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Inzest auf der Torggelalp

In Adolf Muschgs Erzählungsband "Liebesgeschichten" von 1972 findet sich ein Text mit dem Titel "Der Zusenn oder das Heimat". 1980 sprach ihn der Schauspieler Walo Lüönd, schweizerisch getragen, aber auf provozierende Weise ein. Der Täter äußert sich, nicht seine Opfer.

Von Florian Felix Weyh | 13.08.2009
    "Einzelheiten der strafbaren Handlung machen mich leider verlegen, da der Vorgang erwachsenen Menschen ja wohlbekannt ist, möchte nur bemerken, dass diese denselben in der Regel unter günstigeren Umständen abwickeln können."

    Was ist das? Der Verbrecher als Biedermann, ein Wolf im Schafspelz? Es ist zumindest dies: die Verteidigungsrede eines Angeklagten, abgefasst als Brief ans Untersuchungsgericht:

    "Ich schreibe das nur, damit Sie die Umstände wissen, und nicht, damit Sie dabei wieder etwas Schmutziges denken."

    Das nun stachelt die Fantasie an. Um Diebstahl, Betrug, Scheckfälschung wird es sich wohl kaum handeln?

    "Da hielt sie aber meine Hand fest und sagte: Komm doch, du Idiot, komm doch, du Schlappschwanz, sagte es ganz deutlich, und schlug ich darauf ein, weil ich plötzlich nichts mehr von mir wusste, und muss es dabei zum zweiten Mal geschehen sein. Den Schlappschwanz dürfen Sie meiner Tochter nicht übel nehmen, das war offenbar eine Art Scherz, ich hatte ja auch Schwein gerufen und es nicht so gemeint."
    Nein, Beleidigung steht hier nicht zur Debatte, sondern ein Fall von Inzest. 57 Jahre alt ist der Einödbauer, der nach dem Tod seiner Frau die beiden erwachsenen Töchter - eine davon geistig zurückgeblieben - in jeder Beziehung zu deren Nachfolgerinnen erkor. Aus Sicht des Angeklagten stellt sich das freilich differenzierter dar:

    "Denn, hohes Gericht, Sie hätten auch nichts anderes tun können, wenn Ihre Tochter so schwer darum gebettelt hätte und Sie es nicht mit ansehen können, nur weil das Mädchen nicht Bescheid weiß, aber körperlich reif war und darunter zu leiden hatte wieder wegen der Angelegenheit das Heimat, was nur auf der Torggelalp geschehen konnte."

    In Adolf Muschgs legendärem Erzählungsband "Liebesgeschichten" von 1972 findet sich ein Text mit dem knorrigen Titel "Der Zusenn oder das Heimat". 1980 sprach ihn der Schauspieler Walo Lüönd, schweizerisch getragen, aber auf provozierende Weise ein. Der Täter äußert sich, nicht seine Opfer. Der Täter darf sich Erklärungen zurechtlegen, Schuld abweisen, sein Tun in einen nachvollziehbaren Zusammenhang stellen, um die Aktivitäten der Justiz als überzogen erscheinen zu lassen. Was sich dort oben auf der Torggelalp abgespielt hat, folgte eigenen Gesetzen, sagt der Täter, und zum zwiefachen Inzest kam es nicht wider alle Gerechtigkeitserwägungen, sondern gerade um ihnen Folge zu leisten:

    "Es wäre darum das erste Mal gewesen, dass ich eine Tochter der andern vorgezogen hätte, drum musste ich sie drannehmen, und nicht, weil ich geplagt war. Nachher war Ordnung bei uns, da können Sie jeden fragen, und wenn es Sünde war und jetzt keiner mehr etwas von uns wissen will, so bitte ich Sie doch, aus dem geschl. Verkehr kein übertriebenes Wesen zu machen, welches wir auch nicht taten, sondern der Frieden war die Hauptsache, und haben wir ja keinen Menschen gestört, sondern sind nie auf Rosen gebettet gewesen. Und verspreche Ihnen, dass die Unzucht keine reine Freude war, weil eine solche auf der Torggelalp gar nicht vorkommt, sondern nur etwas Trost."

    Dass diese Produktion den Hörer zusammenzucken lässt, weil sie ihn moralisch verwirrt, ist ihre große Stärke. Wirft schon der Text von Adolf Muschg die Frage auf, wie universell sich juristische Begriffe auf auseinanderdriftende Lebenswelten anwenden lassen, so gibt Walo Lüönd in der Lesung durch perfekte sprachliche Mimikry die Antwort darauf: Nur formal passt der Vorwurf des Inzests, alle von uns mitgedachten Konnotationen von Gewalt und Unterwerfung gehen dagegen ins Leere. Denn mit dem Titel gebenden Zusenn lässt Muschg einen weiteren Mann auftauchen, und der ist wirklich böse. Er hat die ältere Tochter vergewaltigt, kam aber mit einem blauen Auge davon; sein rollenkonformes Männerverhalten erschien der Justiz tolerabel. Den Briefeschreiber versetzt dieser Umstand in Rage:

    "Ich habe immer gemeint, es müsse da ein Einvernehmen sein und gehören zwei dazu, auch bei armen Leuten, und etwas Freude, woran es nicht einmal das Vieh fehlen lässt auf seine Art. Dieses aber war erfüllt zwischen meinen Töchtern und mir, da wir es wegen der Wärme begingen und nicht das Wichtigste war, sondern damit die Familie beisammenblieb, und ist dabei niemals Gewalt gebraucht worden."

    Wird der Einwand etwas nützen? Im Stillen wissen wir: Der Brief bleibt unerhört, weil er unerhört ist. Doch flößt uns das Hörbuch wenigstens leise Zweifel ein, ob wir wirklich Unglück von Unrecht immer und überall unterscheiden können.

    Adolf Muschg: "Der Zusenn oder das Heimat"
    Gesprochen von Walo Lüönd
    1 CD, Christoph Merian Verlag, 47 Minuten