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Terrorprognose mit Social Media

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Science" stellt ein Team von Wissenschaftlern ein mathematisches Modell vor, mit dem sich aus Social-Media-Aktivitäten "größere gewaltsame Ereignisse" vorhersagen lassen sollen. Die Forscher liefern zudem Hinweise darauf, wie man die Internetaktivitäten der Terrormiliz IS wirksam bekämpfen könnte.

Von Michael Gessat | 17.06.2016
    Ein Junge surft auf seinem Smartphone bei Facebook.
    Social-Media-Portale - ein möglicher Hinweisgeber auf drohendes Unheil? (imago / Bildbyran)
    Ansätze zur Analyse von sozialen Netzwerken gibt es mittlerweile viele: Sie reichen von Untersuchungen der Netztopologie über statistische Big-Data-Auswertungen bis hin zur Spieltheorie. Stefan Wuchty und seinen Kollegen von der University of Miami ist eine neue und originelle Idee eingefallen:
    "Im Wesentlichen funktioniert das so, dass wir die Zeit gemessen haben, die vergeht, bis ein neues Aggregat, eine neue "Pressure Group", eine neue Facebook-Seite für eine Gruppe mit einem politischen Hintergrund sich auf Facebook etabliert. Wenn man diese Intervalle nach der Reihe misst, und die Intervalle immer kürzer werden, kann man ein Modell hineinfitten, das man aus der Physik der Phasenübergänge der sogenannten "Tipping points" kennt."
    In der Physik beziehungsweise der Chemie ist das etwa der Moment, wo man mit einem Glasstab in einer Lösung rührt – und dann kristallisiert die mit einem Schlag aus. Die Grundannahme des Forscherteams war, dass viele kleine Social-Media-Gruppen eine Tendenz haben, sich zu einer großen zusammenzuschließen – auch hier gibt es ein Vorbild aus der Chemie, die sogenannte "Koaleszenz". Und dass dann ab einer bestimmten Gruppengröße und Gruppendynamik im Netz Aktionen in der realen Welt wahrscheinlich werden – und zwar schlagartig.
    Mit tatsächlichen Ereignissen abgeglichen hatten die Forscher ihr Modell ursprünglich bei der Beobachtung von Social-Media-Aktivitäten und gewaltsamen Straßenunruhen in Südamerika:
    "Das hat sehr gut übereingestimmt: Jedenfalls mit dem System, das wir entwickelt haben, konnten wir den 11. Juni 2013 in Brasilien vorhersagen und zwar schon eine Woche vorher; konnten wir also sehr gut eingrenzen, dass rund um den 11. Juni 2013 also Massenevents stattfinden sollten. Und genau das war der Fall."
    Bereits mehrere Signale für später eingetretene Massenevents erhalten
    Zwischen Bürgerprotestgruppen in Südamerika und Unterstützern des sogenannten "Islamischen Staates" liegen nicht nur geografisch und politisch Welten – die IS-Anhänger agieren in sozialen Netzwerken noch einmal unter ganz speziellen Voraussetzungen; unter einem erheblichen Verfolgungsdruck nämlich. Weil Facebook oder Twitter identifizierte IS-Unterstützergruppen nahezu sofort löschen, beobachtete das Forscherteam IS-Aktivitäten auf der russischen Plattform VKontakte, wo Kontrollen und Eingriffe des Betreibers wesentlich seltener sind. Die mathematische Analyse kulminierender Social-Media-Aktivitäten liefert den Forschern auch hier ein Prognosesignal für ein "Massenevent" in der realen Welt: den Angriff auf Kobane im September 2014 und die Flucht der Bevölkerung. Wohlgemerkt: Das Signal betraf nur den ungefähren Zeitpunkt, nicht aber die genaue Natur des Ereignisses – eine doch recht vage und praxisferne Angelegenheit, gibt auch Stefan Wuchty zu:
    "Sie haben recht, wenn sie sagen, dass wir nicht in der Lage sind vorherzusagen, wo so ein Event stattfinden wird und was genau stattfinden wird,.... unser System, mit dem, was gerade in Orlando passiert ist, es lässt sich nicht dazu benutzen vorherzusagen, wann der nächste Terroranschlag passiert. Das ist nicht eine Methode, die also so was präzisieren lässt."
    Einen gewissen Nutzwert hat das mathematische Modell aber vielleicht doch – die Forscher konnten nämlich auch in ihre Formeln einbeziehen, wie die IS-Unterstützer auf den Überwachungsdruck durch Betreiber, Hacker oder Geheimdienstaktionen reagieren. Was passiert etwa, wenn eine Gruppe geschlossen wird – schließen sich die Follower anderen Gruppen an oder gelingt die "Wiedergeburt", das Einsammeln der alten Mitglieder und die Neugründung unter anderem Namen? Und hier haben die Wissenschaftler eine klare Empfehlung für effektivere Anti-IS-Strategien:
    "Was wir an unseren Simulationen festgestellt haben ist: Wenn man nur willkürlich nach den großen Gruppen geht, also die großen Gruppen zerschlägt, werden weiterhin große Gruppen nachfolgen. Wenn man allerdings die kleineren Gruppen ins Visier nimmt und die zerschlägt, dann wird die Entwicklung der großen Gruppen sehr nachhaltig beschränkt."
    Fragt sich nur, ob sich große Gruppen und ihre Mitglieder von einem Geheimdienst nicht viel besser überwachen lassen und die Informationen besser abschöpfen. So ganz eins zu eins passen sie auch jetzt noch nicht zusammen – die virtuelle und die reale Welt, das mathematischem Modell und die Wirklichkeit.