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Interview der Woche
"Wir sind reich, wir müssen auch geben"

Syrien, Irak, Westafrika, Ukraine: Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat angesichts der "Krisen um uns herum" mehr Solidarität mit den Flüchtlingen und Notleidenden angemahnt. Müller sagte im Deutschlandfunk, nicht nur der Staat, jeder Einzelne müsse "in einer solchen Notlage auch ein Stück geben".

Gerd Müller im Gespräch mit Frank Capellan | 12.10.2014
    Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschen Bundestag
    Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschen Bundestag (dpa / Rainer Jensen)
    Capellan: Gerd Müller - "Wir leben in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint", das haben Sie gesagt, als Sie in New York zunächst am Klimagipfel und dann an der Generaldebatte der Vereinten Nationen teilgenommen haben. Als Entwicklungsminister haben Sie mit dieser Welt naturgemäß täglich zu tun. Ebola, IS-Terror, der Ukraine-Konflikt - das Krisengeschäft bestimmt derzeit wohl auch Ihren politischen Alltag. Sie reisen nun diesen Montag nach Kiew, um dort einen deutschen Hilfskonvoi in Empfang zu nehmen. Die Ukraine ist nicht unbedingt ein Entwicklungsland, warum fühlen Sie sich dennoch berufen, dort zu helfen?
    Müller: Die Ukraine ist für uns ein ganz wichtiger Partner. Und auch dort gibt es aufgrund dieser Kämpfe und Auseinandersetzungen in der Ostukraine circa 400.000 bis 500.000 Binnenvertriebene, die keine Heimat mehr haben. Ein strenger Winter steht bevor - die Kanzlerin hat Hilfe zugesagt. Und die bringen wir jetzt mit einem Hilfskonvoi - 112 Lkws, das Notwendigste, was man braucht -, um, wenn man vertrieben ist, den Winter zu überleben.
    Capellan: Putin hatte ja einen Hilfskonvoi auf den Weg geschickt, der von vielen eher als Unterstützungskonvoi für die Separatisten angesehen wurde. Ist der deutsche Konvoi, der in Ihrer Regie da auf den Weg geschickt wurde, ist das nun der "gute Konvoi"?
    "Wir sind reich, wir können geben"
    Müller: Ja, bei uns sind nicht nur Mehlsäcke dabei, sondern wir bringen das, was die Menschen jetzt ganz notwendig brauchen: Winterquartiere, Sanitätsausrüstung, Medizin, Winterkleidung, Baumaterial. Also direkt praktisch. Und wir werden das dezentral an die Bürgermeister in Charkow und verschiedenen Städten dort, wo die Flüchtlinge aus der Ostukraine ankommen, verteilen. Ich erinnere mich schon an die große Wirkung der, sage ich mal, Carepakete aus den USA. Ich möchte auch die Bevölkerung in Deutschland ansprechen: Die Menschen in der Ukraine sind uns ganz nahe, und wir haben viel, wir sind reich, und wir können und müssen in einer solchen Notlage auch ein Stück geben.
    Capellan: Ist das auch ein Zeichen dafür, dass Deutschland mehr Verantwortung in dieser Welt trägt, was ja nicht nur vom Bundespräsidenten angemahnt worden ist?
    Müller: Ja, selbstverständlich. Wir sind führende Industrienation. Die Krisen um uns herum fordern uns. Wir müssen Verantwortung übernehmen. Und Verantwortung aus meiner Sicht heißt: Jetzt, dort wo Not ist. Wir haben Krieg in Syrien - Assad gegen das eigene Land, die IS. Wir haben allein im Syrien-Umfeld, im Irak-Umfeld zehn Millionen vertriebene Flüchtlinge in Notunterkünften oder einfach auf dem Boden lagernd. Ich habe das in Erbil, in Dohuk gesehen. Und wir können da nicht die Augen verschließen, denn wir können ja und müssen helfen, dass diese Leute über den Winter kommen, überleben. Das ist auch eine menschliche Verpflichtung, eine christliche Verpflichtung. Wer reich ist, kann auch ein Prozent, würde ich mal sagen, - jeder von uns auch persönlich, nicht nur der Staat - abgeben, um diese Not, dieses Elend zu lindern.
    Eine Gruppe von Flüchtlingen wartet an der syrisch-türkischen Grenze nahe der Stadt Sanliurfa  in der Türkei.
    Auch Deutschland müsse den Flüchtlingen aus Syrien helfen, sagte Entwicklungsminister Müller (CSU) im DLF. (picture alliance / dpa / Sedat Suna)
    Capellan: Also Sie persönlich sehen dann diese humanitäre Hilfe auch gewissermaßen als Kontrapunkt zu den Waffenlieferungen, etwa an die kurdischen Peschmerga? Mit denen waren Sie anfangs ja auch nicht so ganz einverstanden. Oder eben auch als Kontrapunkt zu der Tatsache, dass Deutschland ja jetzt zumindest indirekt auch militärisch in den Ukrainekonflikt involviert werden könnte, indem man den Waffenstillstand dort mit deutschen Drohnen überwachen möchte?
    Müller: Also grundsätzlich sind natürlich zu viele Waffen in der Welt. Waffen schaffen keinen Frieden - sie schaffen vielleicht Stabilität jetzt. Und die Peschmerga-Kämpfer kämpfen auch für uns. Die Anschläge, die Verfolgung der Christen, der Jesiden im kurdischen Irak, in Syrien, das ist auch ein Anschlag auf uns, auf die Kultur, religiöse ethnische Minderheiten auszurotten. Es ist dramatisch, was dort abgeht. Ich hatte die Gelegenheit, persönlich mit fünf jungen Frauen zu sprechen, die sich mir geöffnet haben und erzählt haben von einem Vergewaltigungslager. Sie haben richtig gehört! Ein Dorf, 1.400 Einwohner, das vor Kurzem überfallen wurde. 600 Männer rechts heraus - alle erschossen, vor den Augen ihrer Frauen. Die Frauen aufgeteilt in Frauen und Mädchen - die Mädchen den Kämpfern sozusagen geschenkt als Trophäe. Und da dürfen wir nicht zuschauen! Das ist ein Genozid! Und deshalb habe ich auch zugestimmt, dass wir Waffen an die Peschmerga-Kämpfer liefern, denn das ist Hilfe zur Notwehr.
    Capellan: Und hat das bei Ihnen eine gewisse Zeit auch gedauert, bis Sie zu diesem Schluss gekommen waren? Ich sagte es eingangs, Sie waren anfangs gegen diese Waffenlieferungen. Sie sagten Mitte August: "Ich sehe uns nicht in der Verpflichtung, im Nordirak mit Waffenlieferungen einzugreifen. Ich bin für die Lieferung von Medizin, von Lazaretten, von Krankenwagen, aber nicht für die Lieferung von Waffen."
    Wir müssen immer auch diplomatisch handeln
    Müller: Ja, die IS-Milizen morden Kinder, Frauen in bestialischer Weise. Und da können wir nicht nur Mitleid zeigen, sondern wir müssen die Notwehr auch organisieren. Aber hier darf man natürlich nicht stehenbleiben. Es sind Hunderttausende hinter der Front vertrieben. Es fehlen von den 26 Flüchtlingscamps im Nordirak derzeit zehn. Wir haben vielleicht noch vier oder acht Wochen, bis der Winter kommt. Diese Camps müssen gebaut werden. Das World Food Programme ist nicht durchfinanziert. Es kann noch sechs Wochen Nahrung ausgegeben werden. Die Säuglingsrationen werden bereits gekürzt. Das heißt, die humanitäre Hilfe, dass Hunderttausende von Flüchtlingen überleben, ist ebenso wichtig und ein diplomatischer Vorstoß. Wir müssen bei allen Kriegshandlungen immer auch diplomatisch handeln, das heißt, die UN, die Europäische Union. Es ist eine diplomatische Offensive und Initiative erforderlich, dieses Morden in Syrien, im Irak zu stoppen.
    Capellan: Diplomatisch handeln, das führt mich noch einmal zurück zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Wie groß ist Ihrer Ansicht nach denn die Gefahr, dass Deutschland noch mehr Partei werden könnte im Konflikt mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, auch dadurch, dass man sich nun mit dieser Hilfslieferung engagiert?
    Müller: In der Ukraine zeigt sich klassisch, dass auf der einen Seite die Sanktionen gegen Russland Wirkung zeigen, wenn wir sehen, der Druck auf den Rubel und Abzug von Investitionen in Russland schaffen Putin erhebliche Probleme. Das war richtig. Aber auf der anderen Seite hat die Bundeskanzlerin ständig und immer wieder auch den diplomatischen Kanal gesucht und offen gehalten, mit Putin den Kontakt, ihm auch einen Weg offen gehalten, nicht weiter zu eskalieren, sondern am Verhandlungstisch, wenn auch eine nicht ganz faire Waffenruhe jetzt zu schließen.
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Herr Müller, lassen Sie uns weiter über die Flüchtlingssituation sprechen. Sie haben den künftigen EU-Kommissionspräsidenten, Jean-Claude Juncker, auch dazu aufgefordert, einen EU-Flüchtlingssonderkommissar einzurichten. Man müsse sogar eine "Sondermilliarde" bereitstellen, also sehr viel Geld in die Hand nehmen, um den Flüchtlingen in aller Welt zu helfen. Gibt es bereits eine Reaktion von Juncker?
    Kurdische Peschmerga kämpfen am 9. September 2014 im Irak gegen die Terrormiliz Islamischer Staat.
    Waffen für die kurdischen Peschmerga im Irak seien "Hilfe zur Notwehr", sagte Entwicklungsminister Müller (CSU) im DLF. (afp/Lopez)
    Müller: Also, 17 Millionen der Europäischen Union bisher in dieser dramatischen Lage, das ist nahezu nichts. Ich bin mehr als enttäuscht. Seit den Europawahlen und Monate davor, das heißt seit März, bewegt sich offensichtlich nichts in Brüssel. Die Kommission wird jetzt gebildet, und wir können nicht weitere Monate warten, bis Europa operationsfähig ist. Wir erleben derzeit eine Herausforderung, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben in der Frage von Vertreibung, Hunger, Elend, Not. Das heißt, Brüssel muss reagieren. In Erbil wehen die UN-Flaggen. Die Europäische Union ist nicht präsent. Und deshalb muss sofort gehandelt werden. Die EU hat Geld, es sind Töpfe vorhanden, die sind voll. Ich fordere deshalb eine "Sondermilliarde", die sofort jetzt eingesetzt wird, um Winterquartiere zu bauen, um Not und Elend zu mildern. Und dazu bedarf es auch eines Sonderbeauftragten des Kommissionspräsidenten. Denn wir haben in der neuen Kommission leider wieder vier verschiedene Kommissare, die sich um dieses Thema nicht streiten, aber die Abstimmungsprozesse werden wieder kompliziert sein. Deshalb muss dieses Thema beim Kommissionspräsidenten direkt angegliedert werden.
    Capellan: Großes Gewicht in Brüssel hat die Kanzlerin. Haben Sie mit ihr darüber gesprochen? Wird es da Druck geben?
    Müller: Ich habe mit der Kanzlerin darüber gesprochen. Sie sieht den Handlungsdruck ebenso.
    Capellan: Das Bundesentwicklungsministerium braucht im Grunde, nehme ich an, mehr Geld, um die Flüchtlingssituation vor Ort, in den Regionen, in den Griff zu bekommen. Bekommen Sie dieses Geld?
    Müller: Ja, wir haben die Freigabe für 60 Millionen zusätzlich bekommen. Wir werden in Fluchtursachen in den Ländern, in denen die Krisen entstehen und wo die Flüchtlinge zu Hause sind, investieren. Wir können nicht alle Menschen hier aufnehmen. Und eines ist auch klar: Weder in Syrien, noch in Libyen, noch in Eritrea - wo wir uns auch engagieren -, die Menschen wollen zu Hause eine Perspektive. Aber darüber hinaus müssen wir natürlich auch in Deutschland und in Europa Flüchtlinge und Asylbewerber aufnehmen - in diesem Jahr voraussichtlich 200.000. Und dazu ist es notwendig, dass wir auch eine gerechte Verteilung unter den 28 EU-Staaten erreichen. Die einen zeigen Solidarität - Deutschland in herausragender Weise, auch die nordischen Länder - und andere ducken sich weg. Auch hier ist Brüssel gefordert, eine gleichwertige Verteilung der Flüchtlinge, der Solidarität in Europa zu organisieren.
    Die Klagen deutscher Kommunen sind nicht ganz nachvollziehbar
    Capellan: Könnte Deutschland denn noch mehr tun? Wie viele Flüchtlinge könnten wir aufnehmen?
    Müller: Wir sind sicherlich noch nicht an der Grenze. Man muss auch die Relation sehen. Wenn ein deutscher Landkreis 300 oder 500 Flüchtlinge aufnimmt - in den Städten sind es dann mal 2.000 -, dann klingt das nach viel, aber ich habe Städte gesehen in Jordanien, an der syrischen Grenze eine Stadt, die 60.000 Einwohner hat, die in den vergangenen zwölf Monaten 120.000 Menschen aufgenommen hat. Ich habe einen jordanischen Bauern, einen Ziegenhirten besucht, der hat seinen Stall ausgeräumt und darin eine achtköpfige syrische Familie aufgenommen. So war das bei uns - die Solidarität - nach dem Kriege auch. Ich sehe, dass die Ärmsten am meisten tun. Die Klagen deutscher Kommunen sind nicht ganz nachvollziehbar.
    Capellan: Glauben Sie denn, dass auch die deutsche Bevölkerung bereit ist, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als mancher Politiker auch suggeriert?
    Müller: Ja, das glaube ich. Wir müssen, erstens, die Bundesliegenschaften, die zur Verfügung stehen, schnell und unbürokratisch dafür nutzen - ich denke an freie Bundeswehrkasernen. Auch die Kirchen haben Räume, Plätze und Möglichkeiten. Und ich sage noch einmal: Das Entwicklungsministerium beispielsweise, wir bauen im Nordirak in sechs Wochen dort mit UNICEF ein Flüchtlingscamp auf, für 10.000 Menschen, dann sollten es auch in der hochzivilisierten Bundesrepublik den Landkreisen gelingen, innerhalb von sechs Wochen 200 oder 500 Flüchtlinge unterzubringen.
    Capellan: Eine Schlüsselrolle im Kampf gegen den IS-Terror spielt derzeit auch die Türkei, ein NATO-Partner. Die Türkei allerdings - Ankara - hat Angst, dass der Kurdenkonflikt wieder in die Türkei getragen werden könnte. Würden Sie dafür plädieren, dass sich die türkische Regierung engagieren müsste im Kampf gegen die islamistischen Terroristen?
    Müller: Die Türkei ist in einer schwierigen Situation. Das Parlament hat dem Präsidenten nun die Möglichkeit gegeben, dort mit einzugreifen. Wir hoffen und erwarten, dass sich die Türkei an der internationalen Allianz zur Bekämpfung des IS-Terrors beteiligt.
    Eine friedliche Welt mit weniger Waffen wäre das Ziel
    Capellan: Wir haben die Waffenlieferung und die Diskussion darüber angesprochen. Wir erleben derzeit eine heftige Diskussion über Rüstungsexporte. Als Entwicklungsminister sind Sie da direkt involviert, als Mitglied des Bundessicherheitsrates, der über solche Exporte entscheidet. Da gab es in der Vergangenheit das Beispiel Katar, das vielen als Unterstützer des IS-Terrors galt. Wir liefern nun Panzer. Da müssen Sie als Entwicklungsminister doch immer wieder mal wütend werden?
    Müller: Selbstverständlich. Mit weniger Waffen die Welt friedlich und stabil zu gestalten, das wäre das Ziel - Waffen schaffen keinen Frieden. Aber ich bin natürlich auch kein Illusionist. Ganz besonders zurückhaltend sollten wir in der Frage der Verteilung und der Genehmigung von Exporten im Bereich der Kleinwaffen sein. Überall auf der Welt tauchen diese Waffen in regionalen Konflikten auf. Ich bin zurückhaltend und werde auch weiterhin einen zurückhaltenden Kurs bei den Exporten von Waffenlieferungen halten.
    Capellan: Was halten Sie denn dann von dem Vorschlag, eine neue Rollenverteilung im Bundessicherheitsrat vorzunehmen? Also die Federführung für solche Exporte, für die Entscheidung darüber, müsse beim Auswärtigen Amt liegen, damit es nur um politische Entscheidungen und nicht um industriepolitische Entscheidungen geht.
    Müller: Ich teile die Auffassung von Wirtschaftsminister Gabriel, der ja deutlich gesagt hat, "'industriepolitisch' darf nicht die grundlegende Motivation sein". Und er hat ja selber vorgeschlagen, dass der Außenminister hier die Kompetenz erhalten sollte.
    WErbung für eine Panzer ist am Gebäude der Panzerschmiede Krauss-Maffei-Wegmann (KMW) in München angebracht.
    Entscheidungen über Rüstungsexporte dürften nicht nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten fallen, sagte Entwicklungsminister Müller (CSU). (AFP / Christof Stache)
    Capellan: Nun sind Sie ein Minister, der ja aus Bayern kommt. In Bayern ist die Rüstungsindustrie sehr stark vertreten. Da geht es eben auch um ganz handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen von der CDU, hat nun gesagt, es gibt nur noch ganz, ganz wenige Schlüsseltechnologien, U-Boote beispielsweise zählt sie nicht mehr dazu. Können Sie dem folgen?
    Müller: Also wir müssen mehrere Konsequenzen aus der aktuellen Situation ziehen. Im Bereich der Rüstung bietet sich längst an, dass wir europäisch koordiniert vorgehen. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass die NATO-Staaten, dass jeder alles produziert und die einzelnen Techniken miteinander nicht kompatibel sind. Man könnte hier Milliarden sparen, wenn wir in der Rüstungsfrage in Europa uns enger abstimmen würden. Wir brauchen darüber hinaus aber einen neuen Vorstoß im zivilen Bereich. Das zeigen die Krisen. Wir sind auch dort nicht ausreichend handlungsfähig, zivile, technische, medizinische Krisenreaktion mobil einzusetzen.
    Capellan: Sie reden jetzt auch von der Ebola-Bekämpfung?
    Müller: Von der Ebola-Bekämpfung oder ich denke an die Zentralafrikanische Republik, die dieser Tage wieder in den Schlagzeilen ist oder an den Südsudan. Dort sind schnelle mobile Einsatzteams gefordert, die im Land Hilfe leisten können. Also wir brauchen eine neue Krisenreaktionsstrategie in Europa und in Deutschland. Ich meine, in der Europäischen Union ein stehendes, ziviles Krisenreaktionsteam, das auf der Welt schnell und entschieden effektiv eingreifen kann.
    Capellan: Brauchen wir das, weil sich gerade zeigt - wir haben die Diskussion -, dass die Bundeswehr dem Ganzen nicht mehr gewachsen ist, dass sie bedingt einsatzbereit ist, auch was die humanitäre Hilfe angeht - Stichwort: "Ebola-Luftbrücke" beispielsweise?
    Müller: Ja, selbstverständlich. Bei den heutigen technologischen Möglichkeiten ist es fast nicht nachvollziehbar, dass wir Wochen und Monate brauchen, um Hilfsteams in die Krisenregionen zu bekommen. Hier müssen wir zivil nachrüsten. Technische zivile Einsatzteams mobil, wie beispielsweise Humedica das privat organisiert, die innerhalb von drei Tagen Mediziner, Krankenschwestern, mit der kompletten Ausrüstung, mit mobilen Operationssälen und der gesamten Technik in die Welt fliegen können. Das brauchen wir stehend bei der Europäischen Union, um, ich sage mal, innerhalb von zwei Tagen in Krisengebieten reagieren zu können. Dies ist bei Naturkatastrophen notwendig und dies ist in Kriegsszenarien und in Vertreibungsszenarien notwendig.
    In Afrika Strukturen aufbauen
    Capellan: Jetzt bei der Hilfe für die Ebola-Kranken reagiert Deutschland, die westliche Welt insgesamt sehr spät. Und jetzt muss man die verschiedenen Hilfsansätze zwischen verschiedenen Ministerien koordinieren. Das alles, so sagen Hilfsorganisationen, dauert viel zu lang. Es dauert noch vier, fünf, sechs Wochen, bis deutsche Helfer wirklich vor Ort sein können.
    Müller: Ja, und daraus müssen wir die Konsequenz ziehen, dass wir nicht stehen bleiben, sondern für kommende Krisen - es wird immer wieder Krisen geben, auch im Seuchen-, Epidemie- und Krankheitsbereich - uns technologisch auf den Stand der Zeit zu bringen. Das ist absolut notwendig. Aber auch die Entwicklungspolitik - unsere Arbeit -, Entwicklungszusammenarbeit, muss einen ganz neuen Stellenwert bekommen. Ebola zeigt beispielsweise, dass die Investitionen, der Aufbau von grundlegenden Gesundheitsstrukturen in Afrika Voraussetzung ist, um solche Epidemien, die auch den Westen, die auch Europa, die auch Deutschland gefährden, in Zukunft zu verhindern.
    Capellan: Das hat auch der Altbundespräsident Horst Köhler gesagt, der meinte, diese Ebola-Epidemie müsse ein "Weckruf" sein, endlich ein Weckruf für die internationale Staatengemeinschaft, eben Afrika als "Kontinent der Chancen" zu sehen.
    Müller: Selbstverständlich. Afrika wird sich die nächsten 50 Jahre verdoppeln bevölkerungsmäßig, von einer auf zwei Milliarden. Es liegt unmittelbar über das Mittelmeer vor der Haustüre. Hier müssen wir investieren in Gesundheit, in Bildung, in Arbeit, in Zukunft, ansonsten kommen die Menschen zu uns. Sie warten auf unsere Hilfe, und wir können auch eine Win-win-Situation schaffen. In vielfacher Weise ist Afrika heute schon ein Chancen-Kontinent. Sechs der zehn wachstumsstärksten Wirtschaften sind afrikanische Länder. Wir dürfen nicht nur die fünf oder sechs Kriegsländer, Kriegsszenarien Afrikas sehen, es gibt viele Aufsteigerländer - gute Chancen, auch für Deutschland, dort aktiv zu werden.
    Gerechte Löhne in der Textilindustrie
    Capellan: Ein großes Thema für Sie ist auch, bessere Sozialstandards in der Textilindustrie durchzusetzen. Die Lage in den Fabriken von Bangladesch oder in Pakistan ist katastrophal. Es hat schreckliche Unglücke gegeben. Sie setzen da auf die Macht der Verbraucher. "Wir alle müssen umdenken", haben Sie gesagt, "bewusster einkaufen." Andererseits haben auch Sie selbst eingeräumt, wenn Sie sich einen neuen Anzug kaufen, dann ist es oftmals schwer nachzuvollziehen, ob der fair hergestellt wurde. Sie wollten im Grunde ein Gütesiegel einführen. Eine schöne Idee - aber jetzt gestorben?
    Müller: Nein, nächsten Donnerstag kommt es zum Schwur. Ich fordere und bitte die deutsche Textilwirtschaft jetzt, auch wirklich mitzumachen. Wir haben fünf Monate miteinander jetzt verhandelt für einen Standard, einen Weg, auf den wir uns machen wollen sozusagen, vom Baumwollfeld bis zum Bügel. Die Situation ist heute so, dass die Näherin in Bangladesch 15 Cent bekommt für die Stunde. Damit kann sie mit ihrem Lohn ihre Kinder nicht ernähren, nicht zur Schule schicken, Medizin, Krankenhausaufenthalte nicht finanzieren. Wenn wir existenzsichernde Löhne bezahlen, bedeutet das in Bangladesch nicht fünf Euro, sondern die 15 Cent auf 30 Cent zu erhöhen. Das bedeutet aber beim Kleidungsstück nahezu nichts. Das heißt, das Hemd oder der Anzug, der wird vielleicht um einen Euro teurer, aber für die Näherin vor Ort bedeutet das, sie kann leben. Und das muss es uns wert sein, dass wir zu fairen, gerechten Löhnen in der Kette kommen und auch ökologische Standards umsetzen.
    Capellan: Sie haben da immer wieder gerne plastische und drastische Beispiele gewählt - ein Trikot der Fußballnationalmannschaft. Das können wir uns in Deutschland leisten und legen 84 Euro dafür hin - und die Näherin in China - in dem Fall ist es wohl so - bekommt 50 Cent dafür. Sie haben dafür direkt Prügel bekommen von Adidas. "Der Minister ruft zum Boykott von Adidas-Produkten auf", so hieß es da. Bleiben Sie trotzdem standhaft?
    Eine Näherin in der "New Island Clothing"-Fabrik am Flughafen von Phnom Penh in Kambodscha
    Eine Näherin in der "New Island Clothing"-Fabrik am Flughafen von Phnom Penh in Kambodscha (picture alliance / dpa / Christiane Oelrich)
    Müller: Ja, selbstverständlich. Und ich habe zu keinem Boykott aufgerufen. Ich habe an dem Beispiel nur aufgezeigt: Am Beginn der Kette stehen Menschen, die leben müssen. Das Endprodukt kostet 84 Euro und die Näherin bekommt 50 Cent. Und auch Adidas ist bereit, sie gehen voran in der Entwicklung der Standards. Und das erwarte ich von allen in der Textilbranche.
    Capellan: Aber glauben Sie wirklich, dass man mit freiwilligen Selbstverpflichtungen weiter kommt?
    Müller: Ja. Freiwilligkeit ist der erste Schritt. Ich glaube, wir kommen einen wesentlichen Schritt weiter. Ich möchte auch sagen: Textil ist nur ein Beispiel, wir können das bei der Handyproduktion genauso sehen. Handys, die heute in China produziert werden, der Monatsmindestlohn liegt unter 200 Euro.
    Capellan: Sie sagten eben: "Freiwilligkeit ist der erste Schritt" - wenn man nicht weiter kommt mit Freiwilligkeit, was dann?
    Müller: Freiwilligkeit ist der erste Schritt und Verantwortung der Verbraucher. Auch jeder Verbraucher muss, wenn er einkauft, es sich überlegen. "Geiz ist geil" ist naiv, ich meine auch, verantwortungslos. Nur noch auf billig zu schauen heißt, dass am Anfang der Kette wir sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse akzeptieren. Also der Verbraucher hat auch eine Eigenverantwortung. Aber es müssen auch gesetzliche Rahmenbedingungen nicht nur angedacht, sondern umgesetzt werden - weltweit. Für mich gilt nicht der Freihandel als Leitprinzip, sondern der faire Handel. Wir können dazu den Test in der Praxis jetzt machen beim Abschluss des TTIP-Abkommens mit den Amerikanern. Die USA haben die ILO-Kernarbeitsnormen nicht beziehungsweise nur zwei unterschrieben. Machen wir dies zur Basis zum Abschluss des TTIP-Abkommens, dann wäre das ein ganz wesentlicher Schritt in die Richtung, die ich aufzeige.
    China muss in neue Technologien investieren
    Capellan: Viel Billiges kommt auch aus China. Wir hatten in dieser Woche die deutsche-chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin. Auch Sie werden demnächst nach China reisen. Was haben Sie vor mit China?
    Müller: Ich werde eine neue Regierungskommission mit dem Handelsminister umsetzen. Wir müssen die Chinesen als Partner zur Lösung der globalen Fragen, der Überlebensfragen der Menschheit gewinnen. Ich nenne das Klimathema, aber auch die Frage der Welternährung. Gerade bei der Frage "Klima" müssen wir China gewinnen, in neue Technologien zu investieren, erneuerbaren Energien, Energieeffizienz umzusetzen. Hier werden wir Technologiepartnerschaften, Forschungspartnerschaften auf den Weg bringen. Denn wenn wir das "Zwei-Grad-Ziel" erreichen wollen, dann darf China nicht auf der Basis alter Kohletechnologie seinen Energiehunger sozusagen stillen. Das sind Themen, wo wir miteinander Win-win-Situationen schaffen können.
    Capellan: Kann man da auch Tacheles reden mit Blick auf die Menschenrechtssituation, mit Blick auch auf die Einhaltung von Sozialstandards?
    Müller: Ja. Das ist ein weiteres Thema. Ich werde beispielsweise bei meinem Chinabesuch die Produktion von Adidas in Shanghai besuchen. Dort sind solche Mindeststandards bereits umgesetzt. Auch China, die Chinesen können sich dies nicht mehr leisten und sind offen, bewegen sich ein Stück weit in unsere Richtung. Und dazu ist der Dialog, das Gespräch und der Austausch von Wissenschaftlern, von Wirtschaft und insbesondere von Jugend notwendig. Ich werde eine Diskussion mit Studenten führen, und wir werden den Jugendaustausch verstärken.
    Capellan: Entwicklungsminister Gerd Müller im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank.
    Müller: Vielen Dank.