lateinische. Die Lateinische, wie es von den Amerikanern in der Armee benutzt wurde. Das ist alles. Die Kulturdimension der Technologie waren nur 26 Buchstaben. So fing das an. Und dann ist das ausgedehnt worden auf Isländisch, Holländisch, Deutsch, Französisch, Portugiesisch. Erst hat man die lateinische Schrift mit allen diakritischen Zeichen ausgerüstet."
    Diakritische Zeichen sind im Deutschen zum Beispiel die Striche über dem u, a und o, die eine verständliche Lesung als ü, ä und ö möglich machen.
    "Und dann gibt es natürlich Chinesisch. Das war am Anfang nicht möglich. Das heißt, dass man nur 128 Zeichen codieren konnte. Und jetzt Millionen Möglichkeiten. Das Chinesische ist jetzt codiert, Aber der Koran ist ein Sonderfall."
    Besondere Schwierigkeiten ergeben sich aus den Eigenheiten der arabischen Sprache. Sie wird von rechts nach links geschrieben, manche Buchstaben werden im Gegensatz zu lateinischer Druckschrift miteinander verbunden andere wiederum nicht. Dazu können die Buchstaben bei Koranen über mehrere Linien von oben nach unten führen. Es gibt für manche Buchstaben mehr als 15 verschiedene Darstellungsformen und Schreibweisen, Buchstaben können in die Länge gezogen werden und so weiter. Hinzu kommen Darstellungsprobleme in unterschiedlichen Schreibweisen durch die Setzung diakritischer Zeichen in semitischen Sprachen. Sie zeigen die kurz gesprochenen Konsonanten zwischen den Vokalen an, da diese als Buchstaben nicht geschrieben werden. Und genau deren Position in Koranen aus verschiedenen Jahrhunderten variiert je nach ästhetischem Schriftbild. Und daraus lassen sich unter Umständen unterschiedliche Interpretationen herauslesen. Thomas Milo kreiert solche digital-künstlerischen Computertypografien. Neben einigen europäischen Sprachen beherrscht er Türkisch und Arabisch. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach international ausgezeichnet.
    Thomas Milo:
    "Für mich ist der Koran ein Kunstwerk. Es ist nicht nur ein heiliger Text. Es ist etwa wie die Matthäuspassion, die eigentlich beweist, dass heilige Texte völlig irrelevant sind. Es ist eigentlich die Musik, die es interessant macht. Aber das ist meine persönliche Auffassung. Es gibt etwas Ähnliches im Islam. Der Koran ist nur ein Text. Aber der Koran dargestellt von Künstlern und Buchmachern kann ein sehr großartiges Kunstwerk sein. Was man erst einmal sieht im Internet ist dagegen nur in etwa der Koran. Es gibt Fehler, es ist nicht genau. Und zweitens: Es ist nie schön. Und warum ist es nicht schön: Weil die Schrift sehr defektiv ist, nicht orthografisch aber ästhetisch defektiv. Und deshalb gibt es eine Aufgabe der Computertypografie, die Technik und die Entwürfe soweit zu entwickeln, dass man wirklich, wie man Musik machen kann, hier Musik für das Auge machen kann."
    Forschung im Auftrag des Oman
    Milo sieht in der nicht Darstellbarkeit der Besonderheiten von digitalen Korandarstellungen die immer noch existierende Ignoranz des Westens gegenüber außereuropäischen Kulturen. Als er vor einigen Jahren in Kalifornien während einer Konferenz zu Fragen der Computertypografie, also zur Problematik der Umsetzung menschlicher Sprache in digitale Schriftzeichen, einen Vortrag zur Problematik des Koran hielt, wurde eine Delegation aus dem Oman auf ihn aufmerksam. Man lud ihn zu einem Gespräch ein.
    "In einem persönlichen Gespräch habe ich gesagt: Mit ihrer großartigen Kultur können sie soviel reden, wie viel sie wollen davon, aber das wird alles verschwinden. Nur die Sachen, die man in dieser kleinen industriellen Gruppe versteht, wird codiert und weiter gegeben."
    Thomas Milo forscht seither im Auftrag des Oman und nimmt an den jährlich in den USA stattfindenden Industriekonferenzen teil, wo die neuen Codierungen festgelegt werden. Denn es sind weitere Probleme hinzugekommen. In unterschiedlichen Betriebssystemen wie Microsoft, Apple oder Linux werden andere Codierungen verwendet. Außerdem müssen Codierungen für jeden neuen Gerätetyp, ob Smartphone oder Tablett PC neu entwickelt werden.
    "Eigentlich ist der Fokus der Technologie pragmatisch. Was nicht auf dem Radar der Technologie ist, ist nicht sichtbar und wird auch nicht reproduziert."
    Damit droht der islamischen Kultur, unabhängig vom religiösen Gehalt, der Verlust kultureller Eigenheit beim immer schnelleren Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter. Und dem Koran eine schriftliche Vereinheitlichung auf dem Niveau von im Westen in Industriekonferenzen festgelegter arabischer Druckschrift. Dabei führen schon kleinste Veränderungen des Korantextes zu anderen Lesarten. Angesichts der politischen Bedeutung des Koran im Alltag islamischer Gesellschaften ein gewichtiger Faktor. Zumal die historisch-kritische Dimension des Textes bis heute kaum erforscht ist. Es ist erstaunlich, dass zu diesem Zusammenhang weder bei islamischen Staaten noch den Intellektuellen ein Problembewusstsein existiert.
    "Die Kaligrafen sind häufig Sufis. Sie sind religiös inspiriert und nicht technisch. Und ein Dialog zwischen einem Techniker und einem religiös bewogenen Menschen ist häufig sehr schwer und gerade im Nahen Osten, wo Religion ein heikler Punkt ist, ist es nicht einfach, so eine Kooperation zu schaffen."
    Der Niederländer Thomas Milo ist der Einzige, der, im Auftrag des Oman, die historische Vielfalt des Korans auch im Internet zu bewahren versucht. So ist die Wahrscheinlichkeit derzeit sehr hoch, dass, trotz seines Engagements, durch die Digitalisierung des Korans jahrhundertealte Traditionen unterschiedlichster Lesarten verschwinden werden.